Ein Mord, ein Gerichtsurteil und die permanente Gewalt der Besatzung

11.01.2017, Lesezeit 7 Min.
Gastbeitrag

„Der Fall des schießenden Soldaten.“ Am vergangenen Mittwoch wurde ein israelischer Soldat wegen Totschlag verurteilt. Wer war der Mörder, Elor Azaria? Wer war der Ermordete, Abdel Fatah Alsharif? Das ist nicht einfach die Geschichte von zwei jungen Männern. Es ist die Geschichte einer kolonialen Besatzung.

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Am vergangenen Mittwoch hat das israelische Militärgericht einstimmig den Soldaten Elor Azaria des Totschlags schuldig gesprochen. Am 24. März hatte Azaria, ein Sanitäter der Kfir-Brigade, der in der palästinensischen Stadt Hebron (Al-Khalil) stationiert war, einen palästinensischen Angreifer mit einem Kopfschuss ermordet. Dieser lag nach einem versuchten Messerangriff verletzt und entwaffnet auf dem Boden. Im Gegensatz zu anderen Fällen von außergerichtlichen Hinrichtungen durch das israelische Militär wurde das ganze Geschehen von einem palästinensischen Kameramann aufgenommen und konnte dementsprechend nicht mehr vertuscht werden. Die Affäre hat für große Aufregung im Lande gesorgt, und auch nach dem Schuldspruch kehrt keine Ruhe ein.

Im Urteil des Militärgerichts lehnten die Richter*innen Azarias Aussage ab, der zufolge er Sprengsätze am Körper des Attentäters befürchtete. Dem Gericht zufolge sagte Azaria einem Freund nach der Tat: „Er hat meinen Kumpel gestochen und versucht ihn umzubringen. Dann hat er es auch verdient zu sterben.“ Laut Aussage des Kompaniechefs lag das Messer des Angreifers nicht in seiner Reichweite, als Azaria ihm in den Kopf schoss.

Elor Azaria

Azaria, 20, ist in der Arbeiter*innenstadt Ramla groß geworden, als jüngstes von vier Kindern und Sohn eines Polizisten. Laut seinem Facebook-Profil ist er begeisterter Fan des Fußballklubs „Beitar Jerusalem“, der sowohl für die rassistischen Tendenzen seiner Fans berühmt ist, als auch seiner Hooligans-Truppe „La Familie“. Azaria steht auf den rechtsradikalen Rapper „The Shadow“ und den Chef der „jüdischen Nationalfront“ Baruch Marzel. Laut seiner Familie, die sich selbst als rechts bezeichnet, glaube Azaria, es gäbe keine Ansprechpartner*innen für Frieden in der Region.

Azarias Hintergrund ist wichtig, um den Fall in den richtigen sozialen-politischen Zusammenhang zu bringen. Viele junge Israelis in seinem Alter, die aus höheren sozialen Schichten kommen oder „weißer“ sind (Azaria ist ein Mizrachi-Jude), können dank ihres Hintergrundes im Rahmen des Militärdienstes Pilot*innen, Nachrichtenoffizier*innen oder Spezialkommandos werden. In diesen Positionen werden sie eventuell viel mehr Palästinenser*innen umbringen als Azaria, und halten eine Struktur aufrecht, die noch viel mehr Blutvergießen zu verantworten hat. Azaria hat einen Menschen kaltblütig und aus klaren rassistischen Beweggründen hingerichtet – keine Frage. Wäre sein Name aber Mendelbaum oder Hirschfeld, wäre es schwieriger gewesen, ihn auf diese Art zum Sündenbock zu machen.

Abdel Fatah Alsharif

Es gibt aber noch eine weitere Person in der Affäre, die kaum beim Namen genannt wird: Abdel Fatah Alsharif, der Angreifer, den Azaria hingerichtet hat. Alsharif war 21 Jahre alt zu seinem Todeszeitpunkt. Ein Tischler aus einem Vorort Hebrons, Sohn eines Bauarbeiters. Er eröffnete erst kurz vor dem Angriff seine eigene Tischlerei. Seine Familie erzählt von sich, dass sie nie politisch waren. Keine palästinensische Organisation hat Al-Sharifs Angriff für sich beansprucht. Kurz nach seinem Tod wurde sein jüngerer Bruder verhaftet. Al-Sharifs Leiche wurde der Familie lange enthalten – eine gängige Strafe für die Familien von Angreifer*innen.

Al-Sharifs Name ist aber kaum in den Medien zu finden. Selbst das Gerichtsurteil erklärt im ersten Paragraph: „Al-Sharif, im Folgenden ‚der Terrorist‘ genannt“. Der Zusammenhang, weswegen ein junger Palästinenser, der erst vor zwei Monaten sein eigenes Geschäft aufmachte, einen fast sicheren Tod in Kauf nimmt und mit einem Messer auf bewaffnete Soldat*innen losgeht, interessiert kaum einen Menschen. Die Realität der Besatzung in Hebron, die vielleicht die schlimmste im Westjordanland ist, spielt hier anscheinend keine Rolle. Palästinenser*innen sind Terrorist*innen, egal ob sie Zivilist*innen oder bewaffnete Besatzungssoldat*innen angreifen.

Das Volk verlangt Straferlass“

Sofort nach dem Gerichtsurteil riefen mehrere Politiker*innen nach einer Begnadigung. Netanyahu hat auf Twitter keine Zeit verloren, so auch der Erziehungsminister Bennett, Kulturministerin Regev und sogar MdK Shelly Yachimovich der sogenannten Mitte-Links-Partei „Zionistische Union“. Nur der neue Sicherheitsminister Avigdor Liebermann, der vor seinem Amtsantritt einer der lautstärksten Unterstützer*innen von Azaria war, bat plötzlich ganz staatsmännisch die Bevölkerung darum, „das Urteil zu respektieren“.

Bei den Appellen nach einer Begnadigung berufen sich viele Politiker*innen auf den Präzedenzfall der sogenannten „Bus 300 Affäre“: Im April 1984 haben vier Palästinenser*innen, mit Messern bewaffnet, einen Bus aus Tel-Aviv entführt. Der Bus wurde von den Sicherheitskräften gestürmt, und die Entführer*innen sind dabei angeblich ums Leben gekommen. Erst zwei Wochen später wurden zwei Fotos israelischer Fotograf*innen veröffentlicht, auf denen klar zu erkennen war, dass zwei der Entführer*innen lebendig festgenommen wurden. Die Offiziere der Geheimpolizei haben sie nach der Gefangennahme mit Steinen und Eisenstangen zu Tode geprügelt. Trotz falscher Aussagen während der Ermittlungen haben die Mörder*innen einen offiziellen Straferlass bekommen. Das erhoffen jetzt viele auch für Azaria.

Ein Antrag auf Straferlass könnte aber zu weiteren Konflikten führen: Über eine Begnadigung entscheidet der Präsident, Rubi Rivlin, der dem liberaleren Flügel der Rechtspartei Likud angehörte. Er wird höchstwahrscheinlich keine Begnadigung aussprechen, ohne das Einverständnis der Militärchefs. Und diese werden höchstwahrscheinlich ablehnen, um sich weitere mediale Kopfschmerzen zu sparen. Falls der Straferlass tatsächlich beantragt wird – und das können übrigens nur Azaria, seine Familie oder seine Anwält*innen machen – könnte es zu einer interessanten Situation führen: Was ist, wenn der Staatspräsident und der Generalstab als „linke Volksverräter*innen“ angegriffen werden? Morddrohungen gegen den Militärchef waren schon auf der Demo vor dem Gericht am Mittwoch zu hören.

Die Mehrheit der jüdisch-israelischen Gesellschaft ist übrigens für Azaria und eine Begnadigung: 67 Prozent nach einer Umfrage des israelischen Fernsehens. Ein Crowd-Funding Appell zur Deckung seiner Anwaltskosten hat während des Prozesses über 160.000 Euro eingesammelt und die Kosten damit komplett gedeckt.

Kein Einzelfall

Auch wenn der Fall in den Medien als Ausnahme dargestellt wird, ist es kein Einzelfall. Außergerichtliche Hinrichtungen im Westjordanland und Ostjerusalem sind längst Gang und Gäbe, auch wenn sie nur dann ans Licht kommen, wenn zufällig eine Kamera in der Nähe war. Das Töten von Hunderten von Zivilist*innen in dem Gaza-Streifen alle paar Jahre ist auch nichts anderes als eine Hinrichtung, auch wenn diese durch Hi-Tech Drohnen und Flugzeuge durchgeführt wird.

Der Fall Azaria hat das israelische Militär unter Druck gesetzt: Sie mussten ermitteln, damit der Fall nicht vor dem internationalen Strafgerichtshof landet. Die Attacke Al-Sharifs war ein nach internationalem Recht legitimer Akt des Widerstandes gegen eine Besatzungsmacht. Aber am Ende ist es nur eine weitere Erscheinungsform der unvermeidbaren Gewalt des zionistischen Kolonialprojektes.

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