Ein-Kammer-Parlament statt Volksabstimmung – ein Vorschlag für die französischen Gelbwesten
Statt ausgedehnter präsidialer Befugnisse und einer Trennung von Senat und Nationalversammlung: Ein einziges Parlament, das über alle Fragen entscheidet und stärker demokratisch kontrolliert wird als heute.
Bild: O Phil Des Contrastes
Nachdem die Gelbwesten Mitte November die Bühne der französischen Politik betraten, änderten sich die prominentesten Forderungen beinahe wöchentlich. Wo zunächst die Erhöhung der Kraftstoffsteuer im Vordergrund stand, wurde bald auf den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur mit Schulen, Nahverkehr und Krankenhäusern eingegangen. Ebenso aufs Tablett kamen eine generelle Erhöhung der Kaufkraft und soziale Forderungen, wie höhere Renten, höherer Mindestlohn und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, um diese Maßnahmen zu finanzieren.
Ab Mitte Dezember reihte sich dann eine weiter Losung ein, die seither auf keiner Gelbwesten-Demo mehr fehlt: Das RIC – „Referendum d‘Initiative Citoyenne“, oder auf Deutsch das „Referendum auf Bürger*innen-Intitiative“. Kaum eine Aktion findet statt, bei der nicht groß „RIC“ auf Schildern oder Westen zu sehen ist.
Der Vorschlag wurde vom linken Intellektuellen Étienne Chouard populär gemacht und dann in leicht abgeänderten Varianten aufgegriffen. Zentral ist die Idee verbindlicher Volksabstimmungen über neue Gesetze, die von allen Bürger*innen eingebracht werden können. Es muss „lediglich“ eine Hürde von 500.000 bis einer Million Unterschriften übersprungen werden. Die Durchführung des Referendums soll dann von einem „unabhängigen Kontrollgremium“ überwacht werden. Währenddessen kann der Gesetzesvorschlag vom französischen Parlament, der Nationalversammlung, „diskutiert und ergänzt“ werden, bevor innerhalb eines Jahres abgestimmt wird. Wobei der Punkt der Ergänzungen durch das Parlament umstritten ist.
Vielen Gelbwesten erscheint dies als Schlüssel zur Durchsetzung all ihrer Forderungen und als ein großer Schritt zur Demokratisierung des französischen Systems. So könnte doch über eine Vermögenssteuer und die Erhöhung des Mindestlohns einfach abgestimmt werden Besonders, da die Regierung diese Forderungen nicht von sich aus umsetzt. Und es gibt auch noch weitergehende Vorschläge, die nicht nur das Einbringen einfacher Gesetze sondern auch die Verhinderung von Gesetzen, die Abwahl von Politiker*innen und Regierungsmitgliedern bis hin zu verfassungsrechtlichen Änderungen vorsehen.
Das RIC kann nicht demokratischer sein als die Institutionen, die es kontrollieren
Der Vorschlag des RIC birgt zwar für viele das Versprechen einer grundlegenden Demokratisierung, doch die Institutionen, gegen die die Gilets Jaunes aktuell rebellieren, sollen dabei gar nicht angetastet werden. Insbesondere der Präsident mit seinen weitreichenden Befugnissen – die bis zur Auflösung der Nationalversammlung reichen – unterliegt in seiner fünfjährigen Amtszeit so gut wie keiner Kontrolle. Die Nationalversammlung selbst wird zwar direkt gewählt, sie kann jedoch vom Senat bei Gesetzesvorhaben blockiert werden. Und dieser wird wiederum nur indirekt gewählt und ist damit noch weiter von den Interessen der Bevölkerung entkoppelt.
Es wäre also fatal, würde sich die Bewegung auf das RIC fokussieren und sich mit dessen Umsetzung zufrieden geben. Doch genau das schlagen gerade die prominentesten Befürworter*innen vor: Maxime Nicolle, eines der bekannteren Gesichter der Gilets Jaunes, spricht explizit von einem Ausweg aus der Krise, der weder „die Republik in Gefahr bringt“, noch „den Staat destabilisiert“. Étienne Chouard, Initiator der Idee, sieht ebenfalls die Vereinbarkeit mit den bestehenden Verfassungsorganen als Vorteil an. Er betont, dass das RIC „keine direkte Demokratie“ darstellen soll, sondern ein „wahrhaft demokratisches Werkzeug innerhalb einer repräsentativen Regierung“.
Und abseits von Macrons Regierungspartei finden sich in fast allen Lagern Unterstützer*innen von Referenden in der einen oder anderen Variante, inklusive Mélenchon und Le Pen. Schon das allein zeigt, dass das RIC eigentlich nicht der Radikalität der Gelbwesten-Bewegung und ihrem Potenzial entspricht. So scheint es sehr wahrscheinlich, dass letztendlich eine begrenzte Variante umgesetzt würde, bei der nur über einfache Gesetze abgestimmt werden kann, nicht aber über Fragen der Verfassung oder der staatlichen Struktur.
Doch selbst wenn eine weitreichendere Variante verabschiedet würde, müsste sie sich dennoch im engen Korsett der bestehenden Strukturen befinden. Würden die dezeitigen Institutionen des Staates tatsächlich Abstimmungen zulassen und umsetzen, die zum Beispiel eine drastische Senkung der Abgeordneten-Gehälter oder eine Beschränkung der präsidialen Macht beinhalten? Nicht mal an ihr eigenes Referendum hat die französische Regierung sich gehalten, als 2005 die Mehrheit der Wahlberechtigten die neue EU-Verfassung ablehnte!
Solange das Amt des Präsidenten, die beiden Parlaments-Kammern und die bürgerliche Justiz an Ort und Stelle bleiben, werden sie immer einen Weg finden, Abstimmungen und Ergebnisse im Sinne der Bourgeoisie zu drehen. Denn wie in jedem kapitalistischen Land ist auch der französische Staat ein Klassenstaat, neutrale Fassade hin oder her.
Den Klassencharakter des Staates offenlegen
Wer wirklich mehr Demokratie will, muss also mindestens die bestehenden parlamentarischen Formen in Frage stellen. Doch der französische Staat kann auch deshalb nicht ernsthaft auf die Forderungen der Gelbwesten eingehen, weil dies die Profite der französischen Konzerne gefährden und damit die Konkurrenzfähigkeit der französischen Bourgeoisie in Frage stellen würde.
Anstatt dieser Bourgeoisie das Ruder zu überlassen, treten wir Revolutionär*innen für eine radikale Massendemokratie der Ausgebeuteten in Form von Räten ein, die über alle politischen und wirtschaftlichen Fragen entscheiden. Das setzt jedoch eine Enteignung und Verstaatlichung aller großen Unternehmen voraus. Da dies nicht ohne Widerstand der Kapitalist*innen und ihres Staates vonstattengehen kann, braucht es einen revolutionären Aufstand und zu dessen Durchführung eine revolutionäre Partei, in der sich alle Arbeiter*innen organisieren, die die Notwendigkeit dieses Aufstand sehen.
Es ist die Aufgabe von Revolutionär*innen, für den Aufbau einer solchen Partei zu kämpfen und das notwendige Bewusstsein unter Arbeiter*innen zu schaffen. Doch solange noch ein reformistisches Bewusstsein und Hoffnungen in die parlamentarische Demokratie vorherrschen, ist es ebenfalls notwendig, die Erfahrungen der Massen mit dem bürgerlichen Staat zu vertiefen und an ihre Grenzen zu treiben.
Offensichtlich ist das heutige Bewusstsein der meisten Gelbwesten kein proletarisch-revolutionäres, sondern bestenfalls ein radikal-demokratisches. Das zeigt sich an den aufgestellten Forderungen, wie auch an ihrem zwiegespaltenen Verhältnis gegenüber den Gewerkschaften und der radikalen Linken. Auch wenn in der Bewegung immer wieder von Revolte und Revolution die Rede ist und Bezug auf 1789 und 1968 genommen wird, so stellen sich doch alle Demonstrierenden ganz unterschiedliche Dinge unter einer Revolution vor.
Der Kampf für radikal-demokratische Programmpunkte ist nicht getrennt von Revolution und Parteiaufbau, sondern verbunden mit dem Hegemonieanspruch der proletarischen Avantgarde, die sich in Anführung der Massen organisiert und ausweitet. Wir machen diese Vorschläge also nicht in einem Etappengeist, dass erst die demokratische und dann die sozialistische Phase einer Bewegung kommen muss, sondern eben um einen Übergang zu erreichen – was auch bedeutet, dass diese Forderungen mit den Mitteln der Arbeiter*innenklasse durchzusetzen sind, insbesondere dem Generalstreik.
Ein einziges Parlament
Welche Forderungen können also – im Rahmen dieser radikalen aber nicht revolutionären Bewegung – aufgestellt und bestenfalls erreicht werden, die die Erfahrungen mit den Unzulänglichkeiten der bürgerlichen Demokratie vertiefen? Die Abschaffung aller unnötigen Organe und Institutionen, die nur der Sicherheit der herrschenden Klasse dienen! Also weg mit der zweiten Kammer und den Vorrechten des Präsidenten, um stattdessen eine einzige Versammlung zu bilden, die viel direkter an den demokratischen Willen der Mehrheit gebunden ist, als bisher! So, wie es Revolutionär*innen schon 1934 für Frankreich vorschlugen:
„Nieder mit der Präsidentenschaft der Republik, die als Versteck für die konzentrierten Kräfte von Militarismus und Reaktion dient! Eine einzige Versammlung muss die legislative und die exekutive Gewalt verbinden. Die Mitglieder sollen für zwei Jahre durch allgemeines Stimmrecht ab 18 Jahren, ohne Diskriminierung von Geschlecht oder Nationalität, gewählt werden. Die Abgeordneten sollen auf der Basis örtlicher Versammlungen gewählt werden, jederzeit durch ihre Wähler abberufbar sein und das Gehalt eines Facharbeiters erhalten.“
85 Jahre später können wir hier und da Ergänzungen vornehmen, wie eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre oder eine verpflichtende Offenlegung und Begrenzung von Nebeneinkünften der Abgeordneten. Doch die grundlegenden Ideen haben auch heute Bestand: Während das Parlament bisher für eine tendenziell reiche und privilegierte Kaste von Politiker*innen zugeschnitten ist, sollten Abgeordnete nur ein einfaches Gehalt bekommen. Ein Sitz im Parlament darf kein Karriere-Vehikel sein. Stattdessen muss eine schnelle Abwahl derjenigen möglich sein, die gegen die Interessen ihrer Wähler*innen agieren. Und statt einer entkoppelten Regierung freie Hand zu lassen, müssen alle Fragen im Parlament diskutiert und beschlossen werden.
Eine verfassungsgebende Versammlung, die ein Weg wäre, solche strukturellen Änderungen auszuarbeiten und umzusetzen, taucht ebenfalls in einigen Forderungskatalogen der Gelbwesten auf. Diese wäre per Definition weiterreichender als die Idee des RIC, da sie den Willen zur Veränderung der Verfassung und ihrer Institutionen voraussetzt. Doch entscheidender als die Forderung nach einer solchen Versammlung ist die Frage, welche Veränderungen der staatlichen Organe angestrebt werden. Wie sähen demokratischere Strukturen innerhalb der bürgerlichen Demokratie aus? Wenn es darüber Einigkeit in der Bewegung gäbe und sie tatsächlich stark genug wäre, der Bourgeoisie diese Zugeständnisse abzuringen, dann wird sich der konkrete Weg dorthin schon ergeben.
Ein Ein-Kammer-Parlament mit direkter Rechenschaft der Abgeordneten gegenüber ihren Wähler*innen, würde sowohl den demokratischen Einfluss der Arbeiter*innenklasse erhöhen, als auch die Grenzen des Parlamentarismus noch deutlicher aufzeigen. Dies ginge außerdem Hand in Hand mit sozialen Forderungen wie der drastischen Verkürzung der Arbeitszeit – um einerseits die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und andererseits allen Arbeiter*innen mehr Zeit für die Beteiligung am politischen Prozess zu geben. Die radikale Bewegung der Gelbwesten wird zwar nicht in eine sozialistische Revolution münden. Sie hat aber durchaus das Potenzial, erhebliche Verbesserungen für alle Arbeiter*innen zu erkämpfen und der gesamten Klasse zu wichtigen neuen Erfahrungen zu verhelfen.