Eine kurze Geschichte der Hamas
Die Hamas wird von deutschen Medien gerne in die Nähe der Nazis gerückt. Doch mit Antisemitismus ist ihr Aufstieg nicht zu erklären – durch die israelische Politik schon.
Dieser Artikel erschien zuerst bei marx21.
Der Ausbruch der Intifada im Dezember 1987 bedeutete den ersten allgemeinen Aufstand der Bevölkerung in den von Israel seit 1967 besetzten Gebieten. Erstmals war der Kampf gegen die Besatzung nicht beschränkt auf bewaffnete Gruppen wie die Fatah von Jassir Arafat. Die Bewegung erfasste die gesamte palästinensische Bevölkerung. Volkskomitees wurden zur Koordinierung der Proteste gegründet, Hunderttausende beteiligten sich an Demos und Blockaden, die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel streikten. Die alten Konflikte zwischen den verschiedenen palästinensischen Strömungen gerieten in den Hintergrund.
Die Hamas wird gegründet
In dieser Stimmung befand die Führung des Ablegers der ägyptischen Muslimbruderschaft in Gaza, der 1979 von Israel anerkannten Mujama al-Islamiya, dass es an der Zeit für einen Strategiewechsel war. Bis dahin war ihre Politik auf die »Islamisierung« der Gesellschaft durch Erziehungsarbeit und Wohlfahrt ausgerichtet – diese Innenorientierung war es, die sie unter »Jihad« (heiliger Krieg) verstanden. Damit verbunden war das Argument, dass der inneren Befreiung durch den Glauben irgendwann auch die äußere Befreiung von der Besatzung folgen würde. Aber die Stimmung des Aufstandes erfasste auch die Mitglieder der Mujama und die Organisation erkannte, dass sie jeglichen Einfluss verlieren würde, wenn sie sich nicht anpasste. So wurde ein politischer Arm gegründet: die Hamas. Der Name ist ein Akronym für das arabische Ḥarakat al-Muqāwamah al-ʾIslāmiyyah, was Islamische Widerstandsbewegung bedeutet.
Die Hamas lehnte die weltlichen palästinensischen Parteien unter dem Dach der PLO ab und betonte die Religion. In ihrer Sprache wurde der nationale Konflikt zu einem religiösen Konflikt. Damit brach die Hamas absichtlich mit den Traditionen des palästinensischen Widerstands, um sich von der PLO abzusetzen. Zugleich bekam dadurch der Widerstand gegen die Besatzung in der Diktion von Teilen der Hamas einen antijüdischen Charakter, der in der später von der Führung verworfenen Gründungscharta zum Beispiel durch Bezugnahme auf das antisemitische Machwerk der russischen Geheimpolizei, »Die Protokolle der Weisen von Zion«, deutlich wird.
Der Nahostkonflikt ist kein religiöser
Aber anders als im europäischen Antisemitismus hat die Hamas keine unterdrückte Minderheit zu einem Sündenbock konstruiert, sondern den Fehler gemacht, den viele Unterdrückte machen: die Propaganda ihres Gegners für bare Münze zu nehmen. Die Palästinenser:innen sind Opfer einer Politik, die behauptet, im Namen aller jüdischen Menschen zu handeln. Sie sind mit einem Staat konfrontiert, der sich selbst als »jüdisch« bezeichnet. Der Nahostkonflikt ist jedoch kein religiöser, sondern ein politischer Konflikt um die Kontrolle über Land und Ressourcen.
Wendejahr 1993: Die Intifada ist beendet
Israel hatte seit der Besetzung des zum Großteil von palästinensischen Flüchtlingen bewohnten Gazastreifens 1967 bis zum Ausbruch der Intifada die Aktivitäten der Mujama mit Wohlwollen behandelt. Die Mujama war explizit apolitisch. Sie bildeten ein Gegengewicht zur Linken und den säkularen nationalistischen Kräften, die den Widerstand vor der Intifada dominierten. Anders als die Organisationen der PLO wurde die Mujama nie und die Hamas erst 1989 verboten. So konnte die Hamas in Gaza auf die breite Infrastruktur der Mujama zurückgreifen.
Während der Intifada konnte die Hamas keine große Anhängerschaft gewinnen, vor allem wegen ihres religiös-spaltenden Ansatzes. 1993 wurde aber zu einem Wendejahr. Die Fatah handelte mit Israel in Oslo die »Prinzipienerklärung« aus. Sie ermöglichte es Arafat und seinen Gefolgsleuten, aus dem Exil in die besetzten Gebiete zurückzukehren und dort eine Verwaltung von Israels Gnaden aufzubauen. Zuerst war die große Mehrheit der Palästinenser:innen begeistert und hoffte auf den Verhandlungsweg. Die Intifada wurde beendet und alle, die die Osloer Verträge als Irrweg bezeichneten, waren isoliert. Das betraf sowohl die linken Kritiker:innen als auch die Hamas.
Hamas erwarb Ruf als unbestechliche Kämpferin
Aber schnell wurde deutlich, dass der Siedlungsbau weiterging und eine Einigung nicht in Sicht war. Die Hamas, die sofort nach Beendigung der Intifada mit militärischen Aktionen gegen die Besatzungsarmee begann, erwarb sich in den besetzen Gebieten den Ruf als unbestechliche Kämpferin für die Befreiung der Palästinenser:innen. Aber das Kräfteungleichgewicht war erdrückend und so waren die Aktionen der Hamas nie mehr als ein Ausdruck der eigenen Ohnmacht.
Nach der Ermordung von 29 Menschen in einer Moschee in Hebron im Februar 1994 durch einen rechten Israeli, begann die Hamas mit Selbstmordanschlägen auf israelische Zivilist:innen, die sie als Vergeltung bezeichnete. Angesichts der militärischen Wirkungslosigkeit und politischen Schädlichkeit erklärte die Hamas im Februar 2005, Selbstmordanschläge zu unterlassen, wenngleich sie Selbstmordanschläge anderer Organisationen weiterhin rechtfertigte.
Sieg bei den Wahlen 2006
Bei den freien Wahlen im Jahr 2006 gewann die Hamas die absolute Mehrheit im besetzten Palästina, also in Gaza und dem Westjordanland. Dieser Erfolg der Hamas war das Ergebnis der letzten zwölf Jahre seit der Unterzeichnung der Osloer Verträge. Die Verträge führten die Korruptheit der Fatah den Palästinenser:innen immer wieder vor Augen. Vor allem aber erwies sich der von Fatah propagierte Weg, über Verhandlungen zu einer Zweistaatenlösung zu kommen, die die Belange der Palästinenser:innen auch im Exil und in Jerusalem berücksichtigt, als Sackgasse. Die Hamas hingegen schien Erfolg gehabt zu haben. Ihrer Strategie des fortgesetzten Widerstands im Gazastreifen, trieb die Kosten der Besatzung so weit in die Höhe, dass die israelische Regierung 2005 die Siedler:innen aus Gaza abzog. Den Siedlungsbau konzentrierte sie fortan auf das Westjordanland und Jerusalem.
Doch für den Wahlsieg der Hamas im Jahre 2006 wurden die Palästinenser:innen hart bestraft. Israel verhinderte, dass das neu gewählte Parlament zusammentreten konnte, und verhaftete siebzehn Abgeordnete. Danach versuchte die von der Fatah geführte Autonomiebehörde, ermutigt von der israelischen Regierung und den USA, die Strukturen der Hamas in deren Hochburg im Gazastreifen mit einem Putsch zu zerstören. Sie setzte mit Mohammed Dahlan einen gefürchteten Geheimpolizeichef als Gouverneur ein, der eng mit der israelischen Armee zusammenarbeitete. Die Hamas wehrte sich dagegen und ihre Milizen entwaffneten die Polizeieinheiten der Autonomiebehörde. Israels Reaktion war die Verhängung der Blockade über den Gazastreifen, die bis heute anhält, und an der ägyptischen Grenze von der ägyptischen Armee durchgesetzt wird.
Die Eliten bauten protzig
Die Hamas an der Regierung konnte die Lage in Gaza in den Jahren darauf nicht verbessern, ihre eigene Lage hingegen schon: Auch die Hamas-Eliten sicherten sich Privilegien, wie sie die Funktionär:innen der Fatah und der PLO im Westjordanland für sich geschaffen hatten. Sie bauten sich protzige Häuser und kauften teure Autos. Für die meisten Menschen in Gaza wurden Güter des täglichen Bedarfs hingegen zunehmend unerschwinglich. Während die offiziellen Grenzen dicht waren, bis auf für wenige ausgewählte Güter, für deren Abfertigung die israelische Armee eine hohe Gebühr verlangte, kontrollierte die Hamas die Tunnel nach Ägypten und erhob ihrerseits hohe Steuern auf alle Waren, die über diesen Weg nach Gaza kamen.
Die Opposition gegen dieses Regime wurde unbarmherzig bekämpft, Todesstrafen wurden verhängt und es wurde eine immer rigidere Sittenordnung durchgesetzt. Aus diesen Gründen verlor die Hamas an Unterstützung. Die Menschen hatten sie wegen ihrer Reputation als Widerstandsbewegung gewählt. Doch sie waren tief enttäuscht, als diese sich wie eine Art zweite Autonomiebehörde – auch als Fatah II bezeichnet – benahm. Die Hamas bereicherte sich und behinderte den Widerstand. Zum Beispiel lösten Sicherheitskräfte der Hamas im November 2011 mit brutaler Gewalt das Jugendforum Sharek in Gaza auf. Daraufhin veröffentlichten Jugendliche aus Gaza ihr Manifest, das mit den Worten »Fuck Israel. Fuck Hamas. Fuck Fatah« die allgemeine Wut über die politische Korruption und die israelische Besatzung ausdrückte.
Eine international isolierte Hamas
Israels wiederholte Bombardierungen zerstörten die öffentliche Infrastruktur Gazas. Betroffen waren und sind Krankenhäuser, Kläranlagen, Wasser, Strom, der Flughafen, Straßen, Schulen, UN-Einrichtungen und der Hafen. Schließlich konnte die Hamas wegen der erbarmungslosen Blockade Gazas die grundlegenden Funktionen des Gemeinwesens – Bildung, Ernährung, Sicherheit, Gesundheitsversorgung – nicht mehr erfüllen. Die Menschen in Gaza wurden immer unzufriedener. Die Illusion, die Hamas könne die Lage der Palästinenser:innen verbessern, war gründlich enttäuscht worden.
In dieser Situation schien eine Einheitsregierung gemeinsam mit der Fatah einen Ausweg zu bieten. Nach einigem Hin und Her stimmten alle Fraktionen der Hamas – das Politbüro in Katar, die Kassam-Brigaden und die Verwaltung in Gaza – diesem Fahrplan zu. Im Rahmen der Einheitsregierung ließ sich die Hamas auch auf drei Bedingungen ein. Die USA und EU hatte diese für ihre Bereitschaft mit der Hamas zu verhandeln gestellt: 1. Israel würde anerkannt, 2. der bewaffnete Kampf würde eingestellt und 3. bereits bestehende Abkommen würden eingehalten.
Bei dem Gedanken, dass die Hamas als Verhandlungspartner international anerkannt werden könnte, schrillten in der Regierung Benjamin Netanjahus die Alarmglocken. Am 17. Juli 2014 startete das israelische Militär die größte Invasion seit mehr als zehn Jahren. Ziel war es, die »Einheitsregierung« von Hamas und Fatah zu verhindern und die Strukturen der Hamas im Westjordanland zu zerstören. Die Hamas antwortete erstmals seit dem Waffenstillstand 2012 wieder mit dem Beschuss israelischer Ziele. Es folgte ein furchtbares Bombardement der seit Jahren eingeschlossenen Bevölkerung Gazas.
Widerstand bleibt populär
Zwar hat die Hamas wegen ihrer Politik in Gaza an Popularität eingebüßt, ihr Widerstand aber hat sehr große Unterstützung. Mahmud Abbas, Chef der Fatah, weiß das. Er fürchtet, dass auch seine Palästinensische Autonomiebehörde als Agentur der israelischen Besatzung wahrgenommen und angegriffen wird. Die für Mai 2021 angesetzen Wahlen ließt er unter einem Vorwand absagen. Es trieb ihn die Angst, die ersten Wahlen seit 15 Jahren zu verlieren. Nicht die Stärke der Hamas, sondern die Schwäche von Abbas, dessen Fatah mit gleich mehreren Abspaltungen konfrontiert ist, bewog ihn zu diesem Schritt. Mit der erneuten Eskalation in Jerusalem durch den ebenfalls mit dem Rücken zur Wand stehenden Netanjahu und dem darauffolgenden Raketenbeschuss seitens der Hamas und der Bombardierung Gazas durch Israel ist es jedoch wieder die Hamas, welche als Speerspitze des palästinensischen Widerstands dasteht.
Durch die jüngsten Vorstöße der israelischen Regierung und Armee in Jerusalem, im Westjordanland und in palästinensisch bevölkerten Städten in Israel selbst verteidigte die Hamas diesen Ruf auch über den belagerten Gazastreifen hinaus. Nichts könnte ihre schwindende Popularität besser aufpolieren als der aggressive Kurs der israelischen Politik.