Eine Kindheit im Kampf – Meine Begegnungen mit Ahed Tamimi

29.12.2017, Lesezeit 10 Min.
Gastbeitrag

Der israelische Filmemacher und Aktivist Dror Dayan lernte Ahed Tamimi kennen, als er Proteste in ihrem Dorf in Palästina filmte. Die 16-Jährige ist letzte Woche von israelischen Soldat*innen verhaftet worden. Inzwischen ist sie zu einem weltweiten Symbol des palästinensischen Widerstands geworden. Dror lernte sie aber auch als normale Teenagerin kennen.

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Als ich von der Redaktion von Klasse Gegen Klasse darum gebeten wurde, einen etwas persönlicheren Text über Ahed Tamimi und ihre Verhaftung zu schreiben, zögerte ich. Ja, ein bisschen kenne ich Ahed – aber vielleicht wäre „kennen“ etwas übertrieben. Ahed war ungefähr 11, als ich zum ersten Mal in ihrem Dorf Nabi Saleh war, und wahrscheinlich um die 15 bei meinem letzten Besuch. Obwohl ich oft bei ihr zu Hause war und nach den Demos mit ihren Eltern Kaffee trank, war sie schon zu alt dafür, wie die kleinen Kinder im Dorf hemmungslos mit den fremden Gästen zu spielen, die kein Arabisch sprechen und mit denen man nur per Handzeichen kommuniziert. Als sie alt genug für eine erwachsene, politische Unterhaltung war, standen meine fehlenden Sprachkenntnisse im Weg. Ja, ich kenne Ahed Tamimi – per Kopfnicken und wortlosem Gruß, oder durch den Sucher einer Kamera.

Aber nicht deswegen zögerte ich. Ich zögerte, weil ich nicht der Meinung bin, meine persönliche Erfahrungen in Nabi Saleh würden den Fall von Ahed wichtiger machen als andere. Das ist der Haken an dem Kampf in Nabi Saleh – seit fast einem Jahrzehnt ist er von Journalist*innen und internationalen Aktivist*innen so durchtränkt, dass er dadurch schon fast automatisch eine höhere Bedeutung verliehen bekommt. Aheds Fall macht es umso deutlicher: Allein seit Trumps Jerusalem-Entscheidung wurden circa 150 palästinensische Kinder durch das israelische Militär verhaftet – in den letzten Jahren noch viele mehr. Viele werden gefoltert und misshandelt. Aber wer im Westen erinnert sich schon an den 13-jährigen Gefangenen Ahmad Mansara, oder gar an die ermordete 18-jährige Hadeel Al-Hashlamon? Ahed ist kein Einzelfall, wurde aber trotzdem binnen Tagen zu einem neuen Nationalsymbol der palästinensischen Gesellschaft und zu einer Ikone der Solidaritätsbewegung im Westen, und das auf einer Art, die schon an Fetischisierung grenzt. Da wird zu Recht die Frage gestellt: Wäre es auch so, wäre Ahed nicht blond oder beispielsweise einen Hidschab wie ihre Mutter tragen würde, die zurzeit mitinhaftierte Aktivistin Nariman Tamimi? Oder wenn irgendein unwichtiger jüdischer Israeli in Deutschland nicht ein paar mal mit ihrem Vater Kaffee getrunken hat?

Aber die marxistische Methodologie basiert auch auf der Dialektik zwischen dem Konkreten und Abstraktem, zwischen dem individuellen und gesellschaftlichen Kampf. Aheds Fall ist in dieser Hinsicht auf keinen Fall unwichtig. Vielleicht kann da tatsächlich auch meine persönliche Erfahrung helfen, ihre Geschichte in den richtigen politischen Kontext zu setzen.

Nabi Saleh – Ein Ort des Kampfes

Wenn ich versuche, mich an Ahed zu erinnern, erinnere ich mich vor allem an den einen Abend, als ich im Dorf einen Film zeigte, den ich über den Kampf dort gedreht hatte. Im Film kommt Aheds Vater Bassem viel zu Wort, und Ahed ist auch oft zu sehen – bei manchen Szenen ist sie 12, bei anderen 15. Wir saßen im Haus von Naji und Boshra Tamimi, deren 21-jährige Tochter Nour heute wie Ahed in Haft sitzt. Wir waren vielleicht 30 Menschen vor dem Fernseher. Die Kinder waren energisch und laut – anscheinend hatte ich zu viel Schokolade aus Deutschland mitgebracht – die Erwachsenen teils nachdenklich und müde, teils etwas gelangweilt. Das war keinesfalls der erste Film, den sie über sich selbst gesehen hatten.

Während des Films habe ich immer wieder zu Bassem geschaut und bemerkt, wie sein Blick oft vom Fernseher wegdriftete und er ins Leere starrte – Folgen der Folter im israelischen Knast, als er in ein acht Tage langes Koma geprügelt wurde. Schon während der Demo am Mittag sah er übermüdet und besiegt aus. Wir saßen auf dem Hügel über der beschlagnahmten Wasserquelle des Dorfs, der voll mit Siedler*innen und Soldat*innen war. Wir schauten zu, wie ein israelischer Aktivist immer wieder mit Tränengas angeschossen wurde, wenn er sich der Straße vor der Wasserquelle näherte. Bassem erzählte mir, dass die Aktivist*innen im Dorf die wöchentliche Demos einstellen und sporadischer machen wollten, da ihnen schlichtweg die Kraft fehlte, genauso wie die Unterstützung von außen. Das Bild unter uns im Tal – ein einziger israelischer Aktivist vom Tränengas umgeben – machte diese Problematik schmerzhaft deutlich.

Der Film lief im Fernseher weiter, als sich die Ereignisse des Tages in meinem Kopf abspielten. Ich schaute von Bassem zu Ahed. Bassem sprach oft davon, dass die junge Generation den Widerstand im Dorf fortsetzen müsste, sobald die Erwachsenen nicht mehr konnten. Ahed saß bei ihren Altersgenoss*innen, die an der deutschen Schokolade naschten. Als sie auf dem Bildschirm erschien, auf Soldat*innen brüllend, wurde sie plötzlich ganz rot, kicherte und versteckte ihr Gesicht hinter ihren Händen. Das habe ich nicht erwartet – ich hatte Ahed schon so oft erlebt, wie sie vor den Soldat*innen stand, und genauso oft wurde sie dabei gefilmt. Warum war es ihr jetzt, im Haus ihrer Verwandten und von Familie umgeben, plötzlich unangenehm? Ohne das Adrenalin und Emotionen der Demo war die damals 15-jährige plötzlich wie jedes andere Kind, verlegen und unsicher.

Aber auf den Demos war es anders. Jeden Freitag, und jedes Jahr mehr, trug Ahed die Verantwortung für die Kontinuität des Kampfes auf ihren Schultern. Das tat sie nicht alleine, sondern mit ihrer Generation zusammen. Bei meinen ersten Besuchen im Dorf stand sie noch hinten mit Freundinnen wie Nour, hat die Jungs ermuntert, die mit „Skunk-Wasser“ getränkt von den vorderen Reihen zurückkamen. Aber sie wurde immer mutiger. Sie hat sich an das Beispiel von Frauen wie ihrer Mutter Nariman oder Verwandten Boshra, Manal oder Nawal Tamimi gehalten, und war immer mehr an der Spitze der Demo zu sehen, ohne Angst und mit einer Palästina-Fahne in der Hand. Ein paar Mal stellte sie sich Scharfschützer*innen im Weg, die auf die Demonstrant*innen zielten. Offensichtlich war auch Bassem für sie ein Vorbild: während Aheds Kindheit war ihr Vater fast so lange im Knast wie zu Hause. Bei seiner letzten Entlassung war das Haus mit Genoss*innen und Journalist*innen randvoll.

Das Bewusstsein entkolonisieren

„Zuerst beseitige die Besatzung aus deinem eigenen Kopf“. So lautet ein Spruch, den man immer wieder im Dorf hört. Jahrelang dachte ich, dieser Spruch war an uns, die jüdisch-israelischen Gäste, gerichtet. Wir sollten der Besatzung abschwören und uns der Solidarität verpflichten, um als Mitstreiter*innen im Dorf akzeptiert zu werden. Aber als ich das Video gesehen habe, in dem Ahed in ihrem eigenen Vorgarten zwei vollbewaffnete Besatzungssoldat*innen schlägt, verstand ich zum ersten Mal die Wechselseite dieses Spruchs: Ahed, so wie Bassem und viele andere vor ihr, hatte die Besatzung aus ihrem eigenen Kopf beseitigt. Mit dieser Ohrfeige – als auch mit allen ihren Akten des Widerstands vorher – tat sie das, was dem Zionismus am meisten Angst macht: Sie entkolonisierte ihr eigenes Bewusstsein. Sie konnte die reale Besatzung aus ihrem Haus nicht beseitigen, also beseitigte sie ihre eigene Angst davor. In dem Moment, als ihre Hand in Richtung des behelmten Offiziers flog, war Ahed für einen Augenblick frei.

Und das machte die israelischen Medien und Gesellschaft so wütend. Der Zionismus ist daran gewohnt, die Palästinenser*innen entweder als Primitive zu sehen (in einer israelischen Talkshow fand der Moderator es schwer zu glauben, dass Bassem kein Bauer ist, sondern Beamter mit einem Master in Ökonomie) oder als „muslimische Terrorist*innen“. Dass eine junge palästinensische Frau sich gegen das Eindringen bewaffneter Soldat*innen in ihr eigenes Haus wehrt, und dabei noch „westliche“ Klamotten und offenes Haar trägt, konnte der Zionismus nicht hinnehmen. Ahed wurde um 4 Uhr morgens aus ihrem Haus in Begleitung eines militärischen Kamerateams verschleppt. Die Aufnahmen gingen an alle israelischen Sender und öffneten alle Abendnachrichten, als ginge es dabei mindestens um die Operation gegen Osama Bin-Laden. Der zionistischen Maskulinität wurde wortwörtlich eine Ohrfeige verpasst und sie bestand auf Rache.

Jetzt sitzt Ahed seit dem 19. Dezember in Haft, immer noch ohne Anklage, so wie ihre Mutter und ihre Cousine Nour. Laut Berichten wird sie durch mehrere unnötige Umzüge durch verschiedenen Haftanstalten schikaniert und dem Schlaf beraubt. Bei ihrem letzten Gerichtstermin sah sie müde und geschlagen aus. Frische Klamotten von Zuhause wurden ihr auch verweigert. Bassem erzählt, sie spricht mit ihren Verhörer*innen nicht, da sie ihre Macht über sie als Besatzer*innen nicht anerkennt.

Generation Rückkehr

Und so ist Ahed zu einem Symbol geworden. Die Akademikerin und Journalistin Rima Najjar nannte sie neulich „Teil der Palästinensischen Generation R“ – „R“ für Rückkehr, für eine neue Generation, die mit dem Kampf nicht aufhören wird, bis sie ihr Land, ihre Selbstbestimmung und ihre Freiheit erlangt. Und das hört man auch sehr oft in Nabi Saleh. Als ich Bassem mal fragte, was er wohl machen würde, falls das Dorf seine beschlagnahmte Wasserquelle und Grundstücke wiederbekommt, meinte er, er würde natürlich in das nächste Dorf und zum nächsten Protest gehen.

Die Solidarität ist wichtig in Nabi Saleh. Bassem selbst ist auch ein lautstarker Unterstützer einer demokratischen Einstaatenlösung im Lande. Aber ihm und den anderen geht es dabei nicht nur um ihr eigenes Schicksal, sondern auch um die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge. Das Bild des Schlüssels, das Kampfsymbol der Flüchtlinge, ist auf den Demos oft auf Fahnen zu sehen. Genauso hört man Parolen für die Solidarität mit den Gefangenen oder mit der Bevölkerung in Gaza oder Jerusalem.

Aheds Geschichte ist kein Einzelfall. Ihr Schicksal ist nicht wichtiger, weil sie ihre blonden Haare offen trägt. Es ist aber wichtig, weil es einen weiteren, konkreten Aspekt der Besatzung Palästinas zeigt, die uns ein besseres Verständnis der abstrakteren, allgemeineren Realität erlaubt. Und so schreibe ich über Ahed nicht, weil ich das Privileg hatte, sie und ihre Familie persönlich zu kennen, sondern eher damit ihr, die Leser*innen, nicht sagen könnt, ihr hättet von allem nicht gewusst.

 

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