„Die Verbindung zwischen Arbeitsrecht, Prekarität und Migration ist politisch gewollt“

31.07.2021, Lesezeit 15 Min.
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Ana Cárdenas Tomažič im Gespräch mit KGK über das deutsche Arbeits- und Migrationsregime, anlässlich des Gorillas-Streiks.

Ana Cárdenas Tomažič ist Arbeitssoziologin mit den Schwerpunkten Arbeitsmärkte, soziale Ungleichheiten, Globalisierung, Gender and Intersectionality Studies sowie soziale Bewegungen.

KGK: Der Aufhänger unserer Magazin-Ausgabe ist der Gorillas-Streik. Es gibt zwei Merkmale des Konzepts des Lieferdienstes Gorillas, auf die ich eingehen möchte: Das erste ist der migrantische Charakter der Arbeit, die gezielt aus Ländern importiert wird, aus denen Arbeitsvisa für eine befristete Zeit für Deutschland ausgestellt werden. Zum Beispiel erlauben Arbeitsvisa aus Argentinien, die für die Arbeit bei Gorillas verwendet werden, nur für ein halbes Jahr die Arbeit beim gleichen Arbeitgeber. Was jetzt passiert ist und worüber wir bei Klasse gegen Klasse geschrieben haben: Weil Arbeiter:innen keine gültigen Arbeitsvisa mehr haben, wurden sie von Gorillas plötzlich ohne Vorwarnung entlassen. Das ist mit dem zweiten Merkmal verbunden, der besonderen Prekarität dieser Arbeit, die Teil des Geschäftskonzepts ist, zum Beispiel mit einem halben Jahr Probezeit, wogegen auch gestreikt wird. Das Arbeits- und das Migrationsregime sind in diesem prekären Geschäftskonzept sehr eng verwoben.

Ana Cárdenas Tomažič: Das ist eine sehr interessante Anmerkung, die ihr in Bezug auf die Plattform-Ökonomie machen wollt. Man könnte nämlich genau das Gegenteil hinsichtlich der Entwicklung der Plattform-Ökonomie und der Migrationsregimes annehmen, da die Plattform-Ökonomie den Firmen erlaubt, sowohl die Arbeitsbereitschaft als auch die Arbeitsleistung weltweit zu organisieren – also gar keine Migrationsprozesse in Gang setzt oder vorantreibt. Aber Gorillas ist nun eine Entwicklung genau in die andere Richtung. Letztlich ist es die Digitalisierung der Wirtschaft, die den Firmen ganz neue Möglichkeiten gegeben hat, in Bezug auf die Art und Weise, wie sie die Arbeitsbereitschaft sichern können, basierend auf der staatlichen Regulierung der Migrationsprozesse; und zweitens, wie sie auch die Arbeitsprozesse organisieren können.

Sie sind weiterhin von den nationalen Arbeitsmärkten abhängig, da sowohl das Migrationsregime als auch die Arbeitsmärkte weiterhin national verankert sind. Es ist die politische Regulierung von Arbeit beziehungsweise der Arbeitsbereitschaft migrantischer Arbeiter:innen, welche Gorillas erst den Zugang zu dieser Arbeitskraft ermöglichen. In Anlehnung an die marxistische Tradition verstehe ich hier die politische Regulierung von Arbeit im Zusammenhang mit dem sogenannten „staatlichen Transformationsproblem“: Die Transformation von potenziell zur Verfügung stehender Arbeitskraft zur tatsächlich verfügbaren Arbeitskraft am Arbeitsmarkt. In diesem Sinne zielt die Arbeitsmarktpolitik auf die Sicherung von Arbeitsbereitschaft und damit das Arbeitsangebot innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft. Im Falle Gorillas wird dann das politisch regulierte Migrationsregime ausgenutzt, um migrantische Arbeiter:innen in Deutschland zur Verfügung zu haben. Dieses Beispiel zeigt, dass es trotz der Deterritorialisierung von Arbeit bestimmte Arbeitsleistungen gibt, die vor Ort geleistet werden müssen. Und dafür müssen Arbeitskräfte importiert werden.

KGK: Das Visaregime gab es ja schon vorher. Es wurde nicht von Gorillas erfunden…

ACT: …nein, aber sie benutzen es…

KGK: …genau. Das Konzept von Gorillas ist auch, dass die prekäre Service-Arbeit keine festen gewerkschaftlichen und betrieblichen Strukturen entwickeln soll. Dazu wird auch ein studentischer Sektor zur Arbeit herangezogen, ergänzend zum migrantischen. Die langen Probezeiten in Kombination mit dem Visaregime dienen auch der Verhinderung von Organisierung. Die Visa-Arbeiter:innen sind zuerst in Probezeit, dann dürfen sie offiziell nicht mehr beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt sein, laut Visaregime.

ACT: Ja. Sonst bekämen sie aus arbeitsrechtlicher Perspektive weitere Rechte, zum Beispiel auf Weiterbeschäftigung. Und das sollen sie nicht.

KGK: Es geht bei Gorillas vor allem um das, was die Kapitalseite „flexibel“ nennt. Also das Unterlaufen bestehenden Arbeitsrechts.

ACT: Aber eigentlich unterlaufen sie das Arbeitsrecht nicht. Sondern die Arbeitsbedingungen werden vom Migrationsregime und dessen Regulierungen rechtlich geschützt und auch so definiert. Sie bewegen sich im Rahmen dieses Regimes, auch wenn sie zeitweise einzelne Rechte überschreiten mögen. Wenn man den deutschen Niedriglohnsektor anschaut: Er ist sehr stark reguliert. Die Arbeitsbedingungen sind schlecht – aber legal reguliert. Und das ist ein wichtiger Punkt. Im Großen und Ganzen wird den Firmen der rechtliche Rahmen zur Flexibilisierung der Arbeit vom Staat angeboten.

KGK: Ich sehe deinen Punkt. Das Migrations- und Arbeitsregime in Deutschland ist eigentlich dafür gemacht, genau so etwas zu ermöglichen, wie Gorillas es macht.

ACT: Absolut. Aus einer kritischen Perspektive kann man sagen, diese Arbeitsbedingungen sind prekär. Aber sie sind insgesamt nicht illegal. Sie bewegen sich nicht im informellen Sektor, das ist ein wichtiger Unterschied zu vielen anderen Regionen der Welt. Sehr ähnliche Arbeitsverhältnisse werden anderswo nicht rechtlich definiert, sondern finden jenseits der Regulierung statt, mit Arbeiter:innen von vor Ort, die nicht importiert werden müssen. Dass so eine starke Verbindung zwischen Arbeitsrecht, Prekarität und Migration entstehen konnte, wurde politisch gewollt und auch so rechtlich reguliert, weil der deutsche Arbeitsmarkt so abhängig von den migrantischen Arbeiter:innen ist. Ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland ist weiterhin im Rahmen von sogenannten „Normalarbeitsverhältnissen“ beschäftigt. Darunter versteht man ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis, das in Vollzeit und unbefristet ausgeübt wird. Und das ist natürlich ein Problem für Firmen, erstens, weil sie billigere und flexiblere Arbeitsbedingungen brauchen, und zweitens, weil es Arbeitskräftemangel gibt.

Rassistische Disziplinierung, Wahlen und Kämpfe migrantischer Avantgardes

KGK: Ich finde die Richtung, in die du gehst, sehr interessant. Historisch gibt es den Begriff der „Unterschichtung“ durch migrantische Arbeit in niedrigen Lohnsektoren, besonders bezogen auf die sogenannte „Gastarbeiter“-Generation. Das damalige Arbeits- und Migrationsregime der „Gastarbeiterära“ wurde 1973 mit der Wirtschaftskrise und den Streiks beendet und hat neue Formen angenommen, aber die Unterschichtung hat sich als Phänomen fortgesetzt, mit einem komplexeren Migrationsregime, das die Arbeit national und sektoral aufteilt, reguliert und diszipliniert. Dazu kam das Erschaffen eines viel größeren Niedriglohnsektors als zuvor mit der Agenda-Politik der SPD in den 2000ern. Es gibt eine Kombination der sogenannten Agenda-Reformen, die den inländischen Arbeitsmarkt insgesamt im Lohn drückten, mit dem Regime der prekären migrantischen Arbeit.

ACT: Im Rahmen der Arbeitsmarktsoziologie wird auch der Begriff der „Arbeitsmarktsegregation“ verwendet. Damit ist die ungleiche Verteilung beziehungsweise Trennung der Erwerbsbevölkerung gemeint, basierend auf bestimmten Merkmalen wie Klasse, Geschlecht, Nationalität und Ethnizität, in den untersten Ebenen der Arbeitshierarchie innerhalb von Organisationen (vertikale Arbeitssegregation) sowie in bestimmten wirtschaftlichen Sektoren (horizontale Arbeitssegregation). Logischerweise sind segregierte Erwerbsgruppen deutlich stärker von schlechteren Arbeits- und damit Lebensbedingungen betroffen.

Das Migrationsregime spielt eine wichtige Rolle als Ergänzung zum durch die Hartz-Reformen geschaffenen Niedriglohnsektor. Dass man zu diesem Mittel greift, ist auch Resultat früherer Regulierungen des Arbeitsmarktes, die einen großen Teil der deutschen Bevölkerung noch stark schützen, während Migrant:innen zu weltweit eher “normalen“ Bedingungen arbeiten müssen. Man könnte von zwei Arbeitsnormalitäten sprechen, zumal laut der internationalen Arbeitsorganisation ILO weltweit mehr als 60 Prozent in „informellen Erwerbsverhältnissen“ arbeiten.

Um für einen Teil der deutschen Bevölkerung die Arbeitsbedingungen noch erhalten zu können – und das sind auch die Arbeitsbedingungen der Wähler:innen! – werden die Arbeitsbedingungen der Migrant:innen immer prekärer. Man könnte als These formulieren: Weil Migrant:innen in Deutschland nicht wählen dürfen, hat das kaum politische Konsequenzen für diejenigen, die den deutschen Arbeitsmarkt regulieren. Das gleiche passiert auf EU-Ebene: Die Schengen-Arbeiter:innen sind Arbeiter:innen, aber keine Wähler:innen in Deutschland.

KGK: Aber es nützt den Arbeiter:innen mit deutschem Pass ja nicht unbedingt etwas, dass sie wählen dürfen.

ACT: Doch! Aus der Perspektive der Arbeiter:innen: Wenn deine Arbeitsbedingungen immer prekärer werden, kannst du über die Beteiligung am Wahlprozess – als eine der Möglichkeiten – dein Unwohlsein ausdrücken. Als migrantische Person kannst du das nicht tun, weil du kein Wahlrecht hast. Und dann musst du einfach im Rahmen der vorhandenen Bedingungen arbeiten.

Und wenn du dir in Deutschland die Perspektive der Profi-Politiker:innen anschaust: Sie achten sehr stark auf die Bevölkerung, die am meisten wählen geht. Und das sind die Älteren. Das gleiche kann man in Bezug auf die Arbeiter:innen argumentieren. Wenn du als Politiker:in Arbeitsmarktreformen einführst, musst du also genau hinschauen, wer von den negativen Konsequenzen eines „Reregulierungsprozesses“ besonders getroffen wird, wer im Niedriglohnsektor erwerbstätig ist. Und dann wirst du merken, das sind meist Personen mit Migrationshintergrund, meist mit einem sehr niedrigen Bildungsniveau, zum Teil auch Frauen, die viele Jahre nicht erwerbstätig waren oder merken, dass ihre Rente einfach nicht reicht.

Arbeiter:innen ohne deutschen Pass können ihr Unwohlsein per Protest auf der Straße ausdrücken. Aber wenn du keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hast, wirst du dich kaum an solchen Protesten beteiligen. Es ist also kein Zufall, dass gerade sie so stark von Prekarisierung betroffen sind.

KGK: Ja, der Kampf für ein verallgemeinertes Wahlrecht als demokratisches Recht für alle ist notwendig und wichtig, als Forderung teile ich das. Ich teile auch das Element deiner Analyse, dass ein bestimmter Teil der Arbeiter:innenklasse besonders unterdrückt und entrechtet wird, der migrantisch, weiblich und prekär ist. Aber ich habe ein Bedenken, was deine These zu den Wahlen angeht. Ein Beispiel: Die Arbeiter:innen mit dem deutschen Pass haben ja die Schröder-Regierung gewählt, weil sie unzufrieden waren mit der Kohl-Regierung – und dafür haben sie Hartz IV bekommen…

ACT: …aber da haben sie sich geirrt!…

KGK: …ja, aber dann haben sie zum Beispiel in Berlin die Rot-Rot-Grüne Regierung gewählt. Sie haben sie nicht gewählt, damit sie zehntausende Wohnungen privatisiert und im Gesundheitssystem Outsourcing betreibt. Also ist doch schon die Frage: Was sollen denn die Wähler:innen mit ihrer Stimme tun? Sie können dann die reformistischen Parteien wählen, von denen sie betrogen werden.

ACT: Ja, aber das ist ein anderer Punkt. Wenn man das Szenario, von dem wir sprechen, genauer verstehen möchte, muss man sich ansehen, wer davon am meisten betroffen ist. Und dann ist es kein Zufall, dass es die Arbeiter:innen ohne unbefristete Aufenthaltserlaubnis am meisten trifft. Und selbst wenn du sie hast, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft, kannst du dich nicht am politischen Wahlprozess beteiligen. Das ist eine Sache.

Das andere Argument, das du gerade eingebracht hast, stimmt: Deutsche Arbeiter:innen dürfen wählen gehen, aber sie haben schlechte Alternativen im Angebot. Sie bieten ihnen nichts, zumindest keine politische Alternative, die zu einer gerechteren Gesellschaft führen würde.. Aber trotzdem können sie langfristig durch ihre Wahlbeteiligung ihr Unwohlsein ausdrücken. Wenn sie es nicht per Wahlbeteiligung tun, dann durch Proteste auf der Straße. Ohne gesicherten Aufenthalt hingegen riskierst du auf der Straße sehr viel.

KGK: Die Situation ist hier etwas widersprüchlich. Einmal, das Migrationsregime dient immer auch zur Abschreckung und Disziplinierung, wie du sagst. Das tat es auch während der Streiks Anfang der 1970er, die oft in migrantischen Sektoren stattfanden und die einen Grund für das Ende der „Anwerbeabkommen“ bildeten. Auch schon viel früher gegenüber den polnischen Arbeiter:innen zu Anfang des letzten Jahrhunderts. So argumentierte bereits 1907 der Revolutionär Karl Liebknecht auf dem Essener Parteitag der SPD gegen die Ausweisung „Landesfremder“, noch ohne ein explizit antirassistisches Programm zu haben, einfach weil es eine Disziplinierung der Arbeiter:innenklasse war, ein „Damoklesschwert“, wie er es nannte.

Gleichzeitig gibt es immer wieder eine migrantische Avantgarde der Arbeiter:innen, die sich diesem Risiko bewusst stellt, in den 1970ern und in anderer Form auch heute. Die Gorillas-Arbeiter:innen sind zum Beispiel nur für eine bestimmte Zeit angestellt. Es gibt auch Leute, die sich sagen: „So einen Job finde ich auch bei Lieferando.“ Die Unterdrückten, auch oder gerade wenn sie besonders stark diszipliniert werden, können auch manchmal den anderen vorangehen in ihren Kämpfen.

ACT: Das stimmt. Klar kann man einen Streik riskieren, aber das Risiko ist größer als bei Arbeiter:innen mit deutschem Pass oder unbefristetem Aufenthalt. Es ist korrekt, das auch zu sagen: Trotzdem und auch deswegen gibt es diese Kämpfe.

Gewerkschaften, Bürokratie und der politische Charakter des Kampfes gegen Prekarisierung

KGK: Wir haben über Parteien, Wahlen und Kämpfe gesprochen. Aber ein entscheidender Faktor im Arbeitsregime sind auch die Gewerkschaftsbürokratien. Sie sind einmal direkt bei der Gesetzgebung beteiligt – über die SPD, in geringerem Maße auch über die Grünen und DIE LINKE –, darüber hinaus aber auch entscheidend durch ihre Rolle in der ganzen Sozialpartnerschaft.

Gehen wir wieder vom Beispiel Gorillas aus: Eine Forderung dieses „wilden“, das heißt nicht gewerkschaftlich genehmigten, Streiks ist gerade an die Gewerkschaften ver.di und NGG, den Streik zu legalisieren. Der Streik hat einen spontanen Charakter, der ihn ausmacht, der ihn aber auch hindert sich zu konsolidieren, sich zu verallgemeinern. Es gibt zusätzliche Repressionsmöglichkeiten, wenn ein Streik „wild“ ist, Entlassungen sind viel einfacher möglich. Außerdem braucht ein Streik Geld, weshalb es eine Kampagne für eine Streikkasse gibt.

Die Begründung der Bürokratie, sich trotz Solidaritätsbeteuerungen nicht in den Streik einzuschalten, ist – wie auch letztes Jahr beim „wilden“ Streik der Bornheimer Ernte-Arbeiter:innen –, in etwa: „Ja, wir können schon zu einem Streik aufrufen, wir würden ja gerne mit euch kämpfen, wenn ihr euch zuerst bei uns organisiert.“ Aber die Katze beißt sich hier in den Schwanz, denn das Migrationsregime führt ja gerade dazu, dass diese Sektoren nicht oder kaum organisiert sind.

ACT: Absolut. Im internationalen Vergleich, den sogenannten Varieties of Capitalism, wird Deutschland als eine koordinierte oder auch korporatistische Ökonomie verstanden. Und da spielen die Gewerkschaften eine sehr wichtige Rolle, weil sie letztlich die Arbeitskonflikte eindämmen, in Richtung formeller Verhandlungen führen und in konsensorientierte Praxen einbetten. Was du sagst, schildert das sehr gut: Die Gewerkschaften hier in Deutschland, besonders des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der DBB Beamtenbund und Tarifunion haben sich historisch viel stärker als in anderen Ländern so entwickelt, dass sie eine gewisse soziale Ordnung reproduzieren anstatt sie zu verändern. Sie haben sich auf die Erhaltung der Normalarbeitsverhältnisse konzentriert. Und damit hauptsächlich auf Arbeiter:innen ohne Migrationshintergrund, insbesondere nicht auf Visa-Arbeiter:innen. Das ist nicht das Klientel.

KGK: Früher sprach die DGB-Bürokratie vom „Inländerprimat“, als das Wording noch etwas ehrlicher war, gegenüber den „Gastarbeiter:innen“ hieß es „Deutsche zuerst“. Heute nennt man es politisch korrekt nicht mehr so, aber die chauvinistische Politik des Inländerprimats setzt sich fort.

Doch die Gewerkschaften sind nichts homogenes. Es gibt die Bürokratie, mit verschiedenen Ebenen, aber funktional vermittelt sie notwendigerweise zwischen den Klassen. Und gleichzeitig gibt es die Gewerkschaften auch weiterhin als Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse selbst. Die Gewerkschaften haben damit immer einen Doppelcharakter.

Meine politische Hypothese ist: Die Kämpfe prekärer Avantgardes, die regelmäßig migrantisch sind, können sich stärker gegen das politische Regime in Deutschland stellen, sie sind explosiver und können den Klassenkompromiss leichter konfrontieren, da sie nicht so eng mit ihm verwoben sind. Aber ihre Problematik ist, dass sie von den stärker sozialpartnerschaftlichen und strategisch sehr wichtigen Sektoren isoliert sind, wie Industrie oder Verkehr. Damit sie erfolgreich sind, müssen sie also mit diesen strategischen Sektoren verbunden werden – das muss bewusst geschaffen werden. Ein historisches Beispiel dafür ist der Streik von Pierburg in Neuss 1973, der von migrantischen Frauen der „Leichtlohngruppe“ gemeinsam mit deutschen Facharbeitern geführt und gewonnen wurde.

ACT: Die Kämpfe der Visa-Arbeiter:innen von Gorillas müssten sich zum Beispiel stärker mit anderen Sektoren der sogenannten Mittelschichten in Deutschland, und auch mit den prekarisierten, verbinden. Und es geht darum, wie man diesen Kampf auch rahmt, in Bezug auf ein Klassenbewusstsein.

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