Eine internationalistische Widerstandsgruppe im zweiten Weltkrieg als Vorbild für Aktivist:innen heute
Am 5. Oktober versammelten sich 100 Menschen im französischen Brest für eine historische Konferenz. Es ging um fünf Widerstandskämpfer:innen, die Verbrüderungsarbeit mit den deutschen Soldaten organisierten. Ein Vortrag von Nathaniel Flakin.
Vielen Dank für die Einladung, Genoss:innen. Besonderer Dank an die Übersetzer:innen — sie sind die materielle Grundlage des Internationalismus.
Ich bin zum ersten Mal in Brest. Aber in den letzten Jahren habe ich viel über diesen Ort nachgedacht. In der ersten Auflage meiner Biographie von Martin Monath in deutscher Sprache hieß es im ersten Satz, dass Brest im Nordosten Frankreichs liegt. Aber ich merke, wir sind im Nordwesten!
Hier in der Bretagne spielten sich 1943 und 1944 unglaubliche Szenen ab. In der schlimmsten Zeit der faschistischen Besatzung sollen deutsche Soldaten hier die „Die Internationale“ gesungen und ihre Fäuste gereckt haben, um französische Arbeiter auf der Straße zu grüßen. Das war das Ergebnis einer internationalistischen Zusammenarbeit: zwischen den trotzkistischen Widerstandskämpfer:innen, die wir heute verehren, und einfachen deutschen Soldaten. Geleitet wurde diese Arbeit von Martin Monath.
Monath wurde 1912 in Berlin geboren, und ich habe ein ganzes Buch über seine unwahrscheinliche Lebensgeschichte verfasst. Ich finde es immer noch schwer zu glauben, wie ein jüdischer Junge aus Berlin — der aus seiner Heimat fliehen musste, und dessen ganze Familie verfolgt und ermordet wurde — sich zum Organisator von deutschen Soldaten machte. Als der Genozid im vollen Gang war, rief Monath zum gemeinsamen Kampf von deutschen „Arbeiter in Uniform“ und Arbeiter:innen anderer Nationen gegen die Nazis auf.
Wir sind auf einer historischen Konferenz, aber leider ist Monaths Vorbild sehr relevant für uns heute. Denn während wir sprechen, toben zwei grausame Kriege, gar nicht so weit von hier entfernt. Wie können wir erreichen, dass russische und ukrainische Soldat:innen mit ihren Offizier:innen brechen und sich verbrüdern? Wie können wir erreichen, dass israelische Soldat:innen aufhören, ihrer verbrecherischen Führung zu dienen?
Monath wurde nicht als internationalistischer Trotzkist geboren. Er hatte eine erste politische Karriere in der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung in Deutschland. Er war in der Leitung der deutschen Sektion von Haschomer Hatzair (Hebräisch für „der junge Wächter“).
Monath hat nicht nur die zionistische Bewegung aufgebaut. Er machte ein Jahr lang die Hachschara, eine landwirtschaftliche Ausbildung auf einem Bauernhof in Dänemark, um sich auf das Leben im Kibbuz vorzubereiten. Einige seiner Genoss:innen brachen danach nach Palästina auf, aber er blieb in Berlin und versuchte zu studieren. Sein kleiner Bruder wurde 1939 nach Polen deportiert. Monath floh 1940 nach Belgien, und dort muss er Abraham Leon kennengelernt haben, den Leiter der trotzkistischen Partei im Untergrund, der ebenfalls früher bei Haschomer Hatzair eine führende Rolle gespielt hatte.
Über Brüssel kam Monath, auf langen politischen Umwegen, nach Paris. Er hielt sich in einer Villa in Paris versteckt — man kannte ihn als Viktor — und dort begann er, zusammen mit anderen Geflüchteten aus Deutschland, die Zeitung „Arbeiter und Soldat“ herauszugeben. Das Ziel war es, deutsche Soldaten in revolutionären Zellen zu organisieren. Aber nur hier in Brest, am U-Boot-Hafen, ist dieser Plan wirklich aufgegangen. Es gab genug deutsche Soldaten, deren Eltern früher in der Kommunistischen Partei aktiv waren.
Die ersten Versuche, eine Publikation für deutsche Soldaten zu gründen, wurde von den Brester Trotzkist:innen geleitet, die nicht so gut deutsch konnten. Ihre ersten Flugblätter waren jetzt, naja, sagen wir, keine Kunstwerke. Deswegen wurde Monath als Muttersprachler dazu geholt. Er gab nicht nur die Zeitung heraus, sondern fuhr auch jede Woche nach Brest, um mit den Soldaten zu diskutieren.
Das muss man sich nochmal vorstellen: Ein jüdischer Trotzkist und deutsche Soldaten diskutieren gemeinsam über die Perspektiven einer revolutionären Welle am Ende des Krieges.
Heutzutage weiß die ganze Welt, dass der Zionismus eine reaktionäre, koloniale Bewegung war und ist.
Aber wir sollten nicht vergessen, dass junge Juden:Jüdinnen teilweise sehr fortschrittliche und utopische Ideen hatten, als sie den Entschluss fassten, nach Palästina zu gehen. Sie wollten eine sozialistische Gemeinschaft aufbauen, und sie verstanden sich als Teil der weltweiten revolutionär-sozialistischen Bewegung.
Sie wollten nicht nur innerhalb der Kibbutzim sozialistische Ideale verwirklichen, sondern sie haben teilweise auch Arabisch gelernt. Sie wollten sich mit den Fellachen, mit den armen palästinensischen Bauern*Bäuerinnen, gemeinsam organisieren.
Diese fortschrittlichen Pläne hatten absolut nichts zu tun mit der kolonialen Wirklichkeit des real existierenden Zionismus. Die Kibbuzim waren Vorposten der gewaltsamen Eroberung. Es war immer eine reaktionäre Utopie, dass ein Kolonialprojekt sozialistisch sein konnte — und dass die sogenannte „jüdische Frage“ in einem eigenen Land gelöst werden konnte. Am Ende haben Haschomer Hatzair und andere sozialistische Zionist:innen die Speerspitze der Enteignungen und ethnischen Säuberungen gespielt, vor und während der Nakba — auch wenn sie Bauchschmerzen dabei hatten.
Wie man auf Hebräisch über die linken Zionist:innen sagt: „yorim ve bochim“ — zuerst schießen sie, und dann weinen sie.
Einige Genoss:innen von Monath, wie Rudolf Segall oder Jakob Moneta, landeten in Palästina, nachdem sie aus Deutschland fliehen mussten. Vor Ort merkten sie, dass es keinen Sozialismus auf der Grundlage von Apartheid geben könnte. Das muss man sich vorstellen: Kommunist:innen wie Segall und Moneta gingen nach dem Krieg nach Deutschland zurück, ins Land des Holocausts, um für die Revolution in Europa zu wirken. Und bis zum Ende blieben sie dem Trotzkismus treu.
Viele Mitglieder von Haschomer Hatzair mussten einsehen, dass ihr Sozialismus und ihr Zionismus in einem unversöhnlichen Widerspruch zueinander standen. Viele haben dann den Sozialismus aufgegeben, und bauten einen zutiefst rassistischen Staat mit auf. Aber einige haben sich komplett ihren universellen Idealen zugewandt, und aus Haschomer Hatzair sind über die Jahrzehnte unzählige Genoss:innen zum Trotzkismus gekommen, angefangen mit Martin Monath und seinem Genossen Abraham Leon. Auch einige der Gründer:innen der linksradikalen Gruppe Matzpen in Israel kamen ursprünglich aus Haschomer Hatzair, genauso wie Trotzkist:innen in anderen Teilen der Welt.
Heute erleben wir eine sehr starke Politisierung von jungen jüdischen Menschen, besonders in den USA. In den bürgerlichen Medien wird ständig behauptet, dass die Demonstrationen in Solidarität mit Palästina antisemitisch seien. Aber jede:r mit Augen kann sehen, dass jüdische Menschen bei allen Demos eine große Rolle spielen. Bei vielen Besetzungen an US-Universitäten wurde der Seder gefeiert!
Ich bin selbst aus den USA. Und dort, für einige Generationen nach dem zweiten Weltkrieg, war der Zionismus fast hegemonial. Nicht alle unterstützten die israelische Regierung, aber fast alle fanden die Idee eines jüdischen Staates in Palästina irgendwie gut. Das gilt auch heute noch für die meisten Babyboomer:innen. Aber bei jüdischen Jugendlichen in den USA überwiegt inzwischen die Ablehnung gegen Israel. Die jungen Leute kennen nicht die alten Mythen eines angeblichen liberalen Zionismus. Nein, sie kennen nur den religiösen Fanatismus des heutigen Israel — und sie lehnen seine Verbrechen in ihren Namen ab.
So beginnen viele alten Debatten über die sogenannte „jüdische Frage“ erneut. Der Zionismus war immer nur eine Ideologie innerhalb der jüdischen Community, und andere Ideologien werden wieder populärer. Es gibt neues Interesse an dem Bund, also dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund — Leute lernen die jiddische Sprache — und am Marxismus. Was hilft gegen Antisemitismus? Auswanderung wie nach Birobidschan? Kulturelle Autonomie? Oder „rote Assimilation“?
Zum Schluss möchte ich Leo Trotzki zitieren:
„Der Versuch, die jüdische Frage durch die Abwanderung von Juden nach Palästina zu lösen, kann nur als das gesehen werden, was es ist, eine tragische Verspottung des jüdischen Volkes. (…) Die zukünftige Entwicklung militärischer Ereignisse könnte Palästina in eine blutige Falle für mehrere hunderttausend Juden verwandeln. Nie war es so klar wie heute, dass die Rettung des jüdischen Volkes untrennbar mit dem Sturz des kapitalistischen Systems verbunden ist.“
Trotzkis Worte sind von 1940, aber sie klingen auf anderer Art und Weise heute relevant — Palästina könnte immer noch zu einer blutigen Falle für jüdische Menschen werden.
Das Erbe der Widerstandskämpfer:innen in Brest ist eine internationalistische Perspektive — das ist die einzige denkbare Lösung für die vielen Krisen der kapitalistischen Gesellschaft heute.