Ein revolutionärer Prozess gärt in der Türkei
// Was bedeuten die Ereignisse auf dem Taksim-Platz? // Türkisch //
In Istanbul hat ein Aufstand begonnen. Was steckt hinter dieser politischen Krise?
Seit Tagen kämpfen Jugendliche, KünstlerInnen, politische Gruppen, Fußballfans, AnwohnerInnen in Istanbul gegen die Polizei um den am Taksim-Platz zentral gelegenen Gezi-Park. Ein neues Einkaufszentrum soll diesen Park verdrängen. Das würde heißen, dass sich die Menschen in Istanbul von einem – dem einzigen – Park im Stadtzentrum verabschieden müssen. Die ersten Bäume wurden bereits gefällt, als die Menschen gegen die Baumaschinen auf die Straßen gingen. Anschließend konnten sie vorübergehend die Baumaschinen stoppen.
Die DemonstrantInnen forderten den sofortigen Stopp der Baumaßnahmen und den Schutz der Grünfläche in diesem Park. Der Abgeordnete der kurdischen Partei BDP Sırrı Süreyya Önder verhinderte zwei Mal das Abholzen der Bäume, indem er sich vor Bulldozer stellte. Zu einem dritten Mal kam es nicht, weil inzwischen die Polizei einen Großangriff gestartet hatte. Doch dieses Ereignis löste einen Aufstand aus, der inzwischen Millionen Menschen im ganzen Land auf die Straße gebracht hat.
Die DemonstrantInnen wurden mit einem großen und aggressiven Polizeiaufgebot drangsaliert und mit hunderten Kartuschen Tränengas angegriffen. Es gibt seit Beginn des Widerstands tausende Verletzte aufgrund der massiven Staatsgewalt. Abdullah Cömert, ein 22jähriger Demonstrant aus der kemalistischen CHP-Jugend, wurde in Antakya von der Polizei durch einen Kopfschuss ermordet. Mehmet Ayvalıtaş, ein 19jähriger Demonstrant, wurde bei einer Solidaritätskundgebung im Stadtteil Ümraniye von einem Auto überfahren. Die DemonstrantInnen berichteten, dass das Auto trotz Warnungen in die versammelte Menge gefahren sei. Nach seinem Tod teilte die linke Hackerorganisation RedHack mit, der ermordete Aktivist sei ein Mitglied der Gruppe gewesen. Dies zeigt: Je mehr die Bewegung sich ausweitet, desto gewalttätiger werden die Methoden der Polizei. Da aber die von der Polizei bisher aufgebrachte Kraft nicht ausreicht, um die Bewegung zu stoppen, versucht sie in Koordination mit der AKP-Jugend in vielen Städten der Türkei die DemonstrantInnen mit repressiven Methoden (Tränengas, Wasserwerfer, Folter auf offener Straße) von den Plätzen zu entfernen. Anwaltsvereine haben sich zur Solidarität mit den Verhafteten bereit erklärt – es sind schon über 2.000 Personen. Die bürgerlichen Medien haben in Partnerschaft mit der Regierung eine (Selbst-)Zensurpolitik beschlossen, um die Verbrechen der Staatsgewalt verheimlichen zu können. Sie halten seit dem Beginn des Widerstands ihre Augen geschlossen.
Der Kampf begann auf ökologischer Grundlage, als Intervention gegen die Zerstörung des Gezi-Parks. Aber da der Staat massive Repression einsetzte und Menschen aus vielen Städten sich an dem Widerstand beteiligten, hat sich die Bewegung radikalisiert – und zwar sehr schnell, da in letzter Zeit eine hohe Unzufriedenheit mit der AKP-Regierung herrscht. Um den Taksim-Platz gibt es einen sich in den letzten Monaten verschärfenden Kampf. Der Taksim-Platz ist das Zentrum von Istanbul. Im Stadtviertel Beyoglu ist er ein Ort, an dem sich viele KünstlerInnen, Studierende, linke Organisationen und LGBT-Gruppen aufhalten, zusammentreffen und Veranstaltungen organisieren. Istiklal Caddesi, auf dem Weg zum Taksim-Platz, ist die bekannteste Straße in Istanbul, die mit vielen Cafés und Lokalen Menschen anzieht. Seit einigen Wochen ist ein Alkoholverbot zwischen 22 Uhr und 6 Uhr an den Kiosken und in den Läden erlassen worden. Das Kultkino Emek an der Istiklal Caddesi musste vor einigen Wochen, trotz Demonstrationen von KünstlerInnen dagegen, abgebaut werden, auch dort soll ein neues Einkaufzentrum entstehen. Aus konservativen Kreisen wird der Ruf nach einer riesigen Moschee auf dem Taksim-Platz immer lauter. Und zuletzt hat Erdoğan kundgetan, dass eine Moschee auf dem Taksim-Platz anstatt des bisher angedachten Einkaufzentrums erbaut wird.
Der Taksim-Platz hat vor allem eine große symbolische Bedeutung für die linken Organisationen und die ArbeiterInnenklasse in der Türkei. Im Jahr 1977 versammelten sich die ArbeiterInnen und linken Organisationen am 1. Mai am Taksim-Platz, sowohl um den Tag der ArbeiterInnen zu feiern, als auch um Forderungen aufzustellen. An diesem Tag wurde die Masse von FaschistInnen mit Schusswaffen angegriffen. Die Folge davon waren 34 Tote und 136 Verletzte. Danach war es 30 Jahre lang verboten, auf dem Taksim-Platz zu demonstrieren. Durch massive Kämpfe konnte er jedoch in den letzten Jahren für die 1. Mai-Demonstrationen der ArbeiterInnenbewegung zurückerobert werden.
Kapitalistische Interessen und konservative Weltanschauung: die AKP-Regierung
Die AKP-Regierung setzt auf größere Bauprojekte, die Hand in Hand mit Prozessen der Gentrifizierung gehen. Das von Roma bewohnte Stadtviertel Sulukule wurde geleert, um dort im Stadtzentrum neue Häuser zu bauen. Die Roma wurden in Häuser an den Stadtrand geschickt. Es wird eine neue, dritte Brücke über den Bosporus gebaut, mit der viele Grünflächen zerstört werden. Als ob das nicht genug wäre, wurde angekündigt, dass diese Brücke nach Yavuz Sultan Selim benannt wird, der sich mit Massakern an den AlevitInnen im osmanischen Reich einen Namen gemacht hat.
Nun soll auch eine zweite Wasserstraße durch Istanbul fließen: der Istanbul-Kanal, der vom Schwarzen Meer zum Marmarameer, parallel zum Bosporus, laufen soll. Das Projekt wird die Stadt neu gestalten, weil die alten Häuser abgerissen werden. In diesem Kontext wird die Regierung den InvestorInnen vom Bausektor neue Investitionsfelder bieten. In diesen und in vielen anderen Bauprojekten werden die Menschen einfach übergangen und es wird von oben herab bestimmt, wie und wo sie leben wollen. Seit Dezember 2012 gibt es immer wieder Protestaktionen von Studierenden und prekär beschäftigten Lehrkräften gegen die Gentrifizierungspolitik der Regierung.
Die Regierung protzt gerne mit ihren Mega-Bauprojekten und die Wahlsiege der AKP bekräftigt sie, solche Schritte im Alleingang zu nehmen. Die aktuelle Krise des Regimes, welche sich im Widerstand um den Gezi-Park äußert, gründet in der Unfähigkeit, verschiedene Interessen aus der Bevölkerung aufzunehmen und das ganze bürgerlich-demokratische System auf Wahlen zu beschränken: Das heißt, die Regierung bringt ihre Projekte ausschließlich aufgrund der Mehrheit im Parlament zustande, ohne dabei die Perspektiven der Opposition zu beachten.
Ein Teil der liberalen Kräfte in der Türkei sind enttäuscht, dass die AKP einen konservativen Weg eingeschlagen hat. Die Enttäuschung über den Nichtaufbau eines liberalen Systems durch die AKP-Regierung nach Vorbild der Schweiz oder der USA sitzt bei liberalen Kräften tief. Doch eine solche Hoffnung ist eine Illusion: Ein bestimmter Lebensstandard und eine bürgerliche Demokratie mit ausgeweiteten Rechten ist in diesen Ländern nur soweit möglich, als sie als imperialistische Macht agieren und Profite aus vielen Ländern für sich beanspruchen können. Wie in vielen abhängigen und halbkolonialen Ländern, die wirtschaftlich von imperialistischen Mächten abhängen, kann die bürgerliche Ordnung in der Türkei nur instabil sein, weil sie sich aufgrund ihrer Stellung in der globalen Arbeitsteilung in einer Spannung gegenüber den imperialistischen Mächten befindet, die es unmöglich machen, dauerhaft weitergehende demokratische Rechte zu gewähren.
Selbst wenn ein Land wie Türkei diese bürgerlichen Rechte als Ziel anerkennt, können sie nicht die gleiche Entfaltungskraft wie in einem imperialistischen Land erlangen. Die bürgerlichen Rechte werden in der Türkei daher immer wieder zurückgeworfen. (Das soll aber auch nicht täuschen: Auch die imperialistischen Ordnungen sind krisenanfällig und auf Dauer nicht stabil. Zwei Weltkriege haben sie bereits verursacht.)
Liberale IdeologInnen in der Türkei versuchen bereits, den Widerstand gegen die Räumung des Gezi-Parks dafür zu instrumentalisieren, dass die AKP-Regierung einen „Demokratisierungsprozess“ starten soll. Sie sind nicht in der Lage zu erkennen, dass dieser Widerstand einen in sich demokratischeren Kern hat, als ein westlich-imperialistisches Land jemals anbieten könnte, weil die Bewegung Massencharakter hat. Die Bewegung besitzt durchaus die Kraft, die Regierung zum Fall zu bringen und einen revolutionären Prozess zu entfalten. Dabei ist es jedoch nötig, das die Arbeiterklasse mit ihren Kampfmethoden und ein Klassenprogramm die Bühne des Kampfes betritt. Die liberalen IdeologInnen wollen einem möglichen Sprung der Bewegung, also dem revolutionären Prozess, präventiv entgegentreten. Denn auch wenn manchmal Frustration innerhalb des liberalen Milieus herrscht, beabsichtigen seine Mitglieder die Aufrechterhaltung der AKP-Regierung.
Der „Sultan“ und die Vorgehensweise des Kemalismus
An den Demonstrationen nehmen verschiedene politische Kräften teil. Auch die kemalistischen Kräfte versuchen die Führung an sich zu reißen. Dabei haben sie eine Vorgehensweise für ihre Politik entwickelt, die es kurz zu untersuchen gilt: Momentan werden alle Konflikte in der Türkei von ihnen auf die Person Recep Tayyip Erdoğan reduziert. Er ist tatsächlich der aggressivste Polemiker in den Reihen der AKP. Als Hassperson dient er vielen Gruppen dazu, ihre eigene Basis zu mobilisieren – alleiniger politischer Grund der ganzen Ereignisse ist er aber auf keinen Fall.
Der Kemalismus erlitt eine politische Niederlage mit den republikanischen Demonstrationen im Jahre 2007, als er seine Basis mobilisierte, um die Regierung zu Fall zu bringen, unter aktiver Beteiligung von Generälen und Staatsbeamten. Viele davon sitzen inzwischen in den Gefängnissen. Jetzt wollen solche Kräfte wieder Einfluss in der aktuellen Protestbewegung erringen, da der Kampf im Gezi-Park und anderswo bisher ohne eine wirkliche Führung ist. Die kemalistischen Kräfte wie CHP und TGB bringen ihre Basis auf die Straßen, um die Führung der Bewegung in die Hand zu nehmen. Ihre Forderungen werden aber in der Türkei bisher nicht übernommen, weil der Kern der DemonstrantInnen aus kemalismus-kritischen Intellektuellen, KünstlerInnen und Studierenden, unorganisierten ArbeiterInnen verschiedener Sektoren und revolutionären AktivistInnen besteht.
Der Kampf ist auf viele Städte der Türkei übergesprungen, auch auf Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Europa. Seit Beginn des Widerstands finden hier Soli-Aktionen statt. In vielen Orten versammelt sich eine große Masse, um Solidarität mit den Kämpfenden zu zeigen. Teilweise werden diese aber von kemalistischen Kräften dominiert. Die Bewegung, einschließlich der KemalistInnen, sind sich einig, dass Recep Tayyip Erdoğan von der Macht entfernt werden muss; das ist eine Grundlage des Kampfes. Dennoch dürfen die Protestierenden sich vom kemalistischen Projekt nicht blenden lassen, da es nur für eine andere Seite der Medaille bürgerlich-kapitalistischer Politik steht. Stattdessen brauchen die Massen auf den Straßen ein von jeder bürgerlichen Variante unabhängiges Programm und eine unabhängige Organisation.
Die Jugend an der Spitze der Proteste
Die ersten Umfragen verlauten, dass 70% der DemonstrantInnen nicht parteipolitisch aktiv sind. 55% der DemonstrantInnen sind zum ersten Mal in ihrem Leben auf den Straßen. Mehrheitheitlich sind die DemonstrantInnen Jugendliche. Das erste Motiv für ihre Aktionen ist, dass die AKP-Regierung ihre Lebensweise stark beschränken will. Das beginnt mit der ständigen Ansage von Erdoğan, dass junge Eheleute mindestens drei Kinder auf die Welt bringen sollen, und endet mit ständigen Verunglimpfungen, die jeglichen Alkoholkonsum als Alkoholismus dramatisieren.
Die wesentliche Jugendpolitik der Regierung ist, die Jugend zu islamisieren: Erdoğan sagte auf einer Konferenz: „Wir möchten eine religiöse Jugend heranziehen.“ Die Islamisierungspolitik der Regierung hat eine starke Unruhe bei der Jugend geschaffen. Aber die Motive des Kampfes bleiben nicht dabei stehen: 20% der unter 25jährigen sind arbeitslos, und die Arbeitsbedingungen sind schlecht genug, dass der Unmut immer größer wird.
Die Studierenden bestimmen diesen Kampf mit. Seit Dezember 2012 gibt es fast jede Woche an verschiedenen Universitäten militante Auseinandersetzungen um ein selbstbestimmtes Studium mit der Universitätsverwaltung oder mit der Polizei. Die prekär beschäftigen Lehrkräften an den Unis steigerten ihre Kämpfe in den letzten Monaten ebenfalls. Die Unzufriedenheit der Jugendlichen beherrscht die Straßen der Türkei.
Die Gewerkschaften betreten die Bühne
Die Türkei bietet den ArbeiterInnen katastrophale Arbeitsbedingungen. Die Zahl der Toten durch Arbeitsunfälle ist extrem hoch. Die Prekarisierung ist in der Türkei ein wesentliches Thema, da der größte Teil der ArbeiterInnenklasse weder versichert noch gewerkschaftlich organisiert ist. Es gibt aber von Seiten der privilegierten GewerkschaftsbürokratInnen keine ernsthafte Bemühung, die Forderungen der ArbeiterInnen durchzusetzen. Stattdessen treten sie oft mit populistischen Aussagen in der Öffentlichkeit auf, um ihre eigenen Privilegien abzusichern. Die Gezi-Park-Bewegung spielt eine wesentliche Rolle für die ArbeiterInnenklasse, um sowohl deren schlechten Arbeitsbedingungen in die Öffentlichkeit tragen als auch Errungenschaften erzielen zu können.
Die linksgerichteten Gewerkschaften DISK (Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften), KESK (Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter) und Eğitim-Sen (Bildungsgewerkschaft) haben die Bewegung in den ersten Tagen mit Presseerklärungen symbolisch unterstützt. Als der Zustand der Bewegung sich radikalisierte und die DemonstrantInnen von den Gewerkschaften den Generalstreik forderten, haben sich diese Gewerkschaften getroffen und einen zweitägigen Generalstreik beschlossen. Zudem befindet sich Hava-İş (Gewerkschaft der Beschäftigten im Flugverkehr) seit dem 15. Mai im Streik bei Turkish Airlines. Die ArbeiterInnen dort haben sich dem Widerstand ebenfalls angeschlossen.
Je mehr der Kampf sich aber verschärft, desto deutlicher wird die verräterische Rolle der Gewerkschaftsbürokratie. Die mit der AKP-Regierung in Partnerschaft arbeitenden Gewerkschaften wie Türk-iş (Konföderation von Arbeitergewerkschaften der Türkei), die durch den Verrat an den Tekel-ArbeiterInnen in den Jahren 2009-10 bekannt ist, und Memur-Sen haben die Forderung nach einem Generalstreik abgelehnt. Sie haben stattdessen den Kampf beschimpft und die DemonstrantInnen als ProvokateurInnen bezeichnet. Das Programm von Gewerkschaften wie Türk-iş und Memur-Sen basiert auf der Kontinuität der Ausbeutung, indem sie kleine Reformen als große Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse hervorheben, und der Radikalisierung entgegentreten. Die ArbeiterInnen haben nun aufgrund der Widerstandsbewegung die Möglichkeit, unabhängig von den privilegierten GewerkschaftsbürokratInnen auf die Straße zu gehen und für ihre Forderungen zu kämpfen.
Die Aufgabe der Stunde lautet also, die Gewerkschaftsbürokratie für einen Generalstreik unter Druck zu setzen, da die Bewegung nur unter Beteiligung der ArbeiterInnenklasse einen Sprung machen kann. Die Gewerkschaftsbürokratie hat bereits einen Rückzug gemacht und aus dem zweitägigen Generalstreik ist eine Arbeitsniederlegung für einen Tag und eine Teilnahme an den Protestaktionen geworden. Der KESK-Vorsitzende Lami Özgen erklärte diesen Rückzug folgendermaßen: „Es ist zur Zeit kein Generalstreik möglich.“ Diese Erklärung kam, nachdem der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç an KESK appelliert hatte, den inneren Frieden nicht zu gefährden.
Trotz dieser Erklärung werden gerade die Sektoren der LehrerInnen, ÄrztInnen, ArchitektInnen usw. in den Kampf hineingezogen, da sie einen wichtigen Teil des urbanen Widerstandes ausmachen. Dieser zielt darauf, Entscheidungen selbst zu treffen und nicht sich von oben diktieren zu lassen. Das ist der erste Grund für Spannungen zwischen den Gewerkschaften und ihrer Basis: welchen Charakter die gewerkschaftlichen Aktionen haben sollen. Der zweite Grund für Spannungen ist die Frage, wie die Zusammenführung der verschiedenen Sektoren der ArbeiterInnenklasse um diesen aktuellen Kampf zu erreichen ist. Anscheinend halten KESK, DISK, TMMOB und TIB die Ausweitung des Kampfes nicht für möglich. Die Gewerkschaften und Berufsverbände werden sicherlich von unten unter Druck gesetzt werden, weil viele ArbeiterInnen mit der kämpferischen Stimmung im ganzen Land die Möglichkeit sehen, dass sie ihre Forderungen bekräftigen können. Der offene Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie tickt wie eine Bombe.
Die objektive Lage der ArbeiterInnenklasse
Das Wachstum der Türkei schwankt seit 2008 wegen der Weltwirtschaftskrise. Im Anfangsjahr der Krise 2008 fiel die Wachstumsrate auf 1,1%. Im folgenden Jahr schrumpfte die türkische Wirtschaft um -4,7%. In den Jahren 2010-11 gab es wieder Wachstumsraten von 9,2% und 8,5%. Im nächsten Jahr fiel sie wieder auf 2,2%, und dieses Jahr wird auch eine niedrige Wachstumsrate um die 3% erwartet. Zudem wuchs im Monat April 2013 das Außenhandelsdefizit (55,1%) von 6.643 Millionen Dollar auf 10.304 Millionen Dollar an.
Die ArbeiterInnenklasse konnte in den letzten Jahren nicht die Schritte nehmen, die ihre Lage deutlich verbessert hätten, wie zum Beispiel die Arbeitszeitverkürzung und die Erhöhung der Mindestlöhne oder die Verbesserung der Arbeitsbedingungen (2012 starben in der Türkei 878 ArbeiterInnen auf der Arbeit). Der Spielraum der türkischen Bourgeoisie wird noch enger als bisher. Einige Pläne gegen die ArbeiterInnenklasse mussten dennoch aufgegeben werden, wie die Abschaffung von Abfindungen bei Entlassungen.
Die Bourgeoisie konnte ihre großangelegten Angriffe gegen die ArbeiterInnenklasse in den letzten Jahren nicht durchsetzen. Bei der Zurückschlagung der Pläne der Bourgeoise spielten zwei Kämpfe enorme wichtige Rolle: Der Tekel-Kampf in den Jahren 2009 und 2010, als die ArbeiterInnen 78 Tage in der Hauptstadt nicht weit von den Regierungsgebäuden auf einem wichtigen zentralen Platz ihre Zelte trotz staatlicher Repression aufgeschlagen hatten. Dieser Kampf von einigen tausend ArbeiterInnen löste einen Generalstreik in der Türkei aus und vereinigte die ArbeiterInnenklasse aus dem ganzen Land, trotz des staatlichen Rassismus.
Der Kampf um den Taksim-Platz, 30 Jahre für die ArbeiterInnenbewegung am 1. Mai gesperrt, konnte nach militanten Kämpfen mit hunderttausenden ArbeiterInnen zurückerobert und der 1. Mai als offizieller ArbeiterInnenfeiertag anerkannt werden. Als die Regierung die 1. Mai-Feier dieses Jahr wieder verboten hatte, musste der ganze Verkehr (Bus, Metro, Schiffe usw.) in der Stadt gestoppt werden und zehntausende PolizistInnen wurden in den Dienst gezogen. Nur mit der Verhängung des Ausnahmezustands kann die Regierung die ArbeiterInnenklasse eindämmen.
In der Türkei beträgt der Mindestlohn umgerechnet 375 Euro pro Monat. Es wurden Pläne bekannt, wonach es ein Ziel der Verhandlungen mit PKK und BDP sei, einen regionalen Mindestlohn durchzusetzen, damit die ArbeiterInnen in den kurdischen Gebieten nur zwei Drittel des Mindestlohnes bekommen sollen. Bevor dieser Plan irgendwann umgesetzt wird, hat die türkische Bourgeoisie erstmal sektorale Angriffe gestartet. Wenn die Mindestlöhne nicht verringert werden können, können die Lohnkosten trotzdem gesenkt werden, durch unbezahlte Überstunden, Verhinderungen der Gewerkschaften in den Betrieben, Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Verhinderung von Tarifverträgen.
Das Paradebeispiel für so eine Politik ereignet sich zurzeit bei Turkish Airlines: 305 ArbeiterInnen wurden bereits gefeuert, weil sie für ihre eigenen Rechte in den Streik eingetreten sind. Die Regierung tritt auch hier unnachgiebig wie beim Fall des Gezi-Parks auf, weil ein Stopp des Angriffs hier bedeuten würde, dass die Lohnkosten nicht gesenkt werden können, weder bei Turkish Airlines noch bei den anderen Betrieben.
Die Position der kurdischen Bewegung
Der Widerstand des Gezi-Parks ist die radikalste Bewegung in den türkischen Gebieten seit dem Militärputsch von 1980. Aber in Nordkurdistan sind solche Aktionen nicht fremd, denn die KurdInnen leisten seit der Gründung des türkischen Staates zahllose Widerstände. Nun sieht die Konjunktur aufgrund der Friedensgespräche zwischen der Regierung und der PKK ganz anders aus. Die Guerillas befinden sich seit 8. Mai im Rückzug aus Nordkurdistan nach Südkurdistan (im Irak) und die kurdische Partei BDP möchte die Demokratisierung unter der Führung der AKP-Regierung. Am 3. Juni wurden die Guerillas von türkischen Soldaten mit Hubschraubern angegriffen in der Grenzregion zwischen der Türkei und dem Irak – der Angriff wurde von der Guerilla kritisiert, aber der Rückzug wird fortgeführt.
Die Verhandlungen zielen darauf, dass die türkische und kurdische Bourgeoisien in Rahmen ein Bündnis eingehen – auf dieser Grundlage soll es Frieden geben. Die Türkei hat in den letzten Jahren in Südkurdistan sehr viele Geschäfte übernommen, unter anderem im Bausektor. Die bewaffneten Gruppen in Syrien werden von der Türkei finanziell und logistisch unterstützt. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu versucht ständig, die imperialistischen Mächte in Syrien hineinzuziehen, um eine Intervention auf der militärischen Ebene zu führen und das Assad-Regime zu Fall zu bringen. In einem Post-Assad-Syrien verspricht sich die Türkei viel Einfluss. Bei beiden Vorhaben spielt das kurdische Volk eine Schlüsselfunktion: PKK-Anführer Abdullah Öcalan erklärte dies mit seinen eigenen Worten so: „Es ist, als erlebten wir eine aktualisierte, komplizierte und verschärfte Version des Befreiungskriegs, der sich in der jüngeren Geschichte im Rahmen des Nationalpaktes (1920) unter Führung der Türken und Kurden entwickelte.
Türken und Kurden sind gemeinsam bei Çanakkale gefallen, sie haben den Befreiungskrieg zusammen geführt, 1920 das Parlament gemeinsam eröffnet. Kurden, Turkmenen, Aramäer und Araber, die in Verletzung des Nationalpaktes geteilt wurden und heute in Syrien und der Arabischen Republik Irak schweren Konflikten und Problemen ausgesetzt sind, rufe ich auf, gemeinsam auf einer ‘Nationalen Solidaritäts- und Friedenskonferenz’ ihre Situation zu diskutieren, ein Bewusstsein zu schaffen und Beschlüsse zu fassen.“
Das neo-osmanische Konzept mit kemalistischem Vokabular (Befreiungskrieg und Nationalpakt) macht deutlich, dass gerade die PKK in der Lage ist, die kapitalistischen Interessen der Türkei in den anderen kurdischen Gebieten der Region zu unterstützen. Das soll die türkische Bourgeoise herauslocken, um die Forderungen der offiziellen Führung der KurdInnen (also diffuse kulturelle Forderungen der BDP sowie eine Generalamnestie für die PKK-KämpferInnen) durchzusetzen.
Jetzt zittert die BDP-Führung um den Widerstand um den Taksim-Gezi-Park, weil sie die Befürchtung hat, dass die Friedensverhandlungen abgebrochen werden, wenn die AKP von der Macht entfernt wird. Da die Bewegung unter der Führung von Sırrı Süreyya Önder (BDP-Abgeordneter) begonnen hatte, hat sich nur teils der Basis der BDP der Bewegung angeschlossen. Der Co-Vorsitzende von BDP Selahattin Demirtaş sagte bei einem Interview: „Eine kleine Gruppe versucht, die Millionen Menschen auf der Straße gegen die Kurden zu hetzten. Sie versuchen den Demonstrationen eine anti-kurdische Komponente zu geben. Wir haben gesagt, dass wir mit diesen Menschen nicht zusammen stehen werden.”
Manche Mediengruppen haben das umgedreht und behauptet: “Die BDP bezeichnet die Menschen auf dem Taksim als Faschisten.” Diese Position wurde von den kämpfenden KurdInnen auf den Straßen widersprochen. Es folgte ein Rückzug von Demirtaş: „Wir respektieren die Arbeiter, Revolutionäre und Fortschrittlichen, die auf den Straßen und Plätzen protestieren. Wir stehen sowieso neben ihnen. Wir sind diejenigen, die die Straßen durch Widerstand zum Erodieren gebracht haben, die die Verhandlungsphase erzeugt haben. Wir werden uns nicht dem Faschismus der AKP oder anderer beugen. Auch die AKP muss den Widerstand auf den Straßen richtig verstehen.“ Der Druck auf den Straßen und die Interessen, die sich aus den Gesprächen mit der türkischen Bourgeoisie ergeben, kollidieren bei der BDP offen.
Die Perspektive des Widerstands
Die AKP versucht zur Zeit, mit einigen Rückzügen, auf ein Ergebnis zu kommen, mit dem sie ihr Gesicht und vor allem ihre kapitalistischen Interessen wahren können. Eine Delegation forderte am 5. Juni in Gesprächen mit dem Vizepremierminister Bülent Arınç und dem Staatspräsident Abdullah Gül, den endgültigen Baustopp und den Erhalt des Parks; den Rücktritt der Polizeichefs und der Gouverneure von Istanbul, Ankara und Hatay; die Freilassung der festgenommen DemonstrantInnen; das Verbot von Tränengas und ähnlichem; die volle Demonstrationsfreiheit und Meinungsfreiheit; Selbstbestimmung in der Bauplanung und Stopp der umweltzerstörende Bauprojekten; ein Ende der repressiven, rassistischen, frauenfeindlichen, sexistischen Politik; Wiedereinstellung der ArbeiterInnen bei Turkish Airlines und volle Anerkennung der Rechte von ArbeiterInnen; ein Ende der türkischen Kriegspropaganda und den Frieden. Diese Forderungen sind weit entfernt von den, was die kemalistischen Kräfte und die liberalen IdeologInnen, die bisher die Opposition zur AKP bilden, sich gewünscht haben.
Die Kämpfe in den letzten Tagen kennzeichnen eine Wende in der Türkei. Aber bisher bleibt die entscheidende Frage offen: Wie können diese Forderungen erreicht werden? Die DemonstrantInnen haben bisher einen politischen Sieg errungen und die Polizei abgewehrt. Die genannten Forderungen können aber nur durch den revolutionären Sturz des Kapitalismus in der Türkei erreicht werden. Es fehlt eindeutig eine revolutionäre Führung, die für die Verwirklichung dieser Forderungen arbeitet. Die Massen, die bisher einen mutigen Kampf gegen die Regierung geführt haben, stehen vor der Aufgabe, den Kampf auf eine neue Ebene zu heben. Dabei ist es wichtig, den Taksim-Platz in einen Ort zu verwandeln, an dem die Entscheidungen der Bewegung getroffen werden. Die demokratische Selbstorganisierung muss vorangetrieben werden, damit die bürgerliche Opposition ihren Führungsanspruch über die Bewegung nicht durchzusetzen. Um den DemonstrantInnen die Möglichkeit zu geben, ihre Kräfte zu konsolidieren und die anderen Sektoren der ArbeiterInnenklasse zu erreichen, ist ein wirklicher Generalstreik notwendig.
Um die demokratischen Forderungen komplett zu verwirklichen, müssen sie im Rahmen eines Übergangsprogramms mit dem Ziel der sozialistischen Revolution in der Türkei und international verbunden werden. Dieses Programm muss mit dem Kampf für Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie gegen die Repression anfangen, aber auch Fragen der demokratischen Selbstverwaltung der Universitäten und Wohnviertel (also ein Ende der Gentrifizierung im Interesse der großen Konzerne) einbinden und diese demokratischen Fragen mit denen der Produktionsverhältnisse verbinden. Die kurdische Bevölkerung und andere nicht-türkische Menschen müssen durch die Anerkennung des uneingeschränkten Selbstbestimmungsrechtes aller unterdrückten Nation einbezogen werden. [Auch die Forderung nach einer revolutionären konstituierenden Versammlung könnte die Proteste gegen den besonders autoritären Charakter des türkischen Regimes zusammenführen.] Doch all diese Forderungen können nur durch eine Revolution unter Führung der ArbeiterInnenklasse verbunden und verwirklicht werden. Von daher ist auch der Aufbau einer revolutionären Partei der ArbeiterInnen in der Türkei und international eine dringende Aufgabe.