Eine neue Stufe des Kampfes
// AMAZON: Mit dem zehntägigen Weihnachtsstreik hat der Kampf der Amazon-ArbeiterInnen eine neue Qualität erreicht. Doch in Brieselang erhöht das Unternehmen den Druck massiv. //
Platz fünf der „zehn nervigsten Streiks“ des Jahres: So kürte die BILD den aktuellen Arbeitskampf bei Amazon. Vor allem die kürzlichen Streiks zur Weihnachtszeit waren „nervig“ für die Springer-Presse.
Für die Amazon-ArbeiterInnen jedoch bedeuteten die massiven Streiks im Weihnachtsgeschäft eine neue Stufe ihres Kampfes: 2.700 Menschen im Ausstand und eine standortübergreifende Streikversammlung in Koblenz mit über 700 TeilnehmerInnen bildeten den bisherigen Höhepunkt der schon anderthalb Jahre laufenden Auseinandersetzung. Inzwischen befinden sich Beschäftigte an sechs von acht Standorten in Deutschland im Kampf für einen Tarifvertrag, der bessere Löhne, Weihnachts- und Urlaubsgeld und mehr Rechte garantiert. Vor allem der Befristungspraxis bei Amazon soll ein Ende gesetzt werden.
Die Streikenden sehen sich Bossen gegenüber, die einen Tarifvertrag unter allen Umständen verhindern wollen. Dafür sind ihnen alle Mittel recht: Korruption, Investitionen in neue Standorte in Osteuropa und gewerkschaftsfeindliche Hetzkampagnen. Doch das hinderte die ArbeiterInnen bisher nicht daran, in den aktivsten Zentren in Bad Hersfeld und Leipzig die Streikfront stabil zu halten und an anderen Standorten, wie in Koblenz, neue Fronten aufzumachen.
Vom 15.-24. Dezember streikten vier Standorte ständig, und andere Standorte wie Koblenz ebenfalls mehrtägig. Zum Streikauftakt in Koblenz fand eine Demonstration mit anschließender Streikversammlung von Amazon-ArbeiterInnen aus allen Streikstandorten statt, die die hohe Kampfmoral der Beschäftigten zum Vorschein kommen ließ. Schon im Vorfeld des Weihnachtsstreiks war es in Leipzig und Bad Hersfeld zu eintägigen Arbeitsniederlegungen gekommen, nachdem die Streikwilligen vor Ort ihre Entschlossenheit auch zu spontanen Arbeitskampfmaßnahmen gezeigt hatten.
Ein neuer Wind
Die Ausdauer der Amazon-ArbeiterInnen beweist: Aktuell entwickelt sich in Deutschland eine neue Schicht innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, die die ständige Krisenpolitik des Lohnverzichts und die wachsende Prekarisierung ihrer Lebensverhältnisse nicht mehr akzeptiert – eine Schicht, die sich zu wehren beginnt. In den letzten Jahren sind immer wieder Kämpfe in prekarisierten Sektoren aufgeflammt (bei CFM – Charité Facility Management, bei Neupack und im Einzelhandel, um nur einige zu nennen), die wir als unterschwellige Tendenzen in diese Richtung analysiert haben. Mit dem Kampf gegen ein milliardenschweres multinationales Unternehmen wie Amazon sind diese Tendenzen nun endlich an die Oberfläche gelangt.
Das sorgt auch dafür, dass die Bürokratie der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di durch die Amazon-Beschäftigten immer stärker unter Druck gerät. Die spontanen Streikaktionen am 8. Dezember oder die Ausdehnung des Weihnachtsstreiks um vier Tage sind Zeugnisse dessen. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Bewegung von BasisgewerkschafterInnen zwar in der Lage ist, den Gewerkschaftsapparat punktuell zu Aktionen zu drängen, aber ver.di noch nicht zwingen konnte, all ihre Ressourcen einzusetzen, um diesen emblematischen Kampf zu gewinnen.
Zwar bezeichnete ver.di-Chef Frank Bsirske den Kampf bei Amazon erst vor Kurzem wieder als „Kampf um Grundsätze“, doch bei der streikenden Basis kommt davon noch viel zu wenig in Form von konkreten Schritten an – es bleibt bei Lippenbekenntnissen. So haben sich in den letzten Monaten die Streikstandorte stärker koordiniert, doch der Unmut an der Basis – und selbst bei den kämpferischeren Teilen des Apparats – über einen zu zaghaften Streikfortschritt wächst. Die Koordinierungsstrukturen zwischen den Streikenden selbst müssen deshalb noch viel stärker ausgebaut werden – auch in Verbindung mit solidarischen AktivistInnen –, um ver.di dazu zu bewegen, die kämpferischen Worte auch in Taten umzusetzen.
Neue Blockaden
In Bad Hersfeld fanden im Weihnachtsstreik zu den wichtigsten Lieferzeiten am Montag und Donnerstag Blockaden der Lkw-Ausfahrten statt, die die Streikenden gemeinsam mit Blockupy Frankfurt organisiert hatten. Daran ist die wachsende Politisierung und Radikalisierung der Amazon-Beschäftigten zu erkennen. Gleichzeitig wächst eine bundesweite Solidaritätsbewegung, an der auch wir von RIO, der Revolutionären Internationalistischen Organisation, in Berlin maßgeblich beteiligt sind. Möglich war dies durch die Anstöße, die das bundesweite Netzwerk Streiksolidarität Ende November in Frankfurt am Main geleistet hatte.
Die Solidaritätsaktionen im Weihnachtsstreik – in Leipzig und Berlin an Unis, in Innenstädten und direkt vor den Werkstoren – setzten ein erstes Zeichen. Diese Aktionen sollen den Streikenden helfen, ihre eigenständigen Entscheidungsstrukturen und ihre bundesweite Koordinierung zu stärken – eine zentrale Aufgabe auf dem Weg des Wiedererstarkens von Klassenbewusstsein in der großen ArbeiterInnenklasse Deutschlands. Denn schon jetzt zeigt sich: Der Kampf bei Amazon wird nur zu gewinnen sein, wenn die Beschäftigten selbst an den Eskalationsschrauben drehen, anstatt auf den schwerfälligen ver.di-Apparat zu warten.
Eine zusätzliche Front
Im Amazon-Standort in Brieselang bei Berlin hat sich derweil eine neue Front aufgetan. Schon Ende 2013 wurden über 400 Beschäftigte kurz vor Weihnachten auf die Straße gesetzt, als ihre befristeten Verträge ausliefen. Doch Ende 2014 setzte die Geschäftsführung noch einen drauf: 1.000 befristet Beschäftigte wurden zum Jahresende ihren Job los, 165 bekamen Sechs-Monats-Verträge und 120 sogar nur Ein-Monats-Verträge, während lediglich 35 ArbeiterInnen unbefristet übernommen wurden.
Auch in Brieselang beginnt sich langsam gewerkschaftliche Organisierung und eine aktive Betriebsgruppe zu etablieren. Der Angriff der Geschäftsführung in Brieselang ist deshalb nicht einfach nur die Fortführung der unsäglichen Befristungspraxis des US-Konzerns, sondern ein direkter Angriff auf all diejenigen, die sich gegen diese Bedingungen zu Wehr setzen wollen. Es handelt sich hier um einen unverhohlenen Versuch, die Ausweitung der Streikfront zu verhindern und die ArbeiterInnen massiv einzuschüchtern.
Deshalb kann der Kampf gegen Befristung in Brieselang nicht unabhängig vom Kampf um einen Tarifvertrag für Amazon in ganz Deutschland gesehen werden. Brieselang ist nichts als eine zusätzliche Front der ArbeiterInnen zur Rückeroberung ihrer Würde. Wer einen Tarifvertrag erkämpfen will, muss sich gegen die Befristungspraxis in Brieselang stellen.
Wir wollen bleiben!
Dabei ist Amazon nur ein Ausdruck der „Normalisierung“ von Befristungen in ganz Deutschland. Millionen von ArbeiterInnen und Studierenden mussten sich seit der Einführung der Agenda 2010 einer zunehmenden Befristungspolitik der Unternehmen beugen. Der Kampf gegen Befristung bei Amazon in Brieselang ist daher auch Teil eines Kampfes gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen von Millionen von Lohnabhängigen in ganz Deutschland.
Die Beschäftigten in Brieselang wollen mit den Schlachtrufen „Wir wollen bleiben!“ und „Entfristung jetzt!“ für ihre Weiterbeschäftigung kämpfen. Die aktiven GewerkschafterInnen und Betriebsratsmitglieder, die auch von der Befristung betroffen sind, stellen sich an die vorderste Front. Ihr Rauswurf wäre ein großer Rückschlag für die Organisierungsbemühungen bei Amazon und damit für den Streik insgesamt.
Amazon versucht mit allen Mitteln, ein gewerkschaftsfeindliches Klima zu schaffen und die Basis der BetriebsaktivistInnen zu unterminieren. Deshalb muss die klassenkämpferische Linke die GewerkschafterInnen in Brieselang mit allen Mitteln bei ihrem Kampf unterstützen und ihnen zeigen, dass dies unser aller Kampf ist.
Die bisherigen Anstrengungen der bundesweiten Solidaritätsstrukturen müssen sich vervielfältigen hin zu einer bundesweiten Kampagne gegen Befristung und Willkür bei Amazon und für die Verteidigung der aktiven GewerkschafterInnen. Ver.di muss sich an die vorderste Front dieses Kampfes stellen – wird dies aber nur durch einen massiven Druck von ver.di-Mitgliedern aus allen Bereichen tatsächlich tun. Deshalb müssen alle Amazon-Standorte sowie die aktiven BasisgewerkschafterInnen aus anderen Betrieben und nicht zuletzt die Linke insgesamt ihre volle Solidarität mit den von Befristung betroffenen KollegInnen zeigen. Der Brieselanger Schlachtruf muss zu dem der klassenkämpferischen Linken werden: Wir wollen bleiben!
Eine Chronik des Kampfes
26. März 2013 und 22.-25. April 2013
Urabstimmungen in Leipzig und Bad Hersfeld: Jeweils 97% der ver.di-Mitglieder stimmen für Streik.
14. Mai 2013
Erster Tagesstreik in Bad Hersfeld und in Leipzig. 1.700 Streikende an beiden Standorten.
17. Juni 2013
Erstmals zweitägiger Streik an beiden Standorten.
19. bis 21. September 2013
Erster dreitägiger Streik in Bad Hersfeld und Leipzig.
25. November 2013
Streiks im Weihnachtsgeschäft in Bad Hersfeld und Leipzig.
16. Dezember 2013
Sechs Tage Streik kurz vor Weihnachten. Auch ein Tag Streik im bayerischen Graben.
31. März 2014
Nach rund drei Monaten Pause wieder Streik in Leipzig.
17. April 2014
Zu Ostern legen Beschäftigte erneut in Leipzig und in Bad Hersfeld die Arbeit nieder.
22. September 2014
ver.di ruft an vier Standorten in Deutschland zu einem zweitägigen Streik auf: in Leipzig und Bad Hersfeld ab der Nachtschicht, in Graben und in Rheinberg in NRW ab der Frühschicht.
27. Oktober 2014
Eine neue Streikwelle beginnt an fünf Amazon-Standorten: Neben Leipzig, Bad Hersfeld, Graben und Rheinberg wird auch Werne in NRW bestreikt.
8. Dezember 2014
Streiks im Weihnachtsgeschäft in Bad Hersfeld und in Leipzig.
16. Dezember 2014
Streiks an sechs Standorten (neu hinzugekommen: Koblenz). An vier Standorten dauern sie bis zum 24. Dezember. 2.700 ArbeiterInnen im Ausstand.