Drei Jahre O-Platz

14.10.2015, Lesezeit 9 Min.
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// REFUGEES: Am 6. Oktober jährte sich die Besetzung des Berliner Oranienplatzes durch die Refugee-Bewegung zum dritten Mal. In Zeiten der „Flüchtlingskrise“ und des rassistischen Terrors ist es überlebensnotwendig, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. //

Die Besetzung des Berliner Oranienplatzes am 6. Oktober 2012 stellte gemeinsam mit dem „March for Freedom“ von Würzburg in die Hauptstadt eine der ersten wichtigen Mobilisierungen der neu aufkommenden Bewegung der Geflüchteten dar. Danach hatte sich der Platz in ein Symbol verwandelt: Als ständiger Ausgangspunkt von Demonstrationen war der dauerhaft besetzte „O-Platz“ ein Ort des Kampfes, der Organisierung und der Zusammenführung der Geflüchtetenbewegung.

Doch seit der Räumung des Protestcamps am 8. April letzten Jahres gehen immer weniger Protestaktionen von ihm aus. Der „O-Platz“ ist ein Spiegelbild der Bewegung, die sich – geschwächt, isoliert und gespalten – in der Defensive befindet. Gleichzeitig entsteht eine neue Welle der Solidarität aus der Bevölkerung, die sich in zahlreichen „Willkommensinitiativen“ ausdrückt.

Kämpferische Bewegung

Die Refugee-Bewegung war über die letzten drei Jahren hinweg die dynamischste demokratische Bewegung in der BRD. Im ganzen Land fanden Protestmärsche statt, die für viele den Bruch der Residenzpflicht beinhalteten, außerdem Hungerstreiks, Platzbesetzungen und Großdemonstrationen.

Eine neue Generation von Aktivist*innen erwuchs aus diesen Kämpfen. Ein wichtiger Ausdruck breiter Solidarität mit den Refugees oder Non-Citizens waren Schul- und Unistreiks. Tausende Jugendliche bestreikten solidarisch ihre Bildungsanstalten für die demokratischen Rechte von Menschen ohne festen Aufenthaltsstatus.

Nichtsdestotrotz klaffte eine Lücke zwischen den demokratischen Forderungen der Bewegung – nach Abschaffung aller Lager, Stopp der Abschiebungen, Bleiberecht für alle und Arbeits-, Bildungs- und Bewegungsfreiheit – und den realen Ergebnissen. Tatsächlich konnten die Bundes- und die verschiedenen Landesregierungen die Bewegung meist mit aller Härte angreifen und ihre Forderungen ignorieren. Zum Anderen nutzten sie die prekäre Situation der Geflüchteten aus und machten magere Versprechen, die sie schließlich nie einhielten, um die Bewegung zu spalten.

Die fehlenden materiellen Erfolge und die enorm schwierige Situation der Geflüchteten führten zu einer Demoralisierung. Mehrere Kämpfer*innen wurden abgeschoben. Die oft radikalen, aber verzweifelten Kampfmaßnahmen offenbarten dabei die strategische Sackgasse, in der sich die Bewegung befand: Ihr war es nicht möglich, die nötige soziale Unterstützung zu gewinnen, um ihre Forderungen gegenüber einer kompromisslosen Regierung durchzubringen.

„Willkommenskultur“ und Repression

Dieses Bild der kompromisslosen und repressiven Regierung widerspricht dem Diskurs der herrschenden Klasse nach den rassistischen Ausschreitungen in Heidenau. Die Merkel-Regierung schmückte sich mit Heuchelei von einer „Willkommenskultur“, der seinen Gipfel am 5. September in der temporären Grenzöffnung für die in Ungarn gefangenen Geflüchteten fand. Parallel gründeten sich im ganzen Land „Willkommensinitiativen“, die die materielle Unterstützung organisierten, die eigentlich vom Staat kommen müsste, der mehr als genug Geld sowohl für Kommunen als auch für Geflüchtete hätte, wenn er wollte. Die Initiativen richteten sich aber nicht gegen diese Instrumentalisierung, geschweige denn gegen die rassistische Politik der deutschen Regierung insgesamt.

Viel schwerwiegender ist jedoch, dass diese angebliche „Willkommenskultur“ die harten Kämpfe der letzten Jahre, in denen hunderte Refugee-Aktivist*innen zu Subjekten ihres eigenen Kampfes wurden, negiert und die Geflüchteten wieder zu bittstellenden Objekten degradiert, die für jeden Brotkrumen „dankbar“ zu sein hätten. Nicht umsonst kritisierte Innenminister Thomas de Maizière die Geflüchteten scharf: „Sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln in Asylbewerbereinrichtungen“ – während die Lager vollkomen überfüllt sind, sanitäre Einrichtungen und Toiletten nicht ausreichen, das Personal überfordert und oft rassistsich und das Essen schlecht ist.

Die „Willkommenskultur“ hielt nicht lange: Als Reaktion auf die immer stärkere Ablehnung von Merkels Kurs innerhalb der Unionsparteien wurde ein brutales Gesetzespaket geschnürt, das die Lebensbedingungen für die Geflüchteten bis aufs Äußerste angreift, Abschiebungen beschleunigt und das Asylrecht weiter eingrenzt. Einige bürgerliche Politiker*innen fordern aktuell die Aussetzung des Mindestlohns für Geflüchtete. Die bürgerlichen Geier wollen unter dem Label der „Humanität“ Migrant*innen als billige Arbeitskräfte überausbeuten.

Doch selbst das ist den rechten Teilen in- und außerhalb der Regierung nicht genug. Befeuert durch die rassistischen Töne aus der Großen Koalition konnten die montäglichen Pegida-Demonstrationen in den letzten Wochen immer wieder zwischen 5.000 und 8.000 Teilnehmer*innen vermelden. Auch die nun offen als politischer Arm der rechten Szene auftretende Alternative für Deutschland (AfD) brachte zu einer Demonstration gegen das Asylrecht und Geflüchtete in Erfurt 5.000 Personen auf die Straße. Unterdessen lassen die rassistischen Gewalttaten, die ungestraft im gesamten Bundesgebiet begangen werden, nicht nach.

Strategische Debatte

Doch wie kann die Geflüchtetenbewegung die rassistischen Asylgesetze zurückschlagen und volle demokratische und soziale Rechte erlangen? Diese Frage geht weit über die – sicherlich notwendige und zu begrüßende – Hilfsbereitschaft der „Willkommensinitiativen“ hinaus. Sie behandelt die strategische Aufgabe, eine selbstbewusste Bewegung von Geflüchteten, linken Gruppen, jugendlichen Aktivist*innen, Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen zu schaffen, die diese Rechte gegen die Regierung durchsetzt.

Der Jugend kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Sie kann die Kraft sein, die die Forderungen der Geflüchteten in die Bevölkerung hineinträgt. Komitees an Schulen und Universitäten müssen breite Sektoren für diesen Kampf gewinnen. Das gilt für die Organisierung von materieller Hilfe in Form von Kleidung, Unterkunft, Essen und Trinken, wie es schon vielerorts geschieht, bis hin zur Öffnung der Schulen und Universitäten für alle Refugees. Auch die organisierte Selbstverteidigung von Linken und Migrant*innen gegen Nazis steht längst auf der Tagesordnung.

In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass eine Solidarität, die sich auf humanitäre Hilfeleistungen beschränkt, nicht zur Abschaffung der rassistischen Gesetze führt. Die Grenzen des parlamentarischen Wegs, der letztlich auf das Wohlwollen bürgerlicher Regierungen setzt, beweist die Linkspartei in Thüringen. Auch wenn sie den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow stellt, hat sie – abgesehen von minimalen Maßnahmen wie dem Winter-Abschiebestopp – keine Verbesserungen für die Lebensbedingungen der Geflüchteten durchgesetzt. Im Gegenteil verzichtete Ramelow bei dem Bund-Länder-Gipfel sogar auf eine Gegenstimme zur Asylgesetzverschärfung, die in diesem Monat durch Bundestag und Bundesrat – mit Unterstützung der Grünen – verabschiedet wird. Und seit Frühling schiebt er ungehört von der linken Öffentlichkeit wieder selbst ab.

Demgegenüber bedarf es einer mächtigen sozialen Unterstützung von der Mehrheit der Bevölkerung, der Arbeiter*innenklasse, die auf der Straße und in den Betrieben mobilisiert.

Geflüchtete und Gewerkschaften

Jedoch machen die Gewerkschaften bisher keine ernsthaften Anstalten, den status quo zu verändern. Sie begnügen sich mit Spenden, statt die Geflüchteten als Mitglieder aufzunehmen und gegen das Arbeitsverbot zu kämpfen. Die Gewerkschaftsbürokrat*innen stellen sich, wie aus Sozialpartnerschaft und Standortlogik gegenüber den eigenen Mitgliedern nur zu gut bekannt, auf die Seite des bürgerlichen Staates gegen die unterdrücktesten Teile der Arbeiter*innenklasse: Die Räumung der Geflüchteten aus dem Berliner Gewerkschaftshaus mit polizeilicher Gewalt jährt sich im Oktober 2015 zum ersten Mal. Mehrere Geflüchtete wurden dabei verletzt und von der Bürokratie selbst angezeigt, obwohl sie nur politische Unterstützung und das Recht auf Mitgliedschaft in einer DGB-Gewerkschaft gefordert hatten.

Außerdem produziert die Ausweitung der Prekarisierung rassistische Spaltungen innerhalb der Arbeiter*innenklasse. Menschen ohne Bleiberecht sind oft gezwungen, unter miserablen Bedingungen „illegalisiert“ zu arbeiten, da sie von Arbeitsverboten betroffen sind. Eben daher gehören sie zum „untersten und entrechteten“ Teil der Arbeiter*innenklasse, wie kämpferische Geflüchtete auf der Pressekonferenz im Berliner DGB-Haus letztes Jahr feststellten. Die Spaltungspolitik dient nur den Kapitalist*innen, die ihre Gewinnrate erhöhen und sich schelmisch über den Rassismus freuen.

Um die Geflüchteten in die Gewerkschaften aufzunehmen, um gemeinsam für volle demokratische und soziale Rechte sowie für das Ende der Prekarisierung zu kämpfen, muss sich in den Gewerkschaften eine klassenkämpferische Bewegung gegen die bürokratischen Führungen formieren. Diese Perspektive ist nicht abgetrennt vom Rest der Gewerkschaftskämpfe, denn auch die Arbeiter*innen bei der Post, im Sozial- und Erziehungsdienst oder bei Opel Bochum wissen wie es ist, von der „eigenen“ Bürokratie verkauft zu werden.

Nur eine solche Perspektive der Mobilisierung der Arbeiter*innen, Jugendlichen und Geflüchteten mit einer anti-imperialistischen und anti-kapitalistischen Perspektive kann den Kampf gegen die Regierung mit ihren rassistischen Gesetzen aufnehmen. Der Imperialismus verspricht nur Kriege und Barbarei für die Menschheit. Eine breite anti-imperialistische Kampagne gegen die Militärinterventionen und Waffenexporte ist von zentraler Bedeutung, um gegen die Kriege die internationalistische Einheit der Arbeiter*innen und Unterdrückten aller Länder zu verwirklichen.

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