Eine neue Etappe der Eurokrise?
Die Welt befindet sich im fünften Jahr der kapitalistischen Krise. In diesen Jahren sind Massenaufstände in der arabischen Welt, Generalstreiks in Europa, imperialistische Kriege und weitere Krisenerscheinungen Teil des Alltags geworden. Wie überraschend für viele bürgerliche PolitkerInnen die Krise kam, so frappierend wollten sie zu Beginn des Jahres 2013 die Krise für beendet erklären. Der Präsident der Europäischen Kommission Barroso hat selbstbewusst erklärt: „Die existenzielle Bedrohung für den Euro ist grundsätzlich überwunden“[1], und der deutsche Finanzminister Schäuble meinte: „In der Euro-Krise haben wir das Schlimmste hinter uns.“[2] Doch zeigen die Entwicklungen der letzten Monate, sowohl auf der wirtschaftlichen Ebene (mit neuen Nachrichten über die Krise der Autoindustrie und vor allem der Fall des „Rettungspakets“ für Zypern), als auch auf der Ebene des Klassenkampfes (mit beginnenden Kämpfen in den Kernsektoren der ArbeiterInnenklasse der Industrieländer), dass die Krise alles andere als vorbei ist.
Wirtschaftliche Perspektiven
Dieser Lage können sich auch bürgerliche WirtschaftswissenschaftlerInnen nicht verschließen. Damit einher geht auch eine teilweise Infragestellung der bisherigen deutschen Austeritätspolitik. Der Spiegel-Autor Wolfgang Münchau beispielsweise stellte die deutsche Politik der Aufwertung des Euro der Abwertungspolitik des Dollars und des Sterling gegenüber und meinte: „Die Folgen dieser Diskrepanz in der Geldpolitik zwischen EZB und fast allen anderen großen Notenbanken sind in den Märkten überhaupt noch nicht durchgesickert. Ich erwarte eine kräftige spekulative Aufwertung des Euro, die die Krise im Euro-Raum noch verschärfen wird.“[3] Die ARD sieht die Lage ähnlich: „Die desaströse Lage in den Euro-Krisenstaaten dürfte sich in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen. Schuld daran sind die massiven Sparbemühungen der Regierungen, welche zu einem Rückgang von Investitionen und Konsum führen dürften. Schleppende Umsetzungen von Strukturreformen stehen einer Erholung des Arbeitsmarktes insbesondere in Spanien entgegen. So weit, so desaströs das fundamentale Bild.“[4] Hans-Werner Sinn meint in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Spanien, Griechenland und Portugal müssen längerfristig im Vergleich zum Durchschnitt der Eurozone um etwa 30 Prozent billiger werden, um wieder wettbewerbsfähig zu werden, und selbst Frankreichs Preise müssen um 20 Prozent gegenüber dem Durchschnitt fallen. […] Deutschlands Preise müssen umgekehrt um etwa 20 Prozent gegenüber dem Durchschnitt steigen.“[5] Während er also zumindest eine Auflockerung der Sparpolitik in Deutschland befürwortet, sollen die anderen Länder der Eurozone weiter diszipliniert werden.
Die Meinung, dass die Krise vorbei sei, ist der Tatsache geschuldet, dass eine neuerliche Kapitalbewegung in die Krisenländer stattfand: „Fast 100 Milliarden Euro sind zwischen September und Dezember in die überschuldeten Staaten Griechenland, Irland, Portugal, Italien und Spanien geflossen“.[6] Dieser Kapitalfluss in die Krisenländer führt zur Aufteilung dieser Länder unter deutschen und französischen Firmen. Der französische Präsident Hollande sagte beispielsweise bei seinem Besuch in Griechenland am 20. Februar: „Ich bin hier, um französische Unternehmen zu mobilisieren, in Griechenland zu investieren.“ Die durch die Sparpolitik der imperialistischen Mächte gestörten Bereiche stehen dabei gerade im Fokus: „Französische Firmen könnten bei Wasserunternehmen, Elektrizität und in anderen Branchen qualitativ hochwertige Dienstleistungen anbieten.“[7] Die von den deutschen Medien unterstützte Auflockerung der Sparpolitik heißt also letztendlich, Sicherheiten für InvestorInnen zur Verfügung zu stellen, damit die Aufteilung der kriselnden Ländern voranschreiten kann.
Autoindustrie als Schlachtfeld der Krise
Die Auflockerung der Sparpolitik geschieht zur Zeit ohne Abwertung des Euro, was eben klar zeigt, dass die Aufteilung der Krisenländer für Deutschland und Frankreich wirtschaftlich bedeutender ist, als der Export mit abgewertetem Euro in die „Schwellenländer“. Die Folgen davon trägt gerade die Automobilindustrie. Autohersteller, die sich vor der Krise im europäischen Raum stark machten, haben Schwierigkeiten wegen der schwachen Nachfrage auf dem europäischen Kontinent und wegen des starken Euros auf den anderen Kontinenten, ihre Produkte abzusetzen. Autoexperte Ferdinand Dudenhöfer von der Universität Duisburg-Essen sagt: „Die Industrie in Europa driftet stark auseinander. Die Unternehmen, die ihre Autos überwiegend in Europa verkaufen, haben wegen der Rezession in Südeuropa große Probleme. Und deshalb sind alle, die außerhalb Europas aktiv sind – etwa die deutschen Premiumhersteller, aber auch VW – besser aufgestellt. In Europa sitzt man in der Klemme.“[8]
Eine neue Stufe der Krise zeigt sich also in der Autoindustrie, einem Kernsektor der ArbeiterInnenklasse, in dem die Spannung zwischen wirtschaftlichen Zwängen und Widerständen der ArbeiterInnen deutlich wird. Dudenhöfer sagt auch: „Normal werden 15 Millionen Fahrzeuge in Europa verkauft, derzeit kommen wir auf 11,5 Millionen. Es fehlen dreieinhalb Millionen Fahrzeuge – das sind zehn Autowerke, die derzeit stillstehen, weil sie nicht gebraucht werden.“ Die Beschäftigten von Peugeot-Citroën protestierten kürzlich gegen die geplante Schließung ihres Werkes in Paris – und besetzten kurzerhand die Zentrale des Metall-Arbeitgeberverbands. Die Dynamik des Konkurrenzdrucks zwischen den Autounternehmen und die Wut der von Entlassung bedrohten Belegschaften könnte zu einem Kampf führen, bei dem die organisierten ArbeiterInnen die Forderung der Verstaatlichungen der Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle aufgreifen könnten.
Bei der wirtschaftlichen Unterwerfung der Krisenländer geht es um Sektoren wie Dienstleistungen, Strom, Wasser, das Gesundheitssystem etc., in welchen für die InvestorInnen relative Sicherheit besteht. Das heißt, der Kapitalfluss in diese Länder sorgt nicht für eine neue wirtschaftliche Dynamik, sondern vorhandene Strukturen werden einfach von den StatthalterInnen der imperialistischen Zentren übernommen. Eine Steigerung der Produktion und damit auch des Konsums in diesen Ländern ist nicht in Sicht. Das heißt gleichzeitig, dass die schwache Nachfrage nach Autos bestehen bleiben wird. Daher werden die Autounternehmen weitere Autowerke schließen wollen. Es könnte einerseits Versuche geben, die Verluste der Unternehmen zu sozialisieren, indem die Staatshilfe bedient wird, wie dies schon zu Beginn der Krise der Fall war. Mit einem konsequenten Kampf der ArbeiterInnen dieser Fabriken gibt es aber auch die Möglichkeit, die Autowerke unter ArbeiterInnenkontrolle zu verstaatlichen, was den einzigen progressiven Ausweg aus der Krise der Automobilindustrie darstellt.
Zypern: eine neue Etappe der Krise?
Die Eurokrise ist auch die Krise zwischen den Staaten des Kontinents. Die Spirale der politischen Instabilität zieht – nach Ländern wie Griechenland, dem Spanischen Staat und Portugal – jetzt auch Zypern, Bulgarien und Italien in ihren Sog.
Die Krise spitzte sich in Zypern dadurch zu, dass Kredite an griechische Unternehmen nicht mehr zurückgezahlt wurden. Die deutsche Regierung übte zudem Druck auf Zypern aus, um den russischen Einfluss auf der Insel zu brechen, was auch eine neue Dynamik in den deutsch-russischen Beziehungen mit sich bringen könnte. (In die Banken in Zypern fließen nämlich signifikante Mengen Schwarzgeld aus Russland.[9]) Die Regierungsübernahme der konservativen Partei erklärt sich dadurch, dass sie bereit war, die Interessen der EU und vor allem Deutschlands zur Umstrukturierung des Bankensystems gegenüber Russland durchzusetzen.
Zugleich ist Zypern auch ein Land, in dem die Grenzen der Krisenpolitik ausgetestet werden sollten: Die deutsche Bourgeoisie will ein Signal an Länder wie Spanien, Italien und Frankreich senden, wie weit sie in ihrer Krisenpolitik zu gehen bereit ist. Schlussendlich konnten massive Proteste auf der Insel die Zwangsabgabe auf Vermögen unter 100.000 Euro verhindern – dies ist ein kleiner Sieg der zypriotischen Massenbewegung. Dennoch setzt die jetzt durchgesetzte Beschränkung des Kapitalverkehrs, die Zwangsabgabe für höhere Vermögen und die Abwicklung der Laiki Bank einen neuen Maßstab der Krisenpolitik, zumal weiterhin harte Kürzungsprogramme gegen die zypriotische Bevölkerung durchgesetzt werden sollen. Kurz nach der Einigung mit Zypern verkündete der neue Vorsitzende der Euro-Gruppe Jeroen Dijsselbloem, dass dieses Modell in Zukunft auch auf andere Länder ausgeweitet werden solle. Somit könnte Zypern einen Wendepunkt in der aktuellen Krisenpolitik markieren.
In Bulgarien stürzt eine Regierung
Wie die erhöhten Preise für Getreide in den arabischen Ländern die Protestaktionen anstießen, löste die Erhöhung der Strompreise in Bulgarien eine Protestwelle aus, die zum Rücktritt des Ministerpräsidenten Bojko Borissow führte.[10] Die Strompreise wurden danach wieder um 8% gesenkt. Die ArbeiterInnenklasse Bulgariens erkämpfte sich so einen ersten Sieg gegen die Krisenpolitik.
In Italien hat die Regierung Monti, die einen vorbonapartistischen Charakter besaß, derweil die Macht zurück an das parlamentarische System übergeben. Nachdem die wichtigsten Kürzungsmaßnahmen durchgeführt wurden, ist dies ein Zeichen, dass die reformistischen Kräfte die ArbeiterInnenklasse bisher im Zaum halten. Dennoch zeigt der kometenhafte Aufstieg der „Fünf-Sterne-Bewegung“ unter der Führung von Beppe Grillo den Legitimationsverlust des italienischen Parteiensystems, da Grillos Programm zum Großteil aus „apolitischen“, populistischen Floskeln gegen die „korrupte Politik“ bestand. Es zeigt aber auch den niedrigen Grad des Klassenbewusstseins von breiten Sektoren der ArbeiterInnenklasse, weil Grillo massive gewerkschaftsfeindliche und auch rassistische Töne von sich gibt.
Ein Blick auf die kommende Kämpfe
Die ArbeiterInnenklasse in Europa läutet langsam aber sicher ein neues Kapitel im Kampf gegen die Krise ein. Die Gewerkschaftsbürokratie hat deshalb vorsorglich mit dem #14N (14. November 2012) zu einem europaweiten Aktionstag aufgerufen, der in einigen Ländern zum Generalstreik wurde, um eine Antwort auf den wachsenden Druck wichtiger Sektoren der ArbeiterInnenklasse und der Jugend zu geben. Die Sparpolitik der Herrschenden wurde teilweise, wie in Bulgarien, wegen dem Widerstand aufgegeben. In Griechenland haben die Vio.Me-ArbeiterInnen die Produktion unter eigene Kontrolle übernommen.[11] In Frankreich beginnen Kernsektoren der ArbeiterInnenklasse, wie im Automobilsektor, gegen die Auswirkungen der Krise zu kämpfen. Dieser Zustand schafft eine Grundlage, auf welcher die kämpfenden Sektoren der internationalen ArbeiterInnenklasse das revolutionäre Programm auf die Probe stellen und weiterentwickeln können, wenn RevolutionärInnen gemeinsam mit ihnen intervenieren.
Ein wichtiges Element dieses Programms ist, dass jedes Unternehmen, das in der Krisenzeit seine ArbeiterInnen zu entlassen droht, ohne Entschädigungen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden muss.
Diese Forderung gewinnt insbesondere in der Autoindustrie an akuter Bedeutung. Es gibt allerdings einen Widerspruch zwischen den notwendigen Forderungen und den Ergebnissen der Kämpfe, die durch Verhandlungen mit dem Gewerkschaftsapparat immer wieder abgewürgt werden. Daher sind die ArbeiterInnen selbst gefragt, die Führung ihrer Kämpfe zu übernehmen, wo alle wichtige Entscheidungen von den ArbeiterInnen selbst getroffen werden und die Kampfleitung der jederzeitigen Kontrolle (durch imperative Mandate und jederzeitige Abwählbarkeit) durch die Basis unterliegt. Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, diesen Kampf in den Gewerkschaften gemeinsam mit den progressivsten Sektoren der ArbeiterInnenklasse zu beginnen und auszuweiten, als Teil einer Strategie für den Aufbau einer internationalen revolutionären Strömung.
Fußnoten
[1]. Ralf Streck: Barroso erklärt die Krise für beendet.
[2]. Bild-Interview mit Finanzminister Wolfgang Schäuble.
[3]. Wolfgang Münchau: Die Spur des Geldes: Wir werden uns mit Sehnsucht an 2012 erinnern.
[4]. ARD: Die Euro-Krise ist vorbei! Wirklich?
[5]. Hans-Werner Sinn: Die Eurokrise ist noch nicht gelöst.
[6]. Jannis Brühl: Spekulanten fassen Vertrauen in Europa.
[7]. Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Hollande in Griechenland: „Die Euro-Krise ist vorüber!“
[8]. Hans-Jürgen Maurus: Ein Riss geht durch Europas Autoindustrie.
[9]. Im besetzen Teil Zyperns existiert eine ähnliche Beziehung zwischen türkischem Schwarzgeld und Offshorebanken in Nordzypern. Die Türkei übte Druck auf den besetzen Teil aus, um das Bankensystem neu zu gestalten. Gleichzeitig existiert in Zypern neben den Banken ein Wuchersystem weiter. Als die WuchererInnen Widerstand dagegen leisteten, kam es zu offenen Fraktionskämpfen innerhalb der Regierungspartei UBP.
[10]. Josefina Martinez: Demonstrationen und Rücktritt der Regierung in Bulgarien.
[11]. Interview: Fabrik unter ArbeiterInnenkontrolle in Griechenland.