Die Verwandlung des größten Antikriegsromans aller Zeiten in bürgerliche Propaganda
„Im Westen nichts Neues” wurde mit vier Oscars ausgezeichnet, und es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Die Inszenierung – die die Schrecken des Ersten Weltkriegs zeigt – ist spektakulär. Doch die Produzent:innen haben den Roman von Erich Maria Remarque überhaupt nicht verstanden. Achtung: Es folgen Spoiler!
Der Netflix-Film „Im Westen nichts Neues“ beginnt mit einer eindrucksvollen fünfminütigen Eröffnungssequenz: In der französischen Landschaft muss ein deutscher Soldat, der nur als Heinrich bekannt ist, aus seinem Schützengraben klettern und gegen Gewehrfeuer und Mörser auf den Feind zustürmen. Während seine Kameraden links und rechts fallen, sehen wir nicht einmal, was mit dem gesichtslosen jungen Mann geschieht. Nach dem Titel sehen wir Heinrich auf einem Haufen von Leichen. Dann folgt die Kamera seiner Uniform: Sie wird gereinigt, repariert und nach Deutschland zurückgeschickt, um dann sofort an die nächste Welle von Rekruten weitergegeben zu werden.
Diese Darstellung der Kriegsmaschinerie, der das Schicksal des Einzelnen völlig gleichgültig ist, trifft den Geist des Romans von Erich Maria Remarque aus dem Jahr 1928 perfekt. Der 17-jährige Paul Bäumer und seine Freunde melden sich, geblendet von der nationalistischen Propaganda ihrer Lehrer, freiwillig für den Krieg. An der Front erleben sie Langeweile, Terror und die absolute Sinnlosigkeit des Gemetzels. Die letzte Seite des Buches enthält die Moral (heute würde man wohl sagen: „die Wendung”): An dem Tag, an dem Paul getötet wird, steht im Tagesbericht des Generalstabs nur: „Im Westen nichts Neues.“
Leider hört der Film nach dieser brillanten Einleitung nicht auf. Er geht noch zweieinhalb Stunden weiter. Die spektakuläre Inszenierung fängt die Schrecken des Krieges mit überwältigender Gewalt und auch kleinen Details ein: Wenn ein schlammbedeckter Soldat in eine Pfütze tritt, ist das aufspritzende Wasser dunkelrot und verrät, dass es sich um Blutlachen handelt. Der sehr moderne Soundtrack beschwört das Grauen herauf. Und Albrecht Schuch ist der beste deutsche Schauspieler.
Obwohl viele der Figuren dieselben wie im Roman sind – wir treffen Paul, Frantz, Kat, Tjaden und so weiter – haben die Filmemacher beschlossen, die Geschichte zu „verbessern“ und sie bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Wir sollen den Krieg aus der Perspektive der einzelnen Soldaten sehen. All ihr Leid ist „nichts Neues“. Aber der Film spielt in den letzten Tagen des Krieges, und die Schlachtszenen werden mit den Waffenstillstandsverhandlungen vermischt. In den Szenen der hohen Politik kommen sowohl echte historische Figuren wie der konservative Politiker Matthias Erzberger als auch fiktive zusammengesetzte Figuren wie der General Friedrich vor.
Wahrscheinlich sollte damit ein historischer Kontext für ein Publikum geschaffen werden, das sich im Gegensatz zu Remarques Leser:innen nicht mehr so gut an die Ereignisse von 1918 erinnern wird. Aber durch diese Änderung sind Pauls Mühen nicht mehr in der endlosen Plackerei der Grabenkämpfe angesiedelt. Nein, die Geschichte spielt jetzt im folgenreichsten Moment des Krieges.
Wie ist der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen? Netflix möchte uns glauben machen, dass dies dank der Tapferkeit von Konservativen wie Erzberger geschah, der die Generäle anflehte, das Gemetzel zu beenden: „Über 40.000 Tote allein in den letzten Wochen”, verkündet er seufzend. In Wirklichkeit aber war Erzberger jahrelang ein begeisterter Befürworter des Gemetzels – er setzte sich persönlich für die deutschen Annexionen ein. Erst 1917, nachdem die USA in den Krieg eingetreten waren, erkannte er, dass Deutschland keine Chance auf einen Sieg hatte. Mit anderen Worten: Erzberger war einfach ein pragmatischer Imperialist und Chauvinist. Er war für Massenschlachten, solange es eine realistische Möglichkeit gab, dass das deutsche Kapital davon profitieren würde – und er wollte Frieden, sobald sich das Kräfteverhältnis gegen seine Seite wandte. Kein Wunder, dass die liberalen Bürgerlichen von heute ihn lieben.
In diesem Film wird nicht erwähnt, was den Krieg tatsächlich beendete: die Novemberrevolution. Eine massive Arbeiter:innenrevolution begann mit einem Matrosenaufstand am 4. November 1918 und breitete sich schnell über ganz Deutschland aus. In diesem Film wird kurz erwähnt, dass der Kaiser abdankte, aber es wird nicht erklärt, was Wilhelm II. dazu veranlasste. Am 9. November wurde das kaiserliche Palais in Berlin während eines Generalstreiks und Aufstands von Hunderttausenden von Arbeiter:innen umstellt. Der revolutionäre Eifer erschütterte die gesamte Armee und Marine. Der stundenlange Film verweist darauf in einer einzigen Zeile über „Soldaten, die sich weigern, Befehle zu befolgen.“
Das neue Ende der Geschichte ist bizarr. Stunden bevor der Waffenstillstand in Kraft tritt, befiehlt General Friedrich dem Soldaten Paul und seinem Regiment, die französischen Linien anzugreifen. Dies ist ein Fall von gefährlichem Halbwissen: Ein Netflix-Autor muss von einer echten historischen Begebenheit gehört haben, ohne sie ganz zu verstehen. Als Ende Oktober 1918 das Kriegsende in Sicht war, befahl das Oberkommando der deutschen Marine rund 80.000 Matrosen, zu einer letzten – und aussichtslosen – Schlacht gegen die britische Flotte in See zu stechen. Was dann geschah, ist entscheidend: Die Matrosen weigerten sich. Sie verhafteten ihre Offiziere und hissten rote Flaggen auf ihren Schiffen. Dieses Ereignis, das als Kieler Matrosenmeuterei bekannt wurde, war der Beginn der Revolution.
Die Offiziere wussten sehr wohl von der Kriegsmüdigkeit. Im Film erfahren wir, dass der Chef des Oberkommandos des deutschen Heeres, Paul von Hindenburg, Erzberger drängte, die Kapitulation zu unterzeichnen. Aber warum? Der Film bietet keine Erklärung. In seinen Memoiren erinnert sich Hindenburg daran, dass ihm Ende September gesagt wurde, dass in Deutschland „die Revolution vor der Tür steht“, wenn der Krieg weitergeht.
Wenn wir uns eine Situation vorstellen, wie sie der Film am Ende darstellt, in der Paul und seine Kameraden in den letzten Minuten des Krieges zu einem selbstmörderischen und sinnlosen Angriff gezwungen werden, können wir ziemlich sicher sein, was passiert wäre. Die Soldaten hätten ihre Waffen genommen und den General erschossen, bevor sie sich auf den Heimweg gemacht hätten, um für eine Revolution zu kämpfen und die Verantwortlichen für dieses unvorstellbare Gemetzel loszuwerden. Stattdessen will Regisseur Edward Berger uns glauben machen, dass Paul auf Kommando weiter morden würde – der Krieg hat ihn offenbar in einen mörderischen Psychopathen verwandelt, der zu nichts anderem mehr fähig ist als zu Angriffen auf französische Soldaten. Während der Roman wollte, dass wir uns in seinen Jedermann-Helden einfühlen, macht der Schluss des Films dies unmöglich.
In einer Zeit, in der die Grabenkämpfe nach Europa zurückgekehrt sind, ist „Im Westen nichts Neues“ so aktuell wie schon lange nicht mehr. Aber die Pointe des Buches ist, dass Soldaten keine hirnlosen Automaten sind, die dazu verdammt sind, zu leiden, zu töten und zu sterben, bis liberale oder konservative Politiker:innen den Tag retten. Das Gegenteil ist der Fall: Soldat:innen und die Arbeiter:innenklasse im Allgemeinen können das kapitalistische Gemetzel beenden und eine neue Welt schaffen. Ich lese gerade die hervorragende Autobiographie von Fritz Zikelsky, der im Ersten Weltkrieg zur deutschen Armee eingezogen wurde. Er beschreibt die gleichen Schrecken – aber auch, wie sich die Truppen zunehmend gegen ihre Offiziere wehrten, bis sie sie schließlich entwaffneten. Diese Art von realer Geschichte ist das, was wir auf der Kinoleinwand brauchen. Aber ich würde das nicht von Netflix erwarten.