Die Universität als Bastion im Klassenkampf
Der Marxismus wurde aus den Universitäten weitgehend vertrieben. Im Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse können wir ihn zurückbringen.
In Frankreich hat sich in den vergangenen Wochen ein vorrevolutionärer Moment entwickelt. Millionen von Menschen auf der Straße, gleichzeitige verlängerbare Streiks in mehreren strategischen Sektoren und eine Mischung aus Massivität, Radikalität und Spontaneität treffen auf eine unnachgiebige Regierung, die auf brutale Repression setzt. Während die Gewerkschaftsführungen der Intersyndicale die Bewegung mit aller Kraft zurückhalten und auf eine Verhandlungslösung drängen, ist in den letzten Wochen ein kraftvolles Bündnis zwischen der Arbeiter:innenbewegung und der Jugend entstanden. Am 23. März, dem vorletzten großen Streik- und Aktionstag, gingen in ganz Frankreich schätzungsweise eine halbe Million Studierende und Schüler:innen auf die Straße, davon allein 150.000 in Paris, und schlossen sich damit den Millionen Arbeiter:innen an, die gegen die Rentenreform protestieren oder streikten. 80 Schulen und Universitäten waren blockiert oder besetzt, um sie zu Stützpunkten der Bewegung gegen die Rentenreform zu machen.
Die mobilisierte Jugend in Frankreich kann einen Beitrag dazu leisten, der institutionellen Strategie der Gewerkschaftsführungen – die nur in die Niederlage führen kann – eine Alternative entgegenzusetzen, wenn sie sich mit den fortschrittlichsten Sektoren der Arbeiter:innenbewegung verbindet. Ausgehend von dieser aktuellen Situation wollen wir in diesem Artikel einen Blick auf das Potenzial einer Studierendenbewegung an der Seite der Arbeiter:innen werfen und uns die Frage stellen: Welche Rolle kann die Universität als eine Bastion im Klassenkampf spielen?
Der Aufbau materieller Kräfte als strategische Aufgabe
In Zeiten der Zuspitzung des Klassenkampfes werden strategische Probleme besonders akut: Welche Kräfte müssen wie eingesetzt werden, um dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen und ihn zu besiegen? In Frankreich ist dies aktuell ganz offensichtlich. Die französische Bourgeoisie will unter allen Umständen eine Rentenreform durchsetzen, gegen die sich Millionen Menschen zur Wehr setzen wollen. Nachdem Emmanuel Macron das Gesetz unterzeichnet hat, steht die Bewegung vor dem Scheideweg: Dialog mit Macron und wochenlanges Abwarten bis zum nächsten Aktionstag, wie es die Gewerkschaftsführungen vorschlagen? Oder Ausweitung der Streiks und Mobilisierungen in Richtung eines Generalstreiks, der nicht nur die Rentenreform zurückschlägt, sondern auch das Potenzial hat, die Regierung zu stürzen?
Die bremsende Rolle der Gewerkschaftsbürokratie zu überwinden, ist eine der zentralen Aufgaben der Bewegung heute. Aufgrund ihrer Vermittlungsstellung spielt sie die Rolle einer „materiellen Kraft“ (Clausewitz) der Bourgeoisie im Innern der Arbeiter:innenklasse. Sie verkörpert und verstärkt die Illusionen in die bürgerliche Demokratie. Um dieser „materiellen Kraft“ eine Alternative entgegenzusetzen, ist es nötig, die Selbstorganisation und Koordination der kämpfenden Sektoren auszuweiten und in Aktionskomitees für den Generalstreik zusammenzuführen. An der Seite der Avantgardesektoren der Arbeiter:innenklasse, die durch zum Teil schon mehrwöchige verlängerbare Streiks in strategischen Sektoren mit Besetzungen und Blockaden einen Führungsanspruch aufstellen, kann die Jugend in Frankreich heute eine große Rolle spielen – indem sie aufgrund ihrer Spontaneität und Radikalität die Intersyndicale unter Druck setzt und eine alternative Strategie der Vertiefung der Koordinierung und der Ausweitung des Kampfes gegen die Regierung auf größere Sektoren ausdrücken kann. Zwar wird die Radikalität auf den Straßen allein nicht ausreichen, um den Sieg herbeizuführen. Doch die Verbindung dieser Radikalität mit der Ausweitung des Streiks auf die gesamte Wirtschaft über die bereits mobilisierten Sektoren hinaus ist eine zentrale Aufgabe der Bewegung. Sie kann erreicht werden, sofern eine Massenbewegung der Studierenden aufgebaut wird, die an der Seite der Arbeiter:innen kämpft.
Eine revolutionäre Studierendenbewegung: eine strategische Wette
Warum hat die Studierendenbewegung dieses Potenzial? Dazu müssen wir zunächst einen Schritt zurückgehen. Trotz der offenbaren Diskreditierung von Emmanuel Macron, dessen autoritäre Durchsetzung der Rentenreform kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche ist, existiert in Frankreich wie in allen „westlichen“ Demokratien weiterhin eine starke bürgerliche Hegemonie mit großen Illusionen in den Parlamentarismus und die bürgerlichen Institutionen. Zwar hat die kapitalistische Krise für eine Schwächung der bürgerlichen Hegemonie gesorgt. Doch das komplexe Zusammenspiel von Konsens und Zwang (Gramsci) in den bürgerlichen Demokratien macht in einer Situation, in der reformistische Bürokratien weiterhin stark sind, eine Kombination von Taktiken notwendig, um aus der Defensive heraus Kräfte zu sammeln, um in die Offensive gehen zu können. Aus der Verteidigung gegen den antidemokratischen Angriff der Rentenreform kann sich – wenn die Arbeiter:innenklasse, angeführt von Revolutionär:innen, in der Lage ist, ihre „materiellen Kräfte und moralischen Kräfte“ zu sammeln und dabei zugleich die reformistischen Bürokratien zu überwinden – ein Gegenangriff entwickeln, der die Regierung stürzen kann. Wie Emilio Albamonte und Matías Maiello schreiben, ist dafür in Anlehnung an Antonio Gramsci und Leo Trotzki der Aufbau von Bastionen („Festungen“, „Schützengräben“) entscheidend. Also Positionen, an denen sich materielle und moralische Kräfte konzentrieren lassen, um mit diesen Kräften in den Klassenkampf zu intervenieren. Diese Bastionen bezeichnen nicht nur direkte Orte der Produktion und Zirkulation, sondern – insbesondere im Kontext des komplexen Szenarios der bürgerlichen Demokratien im Westen – auch Orte, die es ermöglichen, Kräfte zu sammeln, um die bürgerliche Hegemonie herauszufordern. Das können etwa Institutionen in Sport und Kultur sein oder eben Universitäten. Denn es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Klassenkampf nicht nur aus ökonomischen und politischen, sondern auch aus ideologischen Kämpfen besteht.
In diesem Kontext ist die Konzentration der materiellen und moralischen Kräfte direkt verbunden mit einem dritten Element: der Eroberung von Verbündeten. In der Russischen Revolution war es die Herausforderung der Revolutionär:innen, ein Bündnis zwischen der Arbeiter:innenschaft und den armen Bäuer:innen, die sogenannte Smytschka, zu erkämpfen. Schon in den Debatten der russischen Sozialdemokratie im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde hierfür der Begriff Hegemonie verwendet. In den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften wie Deutschland spielt das Bäuer:innentum keine bedeutende politische Rolle mehr. Doch Mittelklassen zwischen Bourgeoisie und Proletariat gibt es weiterhin und jene spielen für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Hegemonie eine wichtige Rolle. Um die bürgerliche Hegemonie zu brechen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre eigene Hegemonie über die Mittelklassen erlangen – oder anders gesagt, die führende Rolle in einem Bündnis mit den Mittelklassen zum Sturz der Bourgeoisie erobern. Für diese strategische Aufgabe spielt die Allianz der fortschrittlichsten Sektoren der Arbeiter:innenbewegung mit der Studierendenbewegung eine zentrale Rolle.
Diese Wichtigkeit sieht man im Negativen dort, wo es den Arbeiter:innen eben nicht gelingt, ihre Interessen als universell darzustellen, bzw. die Studierendenschaft nicht davon überzeugt wird, dass die Interessen der Arbeiter:innenklasse auch die ihren sind. Studierendenbewegungen spielen nicht immer eine progressive Rolle und manchmal sogar eine reaktionäre. In der Zwischenkriegszeit, vor dem Beginn der Massenuniversität, rekrutieren sich beispielsweise die konterrevolutionären Freikorps unter kleinbürgerlichen Studenten. Wenige Jahre später war die Studierendenschaft eine frühe Basis des Nationalsozialismus. In jüngerer Vergangenheit wusste beispielsweise die brasilianische Rechte die Studierendenbewegung von 2013 gegen soziale Angriffe der sozialdemokratischen PT für sich zu vereinnahmen, was zum Putsch gegen die Präsidentin Dilma Rousseff beitrug und schließlich Bolsonaro zum Sieg verhalf.
Gleichzeitig kann die bewegte Studierendenschaft ein wichtiger progressiver Akteur sein, der die Explosivität der Jugend in Massenkämpfe einbringt. Wir sehen dies in Dutzenden Ländern im 20. und 21. Jahrhundert, vom globalen Aufschrei um 1968, der sich z.B. in Frankreich und Argentinien in vorrevolutionären Situationen zeigte, die Rolle der Studierendenbewegung in antikolonialen Kämpfen wie in Indonesien, über die iranische Revolution ’79, die Universitäten in den Kämpfen Lateinamerikas um die Jahrtausendwende oder in jüngerer Geschichte die riesigen Studierendenproteste in Griechenland.
Doch von alleine kann die Studierendenbewegung nicht revolutionär werden. Es muss eine strategische Wette der Revolutionär:innen sein, in sie offen und mit dem Ziel zu intervenieren, die fortschrittlichsten Kräfte für den Aufbau einer revolutionären Partei zu gewinnen, wie Nathaniel Flakin in seiner Bilanz der westdeutschen Studierendenbewegung schreibt. Darin zeichnet Flakin nach, wie es die Organisation in der Tradition der trotzkistischen Vierten Internationalen versäumte, einen größeren Einfluss in der radikalisierten Studierendenschaft zu erobern, weil sie sich tief in die SPD eingegraben hatte.
Die Widersprüche der Universität
Nun können wir uns der Frage der Universität als Bastion im Klassenkampf in zwei Aspekten nähern: als Ort der Produktion von Hegemonie (bürgerlich, aber auch im Potenzial proletarisch), sowie als Ort der Sammlung von Kräften für den Klassenkampf, der auf ökonomischer (z.B. im Kampf für höhere Löhne), politischer ( z.B. auf Demonstrationen und bei Wahlen) und ideologischer (im Kampf des Marxismus gegen bürgerliche Ideologien) Ebene ausgetragen wird .
Daniel Bensaïd schreibt in seiner Bilanz der Studierendenbewegung von ’68, dass die Studierendenschaft durchzogen ist von verschiedenen Widersprüchen.
- Als Teil der Jugend im Allgemeinen ist sie „die erste Betroffene von der Krise der bürgerlichen Ideologie, die sie verehren und verewigen soll“1. Diese Krise rührt laut Bensaïd daher, dass die herrschende Klasse keine historisch fortschrittliche Rolle mehr spielt und sich ihre Hegemonie daher im Niedergang befindet. Die Ideen der siegreichen französischen Revolution, der Freiheit und Gleichheit, lassen sich nicht mehr wiederfinden im durchschnittlichen Bourgeois.
Hierzu muss gesagt werden, dass Bensaïd dies erstens im Kontext einer globalen Herrschaftskrise formuliert, die sich in multiplen Kämpfen (im Osten z.B. dem Prager Frühling und der Kulturrevolution, im Westen mit der Studierendenbewegung, aber auch den Kämpfen gegen den Vietnamkrieg, den Nachbeben der Kubanischen Revolution, den afrikanischen Unabhängigkeitskriegen oder der US-Amerikanischen „Bürgerrechtsbewegung“) zeigte und letztenendes im kapitalistischen Westen auf ein Ende des Nachkriegsbooms hindeutete.Die Niederlagen und Vereinnahmungen der fortschrittlichen Kämpfe legten die Grundsteine für den Neoliberalismus, die sich auch in der Universität zeigten.
- Zudem erfüllt die Universität laut Bensaïd die Funktion, zukünftige Kader der Bourgeoisie zu schaffen, sei es in der Innovation von Technologien oder der Sicherung und Weiterentwicklung der bürgerlichen Ideen. Dies kollidiert jedoch mit dem Risiko der Arbeitslosigkeit oder dem „langsamen Aufstieg der starren Hierarchien“, also dem Aussieben in der Ellenbogengesellschaft der Akademie, dem Rechtswesen etc.
Diese Beobachtung ist heute besonders wichtig. Nicht nur kommen die meisten Kader der Bourgeoisie, seien sie intellektuell, politisch oder organisatorisch, aus der Universität – es genügt zu sehen, wie hoch der Akademiker:innenanteil im Bundestag ist, nämlich 87 Prozent. An den Universitäten werden auch die Ideen geschaffen, die diese vertreten.
Zwar studieren seit dem Aufstieg der Massenuniversität in den 1960er Jahren auch viel mehr Kinder aus Arbeiter:innenfamilien, doch die Universitäten haben niemals aufgehört, Fabriken der Ideologieproduktion für die Herrschenden zu sein. In den Geistes- und Sozialwissenschaften verteidigen die meisten Professor:innen eine gesellschaftliche Ordnung, für die Ausbeutung und Unterdrückung konstitutiv sind, kritische und gar revolutionäre Wissenschaftler:innen sind kaum zu finden.
Das System Universität soll einige Wenige von uns zu Profiteur:innen und Verteidiger:innen des Status Quo wie Banker:innen und Richter:innen machen, die meisten jedoch zu ideal verwertbaren Arbeitskräften formen, um uns möglichst rasch auf den Arbeitsmarkt zu werfen. Die Hochschulreformen der vergangenen Jahre sind Ausdruck dieser Tendenz. Die Bolognareform beschränkte die Studienzeiten und erhöhte den Leistungsdruck. Während die Geistes- und Sozialwissenschaften unter Druck geraten, boomen praxisnahe Hochschulen und duale Studiengänge. Trotzdem finden sich an den Universitäten auch heute noch Nischen für eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und die Infragestellung der Herrschaftsverhältnisse. Insbesondere in zugespitzten Klassenkampfsituationen wie in Frankreich verwandeln sich die Universitäten auch in Orte der Stützpunkte für die Mobilisierung und des Bündnisses mit der Arbeiter:innenklasse – vorausgesetzt, es gibt politische Strömungen an der Universität, die für ein solches Bündnis kämpfen.
Perry Anderson legt in „In the Tracks of Historical Materialism“ dar, dass der Marxismus mit der Niederlage der 68er-Bewegung als kritisches Denken von den Universitäten entfernt wurde und die kleinbürgerlichen Strömungen des Strukturalismus und Poststrukturalismus seinen Raum eingenommen haben.2 Auf den linguistic turn und die Hinwendung zu Fragen des Diskurses und der Sprache verkörpert durch Ludwig Wittgenstein und Ferdinand de Saussure folgte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein cultural turn, der eine Abkehr von der Beschäftigung mit wirtschaftlichen und politischen Fragen bedeutete. Der Marxismus verlor somit seine „Nische“ an den Unis, die er nach den großen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse (dem Stalinismus im Osten und der Niederlage der deutschen Revolution und schließlich dem Faschismus im Westen) gefunden hatte, und versank an den Universitäten fast in die Bedeutungslosigkeit.
In „Über den westlichen Marxismus“ weist Anderson darauf hin, dass der Marxismus zu seinen Hochzeiten eine Reihe an Intellektuellen der Arbeiter:innenklasse hervorgebracht hatte (Lenin, Trotzki, Luxemburg, Gramsci etc., die fast ausnahmslos aus dem (Klein-)Bürgertum kamen und auch alle studierten). Jene waren mit ihren jeweiligen Parteien und der Internationalen verbunden, die wiederum in der Arbeiter:innenklasse verankert waren. Der „klassische Marxismus“ fokussierte zu jener Zeit seine Ausarbeitungen auf Fragen, die direkt mit dem Agieren dieser Parteien und dem Kampf für die sozialistische Revolution zusammenhingen, wie Ökonomie, Strategie und der Frage des Imperialismus, der „Königsdisziplin“ der Marxist:innen der Zeit. Wie Anderson schreibt, geriet das Werk Marxens Ende des 19. Jahrhunderts erstmals in die professionelle Kritik akademischer Ökonomen. Zudem verlangte die rasante Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise eine vertiefte wirtschaftliche Analyse. „Es genügte nicht länger, sich nur auf das Kapital zu stützen: es musste weiterentwickelt werden.“3 Zudem verlangte der rasche Aufstieg der Arbeiter:innenparteien in Zentraleuropa und besonders die Russische Revolution von 1905 zum ersten Mal eine „strategische politische Analyse auf wissenschaftlicher Grundlage in der Geschichte des Marxismus: Trotzkis Ergebnisse und Perspektiven.“4 Hier muss jedoch gesagt werden, dass die klassischen Marxist:innen nicht nur politische Kampfschriften und wirtschaftliche Analysen verfassten, sondern der Philosophie (z.B. „Materialismus und Empiriokritizismus“ von Lenin) und sogar der Kunst (z.B. Trotzkis „Literatur und Revolution“ oder sein „Manifest für eine freie revolutionäre Kunst“ gemeisam mit André Breton) Wichtigkeit beimaßen.
Nach der Niederlage der Deutschen Revolution folgte jedoch die Stalinisierung, die sich in der UdSSR auf der theoretischen Ebene in einem sterilen und schematischen, lehrbuchartigem „Marxismus“ zeigte, der mit wenigen Ausnahmen keine großen Neuerungen vollbrachte. Im Westen entfernten sich daraufhin die Marxist:innen vom Klassenkampf, Autor:innen wie Horkheimer, Adorno und Sartre wandten sich in den theoretischen Ausarbeitungen den brennenden Fragen des Klassenkampfes ab und wandten sich Fragen der Ästhetik und anderer, wenn auch interessanter, nicht für die politische Praxis des Proletariats unmittelbarer Fragen zu. Damit war zunehmend auch die Abwendung von der Arbeiter:innenklasse als historischem Subjekt überhaupt verbunden.
Sicherlich gibt es international und auch in Deutschland noch Marxist:innen an den Universitäten. Doch von den Rückschlägen, die der Marxismus in der Nachkriegszeit erlitt, konnte er sich noch nicht erholen. Der neoliberale Kahlschlag hat sein Übriges getan, sodass marxistische Professor:innen und Dozierende kaum mehr zu finden sind. Der Großteil der verbleibenden hat indes nur noch wenig realen Bezug zu den Kämpfen der Arbeiter:innenklasse.
Wir wollen stattdessen wieder einen Marxismus an den Hochschulen etablieren, der aus der Akademie heraus weist und versteht, dass die Akademie keine getrennte Sphäre der Gesellschaft und kein Selbstzweck ist. Unseren Kampf an den Universitäten tragen wir deshalb auch auf der Ebene der Ideen aus. Wir wollen für die Wiederbelebung der revolutionären Ideen des Marxismus kämpfen.
Aufgrund ihrer ambivalenten Stellung in der Gesellschaft kann die Studierendenbewegung wie oben bereits erwähnt entweder eine fortschrittliche oder eine reaktionäre Rolle einnehmen. Fakt ist, dass sie in vielen Momenten des Aufstiegs des Klassenkampfes eine Rolle gespielt hat – und wir wollen dafür kämpfen, dass sie, wie beispielsweise im Französischen Mai 1968, eine revolutionäre Rolle an der Seite der Arbeiter:innenklasse spielt.
Um das zu erreichen, steht der Aufbau von Bastionen an der Universität im Dienste einer zweifachen Aufgabe: als Ort des ideologischen Kampfes gegen die bürgerliche Hegemonie, wo wir den Illusionen in die bürgerliche Demokratie entgegentreten und die Kraft der Veränderung der Arbeiter:innenklasse in den Vordergrund stellen können. Und als Ort der Unterstützung des Kampfes der Arbeiter:innenklasse als Teil eines Bündnisses, wo die Universitäten im Dienste der Sammlung materieller und moralischer Kräfte für den Kampf gegen Staat, Kapital und Bürokratie stehen.
Dies richtet sich gegen den „Common Sense“ der sich insbesondere in Deutschland in weiten Teilen der radikalen Linken der letzten Jahrzehnte durchgesetzt hat – die Universität als Ort des Kampfes hinter sich zu lassen, sich den „sozialen Bewegungen“ zuzuwenden und Unipolitik höchstens für den finanzielle Nutzen zu machen. Die Trennung von politischer Arbeit und dem akademischen Alltag der Studierenden – die einen relevanten Teil der radikalen Linken ausmachen –verstärkt den Druck zu einer Depolitisierung des Seins an der Uni und damit der Anpassung an die bürgerliche Ideologie und den Status Quo: von entpolitisieren Studierendenausschüssen, Fachschaften und Studierendenparlamenten, die nur als Dienstleister fungieren, über verbürgerlichte „Ex-Linke“, für die die radikalen Jahre der Jugend kaum mehr als eine pubertäre Rebellion sind und die über die Zeit den Nachwuchs der Gewerkschaftsbürokratien, NGOs und bürgerlichen Parteien bilden.
Gerade aufgrund des stetigen Wachstums der Studierendenschaft (letztes Jahr gab es eine Studienanfängerquote von fast 55 Prozent) hat die Universität nicht an Wichtigkeit als strategischer Ort für die Gewinnung von Teilen der Jugend für den revolutionären Marxismus eingebüßt, sondern muss im Gegenteil ein zentraler Ort der Auseinandersetzung sein.
Wie diese zentralen Auseinandersetzungen in anderen Situationen aussehen können, lässt sich in Frankreich beobachten: Die Genoss:innen von Le Poing Levé und Révolution Permanente schlagen vor, dass die Studierendenbewegung mit der Strategie der Niederlage der Intersyndicale brechen und darauf hinarbeiten muss, an der Seite der Arbeiter:innen in den strategischen Sektoren die Streiks auszuweiten. Während die Präsidien die Unis schließen, um zu verhindern, dass sich die Organisation der Studierenden strukturiert, müssen die Vollversammlungen weiter aufgebaut werden, um die Hochschulen zu offenen Orten zu machen, die im Dienste der Mobilisierung stehen. Dies ist ein erster Schritt, um für eine andere Art von Universitäten zu kämpfen, die für alle und jede:n offen sind und in denen die Wissenschaft der Bevölkerung und nicht den kapitalistischen Profiten dient. Diesem Beispiel folgend gründet sich in wenigen Tagen die marxistische Hochschulgruppe Waffen der Kritik.
Eine organisierte Studierendenschaft mit revolutionärem Einfluss kann der Arbeiter:innenbewegung eine enorme Kraft geben. Hierzu sind aber Vorbereitungsaufgaben notwendig. Lasst uns diese gemeinsam gehen.
Fußnoten
1. Daniel Bensaïd und Camille Scalabrino: Balance Sheet of the Student Movement, in: Intercontinental Press 7/42 (1969).
2. Perry Anderson: In the Tracks of Historical Materialism, Verso, London 1983.
3. Ders.: Considerations on Western Marxism, Verso, London 1976, S. 8f., eigene Übersetzung.
4. Ebd., S. 11.