Eine Linke des Kampfes angesichts der Krise der „postneoliberalen“ Regierungen
Die Krise der „fortschrittlichen“ Regierungen in Lateinamerika zeigt sich im Sparprogramm von Dilma Rousseff in Brasilien und dem Rechtsruck bei den Stichwahlen in Argentinien. Sie legt die vorbereitenden Aufgaben der revolutionären Linken in Lateinamerika offen. | Internationales Editorial der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale. Von Jimena Vergara, Redakteurin des internationalen Ressorts von La Izquierda Diario. Ursprünglich am 13. November 2015 auf Spanisch erschienen.
Rezessive Tendenzen in einigen lateinamerikanischen Länder und politische Krisen betreffen die Mehrheit der sogenannten „fortschrittlichen“ Regierungen des Kontinents. In Venezuela steht Präsident Maduro vor einer wirtschaftlichen und politischen Krise. Bei den legislativen Wahlen am 6. Dezember möchte die Rechte davon profitieren.
In Chile versuchten die wiedergewählte Präsidentin Michelle Bachelet und ihr Parteibündnis Nueva Mayoría („Neue Mehrheit“, indem erstmals die KP integriert ist), die Bewegung der „Jugend ohne Furcht“ seit 2011 zu kanalisieren. Doch auch wenn die Krise noch nicht vollständig angekommen ist und bisher allenfalls ein geringeres Wachstum vorhergesagt wird, hat die Bachelet-Regierung kurze Beine. Sie verrät die Erwartungen der Massenbewegung, besonders auf das Recht auf kostenlose Bildung.
Brasilien nimmt die Tendenzen der gesamten Region vorweg. Es herrscht eine tiefe wirtschaftliche Krise, die Arbeiter*innen werden angegriffen und die Regierung der Arbeiter*innenpartei (PT) ist delegitimiert. In Argentinien stehen bei den Stichwahlen am 22. November zwei rechte Kandidaten zur Wahl, die Kürzungen und Repression durchsetzen wollen.
In Bolivien besitzt die Regierung von Evo Morales noch einen größeren Handlungsspielraum. Auch wenn die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass der Fall der Rohstoffpreise Entwertungen und Kürzungen in der Zukunft nötig macht, sind die Wachstumszahlen bisher noch hoch.
Die Bourgeoisie und ihre regionalen Vertreter*innen sind damit einverstanden, dass die Arbeiter*innen die Krise zahlen sollen. Doch die „alte“ lateinamerikanische Rechte ist zurück und es entstehen verschiedene Trennlinien innerhalb der verschiedenen bürgerlichen Varianten. Der „erneuernde“ Diskurs der Rechten trifft mit der Unzufriedenheit der Massen mit der politischen Kaste der postneoliberalen Regierungen zusammen. Letztere haben den konservativen Ruck ideologisch vorbereitet und unter ihren Flügeln die millionenschweren Gewinne der einheimischen und ausländischen Kapitalist*innen geschützt.
Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise beinhalten notwendigerweise Angriffe auf die Bmewegung der Massen in Form von Entwertung und Arbeitslosigkeit. Die relative Manövrierfähigkeit gegenüber dem Imperialismus, den die im Mercosur organisierten Länder erreichten, verringert sich durch die Notwendigkeit der Verschuldung zur Überwindung der Krise. Eine Reihe von Ländern wie Mexiko vertiefte die Unterordnung unter den Imperialismus durch Handelsabkommen wie der Transpazifischen Partnerschaft. Diese Situation macht den notwendigen Kampf gegen den Imperialismus der Region, Schutzherr der nationalen Bourgeoisien, aktuell wie nie zuvor.
Von diesen objektiven Bedingungen hängen die Aufgaben der Revolutionär*innen ab. Es ist eine Linke nötig, die kühn gegen die konkurrierenden bürgerlichen Banden kämpft (auch gegen die von der populistischen Linken als „kleineres Übel“ bezeichneten). Sie muss die nötige sozialen Kraft vorbereiten, die Kürzungen zu bekämpfen.
Eine Linke des Kampfes
Die brasilianische Stichwahl im vergangenen Jahr stellte uns vor den gleichen falschen Gegensatz wie die argentinische Stichwahl in Kürze: Es gibt kein kleineres Übel für die Arbeiter*innen und Jugend, denn wer auch immer gewinnt, alle Zeichen stehen auf Angriff gegen die Arbeiter*innen.
In Argentinien konnte die Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) ein gutes Wahlergebnis mit fast einer Million Stimmen einfahren, mit Nicolás del Caño von der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS) als Spitzenkandidat. Jetzt ruft sie zur Abgabe einer ungültigen Stimme auf. Über die Grundlagen dieser Politik findet eine Debatte zwischen der PTS und der Arbeiter*innenpartei (PO) statt.
Hinter diesen Debatten steht die Frage, welche Position die Linke angesichts der bürgerlichen Lager einnehmen soll, die in Krisenzeiten unausweichlich Risse entwickeln werden. Die ungültige Stimmabgabe, wie es der Spot von Nicolás del Caño erklärt, ist nicht nur die taktische Konsequenz einer Politik der Klassenunabhängigkeit. Sie ist auch der erste Schritt des Widerstandes gegen die kommenden Kürzungen. Die Organisierung einer aktiven Kampagne für die unabhängige Stimmabgabe bedeutet, die Arbeiter*innen und Jugendlichen, die an die FIT glauben, im Kampf gegen die Kürzungen zu organisieren.
In Brasilien steht der politische und strategische Kampf gegen jene Linke an, die sich an die Seite eines bürgerlichen Lagers stellen. Revolutionär*innen müssen deutlich machen, dass die Arbeiter*innen weder mit der PT noch mit den Rechten gemeinsame Sache machen können. Im Gegensatz dazu hat die Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) sich angesichts der rechten Erpressung einer Amtsenthebung für die politische Unterstützung der PT entschieden. Die Vereinigte Sozialistische Arbeiter*innenpartei (PSTU) fordert währenddessen den Sturz von Dilma, ohne dass die Arbeiter*innen- und Massenbewegung für diese Perspektive auf der Straße wären. Damit hilft sie, objektiv gesehen, den Rechten.
Die Revolutionäre Bewegung der Arbeiter*innen (MRT), Schwesterorganisation der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO), polemisiert mit diesen linken Parteien und tritt für eine Position der Klassenunabhängigkeit ein. Deshalb fordert sie die PSOL dazu auf, mit der PT zu brechen. Die PSTU ruft sie dazu auf, ihren Gewerkschaftsdachverband Conlutas und ihre Mitglieder in den Dienst der Arbeitskämpfe zu stellen. In den letzten Wochen gab es unter anderem Streiks der Post- und Bankarbeiter*innen und jetzt befinden sich die Ölarbeiter*innen von Río de Janeiro in einem wichtigen Streik.
In diesem Sinne ruft sie zu konkreter Solidarität mit den Kämpfen auf, um auf dieser Grundlage einen Pol der Arbeiter*innen aufzubauen, der anti-bürokratisch und gegen die Regierung gerichtet ist. Dieser Pol muss verhindern, dass die aktuellen Kämpfe isoliert bleiben. Sie müssen mit den fortgeschrittenen Sektoren gemeinsam Widerstand gegen die Kürzungen leisten. Es ist unabdinglich, dass ein Teil der brasilianischen Arbeiter*innenklasse und Linken den Unterschied machen und beweisen, dass die Avantgarde der Arbeiter*innen und Jugend zum Kampf bereit ist.
In Chile interveniert die Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR), ebenfalls Schwesterorganisation von RIO, in die wichtigsten Arbeitskämpfe der letzten Zeit, wie die der Hafenarbeiter*innen, der Minenarbeiter*innen und der Lehrer*innen. In der Studierendenbewegung kämpft sie für eine vollständig öffentliche und kostenlose Bildung, wie bei den Wahlen zur Studierendenföderation der Universität von Chile (FECH). Das tut sie gegen die Kommunistische Partei, die als Teil der Regierung der Nueva Mayoría kosmetische Reformen im chilenischen Bildungssystem und dem von der Diktatur geerbten Regimes akzeptiert. Die PTR stellt auch eine Alternative zu den anti-neoliberalen Strömungen dar, die in den „progressiven“ Regierungen von Hugo Chávez oder Evo Morales ein zu übernehmendes „Modell“ sehen. Auch hier ist es unerlässlich, eine unabhängige Alternative sowohl von der reaktionären chilenischen Rechten – die sich vor wenigen Monaten gegen das Mapuche-Volk mobilisierte – als auch von der Regierung aufzubauen. Die Arbeiter*innen und die Jugend brauchen eine eigene Antwort auf die Krise des Regimes des paktierten Übergangs aus der Diktatur.
Die Bedingungen für Revolutionär*innen in Bolivien sind aufgrund der relativen Stabilität der Regierung von Evo Morales, der gerade Entlassungen im Ölsektor ankündigte, widriger. Die Revolutionäre Arbeiter*innenliga – Vierte Internationale (LOR-CI) ruft die Arbeiter*innen dazu auf, ihre Arbeitsplätze zu verteidigen. Gleichzeitig baut sie sich mit großen Schritten in der Frauenbewegung und der Jugend auf, wie mit der Gründung der revolutionären studentischen Gruppierung Octubre (Oktober).
In Mexiko ist die Bewegung Sozialistischer Arbeiter*innen (MTS) Teil des Kampfes für die wichtigsten demokratischen Forderungen der Massen. Dazu gehört der Kampf für das Wiederauftauchen der 43 verschwundenen Lehramtsstudierenden oder gegen die Frauenmorde und für die Rechte der Frauen. Zur Zeit erleben einige post-neoliberale Organisationen wie Morena und populistische Organisationen mit einer Strategie der Klassenversöhnung einen Aufschwung. Deshalb sagt die MTS, dass es nötig ist, für die Klassenunabhängigkeit zu kämpfen und eine Organisation zu errichten, die in der mächtigen mexikanischen Arbeiter*innenklasse verankert ist. Diese befindet sich sowohl im Norden als auch im Inneren des Landes und ist als einzige Klasse dazu in der Lage, den Kampf gegen die einheimische Bourgeoisie anzuführen, die mit dem Drogenhandel und dem Imperialismus verbunden ist.
Auch in Europa kämpfen die Gruppen der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI) für eine unabhängige und internationalistische Perspektive angesichts des rechten Souveränismus, aber auch gegenüber dem linken Souveränismus von Organisationen wie der griechischen Volkseinheit (LAE). Deshalb rufen sie dazu auf, eine „Bewegung für einen Internationalistischen Plan anzustoßen. Um dem pro-europäischen Reformismus, dem linken Souveränismus und noch mehr der xenophoben extremen Rechten ihren Einfluss auf die Arbeiter*innen streitig zu machen.“
In Argentinien ist die PTS Teil der Basisgewerkschaftsbewegung und führt organisch kämpferische Fraktionen der Arbeiter*innenklasse an, die für die FIT gestimmt und den Wahlkampf organisiert hatten. Die Erfahrungen der Kämpfe bei Zanon, Kraft, Lear, Madygraf und Wordcolor dienen dem konsequenten Kampf gegen die neuen Sparprogramme, wie man heute angesichts der Entlassungen bei Hutchinson sieht. Die Kampagne für die ungültige Stimmabgabe soll eine soziale Kraft stärken, die beharrlich die Errungenschaften der Ausgebeuteten und Unterdrückten verteidigt, indem sie sich kommenden Entwertungen und Entlassungen sowie der Repression entgegenstellt.
Das digitale Netzwerk von revolutionären Tageszeitungen La Izquierda Diario steht im Dienst der Kämpfe und der Aufgaben, die vor uns stehen. In der spanischsprachigen Welt gibt es eigene Ausgaben in Argentinien, Chile, Mexiko und dem Spanischen Staat. Es gibt auch Esquerda Diário auf portugiesisch, Left Voice auf englisch und Révolution Permanente in Frankreich, sowie Sektionen in Bolivien, Uruguay, Venezuela und Deutschland. [Wenige Tage nach dem Erscheinen des Artikels ging die neue, täglich aktualisierte Website von RIO online. Anmerkung des Übersetzers] Dieses Netzwerk revolutionärer Tageszeitungen ist ein neues Werkzeug, um die Ideen der herrschenden Klasse zu bekämpfen und die eigene Meinung zu verbreiten, um Kämpfe bekannt zu machen und kräftige Organisationen für den Kampf aufzubauen.
Mit dem Laufe der Zeit passte sich der Großteil der Linken an die sogenannten „fortschrittlichen“ Regierungen an. Unsere internationale Strömung, die FT-CI, hat den Verdienst, immer für die Notwendigkeit der Klassenunabhängigkeit und der Revolution eingestanden zu haben. Neoreformistische Parteien wie Syriza und Podemos bauten sich aufgrund von Rückschritten großer Massenmobilisierungen wie der Empörtenbewegung oder den Generalstreiks in Griechenland auf und wurden von Sektoren der Linken heftig begrüßt. Für uns gilt es im Gegensatz dazu, Organisationen aus und für den Klassenkampf zu schmieden. Eine Linke aufzubauen, die nicht vor dem Debakel der „lateinamerikanischen Populismen“ niederkniet. Die gemeinsam mit Schichten der Jugend und Arbeiter*innenklasse im Klassenkampf Widerstand leisten und die Kampfbereitschaft der Arbeiter*innen und Jugendlichen bewahren kann, um die kommenden Kämpfe zu führen.