Die Ungarische Revolution 1956: Das Martyrium der ungarischen Arbeiter*innenklasse
60 Jahre nach dem Aufstand kamen alte Debatten hoch: War dies ein nationaler Volksaufstand des unterdrückten ungarischen Volkes gegen die sowjetische Besatzungsmacht? War es gar eine faschistische Konterrevolution? Oder war es die von Leo Trotzki vorhergesagte politische Revolution in einem degenerierten Arbeiter*innenstaat? Die Analyse eines Ereignisses, welches bis heute seine Schatten wirft.
Stellen wir uns vor, die Sowjetbürokratie sei gestürzt von einer revolutionären Partei, die alle Eigenschaften des alten Bolschewismus besitzt, zugleich aber auch um die Welterfahrung der letzten Periode reicher ist. Eine derartige Partei würde zunächst die Demokratie in Gewerkschaften und Sowjets wiederherstellen. Sie könnte und müsste den Sowjetparteien die Freiheit wiedergeben. Gemeinsam mit den Massen und an ihrer Spitze würde sie schonungslos den Staatsapparat säubern. – Leo Trotzki
Nikita Chruschtschow hätte sich seine am 25. Februar gehaltene “Geheimrede” vor hohen Sowjetfunktionär*innen wohl lieber erspart, wenn er gewusst hätte, was ihm acht Monate später blühen würde. Die im Frühling jenes Jahres begonnene Tauwetterperiode sollte innerhalb weniger Monate die vereisten Verhältnisse in den Ostblock-Staaten zum Schmelzen bringen und revolutionäre Prozesse in Polen und vor allem Ungarn hervorbringen. Doch es war nicht nur diese Rede, welche die Wut des ungarischen Volkes zum explodieren brachte, sondern auch und vor allem eine über zehn Jahre andauernde Unterdrückung, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges angefangen hatte.
Das Ende des weltweiten Gemetzels brachte widersprüchliche Ergebnisse hervor, die Leo Trotzki sogar teilweise vorhergesehen hatte. Für Trotzki war der Zweite Weltkrieg analog zum Ersten Weltkrieg zu begreifen, wobei er keinerlei Illusionen hatte: Nazideutschland würde die Sowjetunion früher oder später angreifen. Am Ende dieses weitaus brutaleren Krieges sei jedoch die Möglichkeit gegeben, dass, vergleichbar zum Ende des Ersten Weltkrieges, revolutionäre Prozesse entstehen könnten, die die Macht der Bourgeoisie brechen und so unter anderem die Isolation der Sowjetunion beenden würden.
Eine solche Situation trat ein: Von Griechenland über Italien und Jugoslawien bis nach Frankreich lag die Macht de facto in den Händen des Proletariats, das sich heroisch und erfolgreich gegen den Faschismus verteidigt hatte. Fabriken waren besetzt und in Weiten der Bevölkerung war das Scheitern des Kapitalismus offensichtlich geworden. Allerdings kroch genauso wie bei der Spanischen Revolution die Konterrevolution von zwei Seiten hervor: Vonseiten des Imperialismus mit der neuen Führungsmacht der USA sowie des Stalinismus der UdSSR. Der trotzkistische Historiker Pierre Broué nannte dies passenderweise die “Heilige Allianz zwischen Bürokratie und Imperialismus”.
Alles fließt
Die Aufteilung Europas in die Einflusssphären des Imperialismus und Stalinismus wird wohl am besten deutlich in der Vereinbarung zwischen Winston Churchill und Josef Stalin im Jahre 1944, als diese auf einem Zettel Länder wie Ungarn, Griechenland, Bulgarien oder Rumänien per Federstrich untereinander aufteilten. Ungarn wurde zu jener Zeit mit “50:50” deklariert, doch es war nach dem schnellen Vorrücken der Roten Armee bis nach Berlin schließlich klar, dass es ein Satellitenstaat der UdSSR werden sollte.
Um die Herrschaft der Sowjetbürokratie zu manifestieren, schuf der Stalinismus eine Reihe von Staaten, die von Moskau abhängig waren und in denen kremltreue Bürokrat*innen eingesetzt wurden. Die Schaffung dieser Satellitenstaaten, die ebenso Teil des Warschauer Paktes zu sein hatten, dauerte mehrere Jahre und wurde gewiss nicht ohne Widerstand durchgesetzt. Schillerndstes Beispiel hierfür ist die Kontroverse zwischen Jugoslawien und der UdSSR, wobei erstere einen eigenen Weg gingen. Das Interessante an diesen Jahren ist, dass der Stalinismus die neuen “Volksrepubliken” wie Ungarn, Polen oder Rumänien nicht in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken integrierte, wie er es etwa nach der Oktoberrevolution mit den Kaukasusländern oder nach dem Zweiten Weltkrieg mit den baltischen Staaten tat, sondern formell unabhängige Staaten kreierte, die von Kadern geführt wurden, wovon nicht wenige während der faschistischen Besatzungen im Moskauer Exil lebten wie zum Beispiel Walter Ulbricht.
Einer dieser Kader, die nicht selten auch Komintern-Funktionär*innen waren, war Matyas Rakosi – “Stalins bester ungarischer Schüler”. Nachdem am 20. August 1949 eine neue Verfassung stalinistischen Typs für Ungarn auserkoren wurde, war die Herrschaft der “Partei der ungarischen Werktätigen” (ungarisch MDP) beschlossene Tatsache. Nur sie war als Partei zugelassen und sollte in den Jahren bis 1956 schätzungsweise zwischen 900.000 und 1 Million Mitglieder haben – bei einer Bevölkerung von nicht einmal 10 Millionen! Rakosi sollte in den Jahren 1949 bis 1956 der Diktator Ungarns werden, der es exzellent verstand, die Interesse der Bürokratie zu vertreten und sich gegen andere Konkurrenten wie Laszlo Rajk, der fälschlicherweise als echte Alternative propagiert wurde, durchzusetzen. Mitte 1956 wurde er zwar abgelöst, sein Nachfolger Ernö Gerö war jedoch ebenso erfahren in Konspiration und Unterdrückung, war doch auch er durch die Schule des sowjetischen Geheimdienstes gegangen und einer der Handlanger zur Ermordung der Spanischen Revolution (nicht unwahrscheinlich, dass er gar an der Ermordung des POUM-Führers Andres Nin direkt mitwirkte). Schon 1919 war er bei der kurzlebigen ungarischen Räterepublik dabei gewesen und in seinen langen Jahren in Moskau sollte er die Kunst der Organisation beherrschen, sodass er mit der Sicherheitspolizei AVH ein mächtiges Instrument schaffen konnte.
Das Umfeld, in dem höchst ergebene Apparatschiks wie Rakosi, Gerö oder Kádár groß werden konnten, beschrieb Broué folgendermaßen:
Die stalinistische Parteikonzeption, das heißt Monolithismus, das heißt eine streng gegliederte Hierarchie, von der Parteispitze kontrolliert. „Die Kader entscheiden alles“, beliebte Stalin zu wiederholen, im Übrigen davon überzeugt, dass er selbst der Kader der Kader war. Es war, im Grunde genommen, ein Dienstverhältnis der Partei zur Bürokratie durch Vermittlung des Apparats, die Unterordnung der Mitglieder unter die politische Polizei.
Das Ungarn vor der Revolution glich einem offenen Gefängnis, in dem niemand die eigene Meinung frei äußern konnte, in dem das Streikrecht der Arbeiter*innen nicht existierte und in dem ein Klima der Gefahr der Denunziation herrschte. Der revolutionäre Terror, der gegen die AVH in den Tagen zwischen Oktober und Dezember 1956 eingesetzt wurde, offenbarte deswegen einen tiefen Hass der Arbeiter*innen und Studierenden. Unversöhnlicher Hass kennzeichnete auch die Tage der Revolution und Konterrevolution im Ungarn 1956.
Nur der Sieger kennt kein Gericht
Gemeinhin wird der Beginn der Ungarischen Revolution auf den 23. Oktober datiert, als eine friedliche Demonstration, die vor allem durch Studierende und Intellektuelle organisiert wurde, von der AVH zusammengeschossen wurde. Es wäre jedoch falsch, dies als eine plötzliche Eruption zu sehen, die aus einer Spontaneität heraus entstand. Genauso falsch wäre es, in den nun beginnenden und sich rasant entwickelnden Ereignissen, einen faschistischen Umsturzversuch zu sehen. Zum einen fanden Massenversammlungen und Diskussionen schon während des Sommers statt, als noch Hoffnungen (oder wie gesagt: Illusionen) in die Reformierbarkeit des Stalinismus bestanden. Bekannt wurde vor allem der Petöfi-Kreis, nicht zuletzt weil der bekannte Philosoph Georg Lukács dazugehörte. Zum anderen stellte sich schon schnell heraus, dass die Forderungen der Jugend und der Arbeiter*innen durch und durch revolutionär waren. In einer Versammlung der Studierenden am Tag davor wurden folgende 16 Punkte als Forderungen aufgestellt:
1.) Wir fordern den sofortigen Abzug aller sowjetischen Truppen aus Ungarn, wie es der Friedensvertrag (zwischen Ungarn und der Sowjetunion von 1947) vorsah.
2.) Wir fordern die Neuwahl der Partei-Führer auf allen Ebenen von oben nach unten in geheimer Wahl. Danach sollen diese in kürzester Zeit einen neuen Parteitag einberufen, der eine neue zentrale Führung wählt.
3.) Wir fordern die Bildung einer Regierung unter Leitung des Genossen Imre Nagy, und dass alle kriminellen Führer der Stalin-Rákosi-Periode entlassen werden.
4.) Wir fordern eine öffentliche Diskussion der Affäre um Mihály Farkas und Konsorten. Ebenso fordern wir die Rückkehr von Rákosi in unser Land, damit er als Hauptverantwortlicher für die Pleite des Landes und für all die Verbrechen der letzten Jahre vor ein Volksgericht gestellt wird.
5.) Wir fordern die Wahl einer Nationalversammlung unter Teilnahme mehrerer Parteien und mittels geheimer Wahl. Wir fordern das Streikrecht für die Arbeiter.
6.) Wir fordern eine grundlegende Neugestaltung und Berichtigung der kulturellen, ökonomischen und politischen Beziehungen Ungarns zu Jugoslawien und zur Sowjetunion auf der Basis gegenseitiger Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und der vollen ökonomischen und politischen Gleichberechtigung.
7.) Wir fordern die Neuorganisation des ungarischen Wirtschaftslebens unter Einbeziehung ungarischer Fachleute. Wir fordern die Neuorganisation der gesamten Wirtschaft auf der Grundlage des Plans, so, dass die nationalen Ressourcen zum Nutzen unseres Volkes eingesetzt werden.
8.) Wir fordern die Veröffentlichung der Außenhandelsverträge und zuverlässige Zahlen über die Kriegsentschädigungen. Wir fordern eine öffentliche und komplette Information bezüglich der russischen Konzession zur Ausbeutung und Lagerung des Urans in unserem Land. Wir fordern, dass Ungarn den Verkaufspreis seines Urans frei, entsprechend den Weltmarktpreisen, festlegen kann.
9.) Wir fordern eine vollständige Revision der Arbeitsnormen in der Industrie, und die Akzeptierung der Lohnforderungen der Hand- und Kopfarbeiter. Die Arbeiter wollen die Festschreibung eines Mindestlohns.
10.) Wir fordern die Zwangsablieferung auf neuer Grundlage zu organisieren, um einen vernünftigen Gebrauch der landwirtschaftlichen Produkte zu gewähren.
11.) Wir fordern die Revision aller Prozesse wegen ökonomischer und politischer Anklagen vor wirklich unabhängigen Gerichten und die Rehabilitierung unschuldig Verurteilter.
12.) Wir fordern ein freies, unabhängiges Radio, vollständige Pressefreiheit, Freiheit des Wortes und der Meinung, sowie das Erscheinen einer neuen Tageszeitung mit großer Auflage als Organ des MEFESZ (unabhängige Studentenorganisation, die sich neu gebildet hat).
13.) Wir fordern, daß das Stalin-Denkmal als Symbol der politischen Unterdrückung und der stalinistischen Diktatur schnellstmöglich abgerissen wird, und dass an seiner Stelle ein Denkmal für die Helden und Märtyrer des Freiheitskampfes von 1848–1849 errichtet wird.
14.) Anstelle der dem ungarischen Volk vollkommen fremden Symbole fordern wir die Rückkehr zu den alten Symbolen von Kossuth. Wir fordern eine neue Uniform für die Armee, die den nationalen Traditionen des Honvéd würdig ist. Wir fordern, dass der 5. Mai (Unabhängigkeitstag von 1848) zum arbeitsfreien Nationalfeiertag wird, und dass der 6. Oktober (Tag der feierlichen Bestattung Rajks) zum arbeitsfreien Trauertag wird.
15.) Die Jugend der technischen Universitäten Budapests proklamiert in einstimmiger Begeisterung ihre vollständige Solidarität mit der polnischen Arbeiterklasse und der Jugend Warschaus und Polens und der Bewegung für ein unabhängiges Polen.
16.) Die Studenten des Bauwesens der Technischen Universität gründen schnellstmöglich die Ortsorganisation des unabhängigen Studentenbundes MEFESZ und haben entschieden, für Samstag, den 27. Oktober, ein Parlament der Jugend nach Budapest einzuberufen, in dem die Gesamtheit der Jugend des Landes durch Delegierte vertreten wird.
Was ist der Charakter dieser Forderungen? Wie sind sie zu bewerten? Es sind mehrere Merkmale sichtbar, die in Kombination stehen. Durch die gesamten Punkte hinweg zieht sich der Wunsch nach nationaler Souveränität, sodass zum Beispiel die stationierten sowjetischen Truppen abgezogen werden sollten. Es wird an die Revolution von 1848 erinnert, als das ungarische Volk einen nationalen Befreiungskampf gegen das russische Zarenreich führte. Dieses Moment zieht sich durch die ganze Revolution, als dessen Symbol ungarische Fahnen mit einem ausgeschnittenen Kreis dienten, aus denen das Sowjetemblem in der Mitte ausgeschnitten wurde – hieran wird deutlich, welch‘ große Bedeutung die nationale Frage in der Revolution spielte.
Zwei weitere Länder werden angesprochen: Jugoslawien und Polen, in denen ebenfalls 1956 ein Arbeiter*innenaufstand erfolgte. Beide Länder standen – obwohl unterschiedlich zu bewerten – für einen Kurs unabhängig von Moskau und damit scheinbar auch vom Stalinismus. Die wirtschaftlichen Forderungen zeugen davon, dass die Budapester Jugend sehr wohl verstanden hatte, dass die Verbrechen des Stalinismus nicht nur aus dem “Personenkult” resultierten, sondern inhärent sind in einem System, welches die Unmöglichkeit des Aufbaus des “Sozialismus in einem Land” mit einer Diktatur über das Proletariat durchsetzen will. Das Bekenntnis zur Planwirtschaft (Punkt 7) unterstreicht ebenso den antikapitalistischen Charakter der Resolution, die mit dem Streikrecht und dem Mindestlohn auch Forderungen der Arbeiter*innenklasse aufnimmt. Bemerkenswert, wie ähnlich dieses Programm mit der Analyse Trotzkis zwanzig Jahre vorher war:
Doch was die Eigentumsverhältnisse anbelangt so brauchte die neue Macht keine revolutionären Maßnahmen zu ergreifen. Sie würde das Planwirtschaftsexperiment fortsetzen und weiterentwickeln. Nach der politischen Revolution, d.h. nach Niederringung der Bürokratie, hätte das Proletariat in der Wirtschaft eine Reihe wichtigster Reformen, doch keine neue soziale Revolution durchzuführen.
Für die stalinistische Bürokratie waren diese Punkte nicht verhandelbar, sie ließ die Massendemonstration, die mit 200.000 Menschen zum Parlament zog, mithilfe des sowjetischen Militärs niederschlagen. Ein Massaker, das nach Schätzungen mehrere hundert Todesopfer forderte. Gleichzeitig aber auch der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. In den Städten toben Straßenschlachten, wobei die Repressionsorgane kein Erbarmen zeigten. Schon am nächsten Tag weitete sich aber der Aufstand auf andere Ort aus, in den Fabriken wurden Arbeiter*innenräte gebildet und seitens der Arbeiter*innenklasse der Generalstreik proklamiert.
Die Revolution der Arbeiter*innenräte
Der Generalstreik der Arbeiter*innenklasse übertrug das Kommando von der Jugend und der Intelligenz auf das Proletariat. Die Arbeiter*innenklasse bestimmte nun das Tempo der Ereignisse, erst recht nachdem sich das sowjetische Militär aus der Hauptstadt Budapest auf das Land und in die Kasernen zurückgezogen hatte. Diese Revolution war eine genuine Revolution der Arbeiter*innenräte, die nun faktisch die Macht in den Händen hielten. Sie waren es, die die Fäden zogen und folglich auch einen Mann hinter sich mitzogen, in den große Hoffnungen gesetzt wurden: Imre Nagy.
Dieser war bereits im Jahre 1955 kurzzeitig an der Macht und formte am 27. Oktober eine neue Regierung. Am gleichen Tag wurde auch die AVH aufgelöst und die Göttin der Nemesis zog durch die Straßen Budapests: Der revolutionäre Terror der Arbeiter*innen und der Jugend übte eine blutige Rache an den AVH-Kadern aus. In diesen Tagen schien die Revolution unbesiegbar und Ungarn schien einen ähnlichen Weg wie Polen unter Wladyslaw Gomulka zu nehmen. Die Hoffnung der Massen personifizierten sich in Imre Nagy, der die Rolle des ungarischen Gomulka einnehmen sollte.
Schon am 1. November ergriff die Regierung, zu der auch Georg Lukács als Kulturminister gehörte, weitgehende Maßnahmen: Sie erklärte die Neutralität Ungarns und ergo den Austritt aus dem Warschauer Pakt. In diesem Moment schien das ungarische Drama einen guten Ausgang zu finden. Die Straßen wurden nach den verlustreichen Schlachten wieder aufgeräumt. Vielleicht mag der 3. November 1956 der Tag des höchsten Glücks für die ungarische Arbeiter*innenklasse gewesen sein, denn schon in der kommenden Nacht nahmen die Dinge eine spektakuläre Wende ein – es war die Konterrevolution, die einen umfassenden Angriff plante.
Die Zerstörung einer revolutionären Tradition
Obwohl das ungarische Proletariat durch Jahrzehnte von Revolution und Konterrevolution gestählt war, war jener 4. November der Todesstoß für eine stolze Generation, die erst dem weißen Terror unter Miklos Horthy und dann dem Faschismus die Stirn geboten hatte. Dieses Mal jedoch war die Konterrevolution in den Gewändern der Roten Armee unterwegs, die Budapest seit 4 Uhr unter Beschuss nahmen. Dieser Angriff war so von den Revolutionären nicht vorhergesehen worden. Warum? Es mag verschiedene Gründe gegeben haben, von denen der wichtigste das Fehlen einer revolutionären Partei war, d.h. einer revolutionären Führung, welche ebenso die Kunst des Rückzugs versteht. Imre Nagy wurde just am selben Tag durch János Kádár ersetzt, weit davon entfernt, der alles andere tat, als in irgendeiner Form die Macht zu verteidigen.
Nagy
Es wäre irritierend, Imre Nagy einen “Reformkommunisten” zu nennen: Der gelernte Agrarökonom gehörte vielmehr dem rechten, dem Bucharinismus zugeneigten Flügel der stalinistischen Partei an. Hinsichtlich des politisch-wirtschaftlichen Modells schwebte ihm ein Zustand ähnlich dem von Jugoslawien vor; blockfrei und einen eigenen, scheinbar unabhängigen Weg von der Herrschaft der Bürokratie schreitend.
Das jugoslawische Modell unter Josip Broz Tito war jedoch ein Gesellschaftssystem, indem es zwar teilweise eine Autonomie der Arbeiter*innen in den Betrieben gab und in denen nach eigenen Angaben eine “sozialistische Marktwirtschaft” etabliert war – in letzter Konsequenz lag die Herrschaftskontrolle aber in den Händen der Bürokratie und der KPJ. Der Titoismus war ein Stalinismus sui generis. Eine Ironie der Geschichte, dass sich Imre Nagy in den ersten Tagen nach dem sowjetischen Angriff mit Georg Lukács in der jugoslawischen Botschaft versteckt hielt.
An einer Verfemung für Imre Nagy und Georg Lukács fehlte es nicht, nachdem die Konterrevolution gesiegt hatte. Kádár zog öffentlich über Nagy her: „Dieser Mann ist zum Hampelmann der Konterrevolutionäre und der Horthy-Anhänger geworden.“
Beide wurden unter konspirativen Umständen nach Rumänien ausgeflogen, wo ihr Prozess vorbereitet werden sollte. Wie es sich vorgetragen haben musste, mag heutzutage unvorstellbar sein:
Nach nächtlicher Verhaftung in Budapest 1956, rasender Wagenfahrt mit verhängten Fenstern zu einem unbekannten Militärflugplatz, Abflug in einer Maschine ohne Hoheitsabzeichen in ein unbekanntes Land und Ankunft in einer schloßartigen Villa an blinkendem Meeresstrand, in der er lebte, halb zeremoniös behandelter Staatsgast, halb Zuchthäusler, noch immer ohne Kenntnis, wo er sich überhaupt befand, sagte Georg Lukács:Kafka war doch ein Realist.
János Kádár verstand es hervorragend, sich taktisch in den Ereignissen nach dem 4. November zurechtzufinden. Der Unterstützung des Kremls sicher, spielt er nun ein doppeltes Spiel, wobei er der sowjetischen Armee die repressive Arbeit machen ließ und sich selbst als “Versöhnler” darstellte. Er wusste um die Macht und Stärke der Arbeiter*innenräte und erkannte, dass er in dieser Phase eine Politik der Zugeständnisse machen musste. Es war kein Zufall also, dass er die Arbeiter*innenräte anerkannte:
Es gibt Leute in Ungarn, die befürchten, dass diese Regierung (Kádár) die Methoden der alten kommunistischen Partei und ihres Systems der Leitung wieder einführen würde. Es gibt keinen Mann in führender Position, der an so etwas denkt, denn selbst wenn er es wünschte, würde er von den Massen weggefegt.
Oftmals wird der 4. November als Schlusspunkt der Ungarischen Revolution angesehen, wobei missachtet wird, dass vielmehr eine weitere Periode der Doppelmacht bis Dezember andauerte und die letzten Räte gar erst im Frühjahr 1957 aufgelöst beziehungsweise verboten wurden. Auch die Kämpfe in den Städten gingen weiter und wurden unter militärischen Aspekten mehr als bravurös gegen eine der mächtigsten Armeen der Welt ausgetragen. Doch diese Rote Armee erwies sich als zu stark und konnte die vollständige Kontrolle über das kleine Land wieder erlangen, freilich erst, indem sie weite Teile selbst aus Zentralasien dafür mobilisierte.
Es fehlt nicht an Mut seitens der kämpfenden Massen; es fehlte auch nicht an klassenbewussten Arbeiter*innen und last but least fehlte es erst recht nicht an den klassischen Klassenorganen des Proletariats, den Räten, die das Herz dieser Revolution ausmachten. Doch woran es fehlte, war eine Führung, die sich nicht von den Manövern der Bürokratie täuschen ließ; die einen Rückzug der kämpfenden Massen anordnen und organisieren konnte – eine Führung, die durch eine jahrelange und duldsame Schulung auch in der Lage gewesen wäre, die Kader für eine Regierungsübernahme zu stellen. Obwohl selbst nicht kleine Teile der Basis der MDP an der Seite der Massen kämpften, gab es keine Kraft, die nach dem Eingangszitat von Leo Trotzki in der Lage gewesen wäre, den “Staatsapparat zu säubern.” Nagy selbst konnte einen solchen Apparat nicht hinter sich versammeln, obwohl er (viel zu spät) am 1. November mit der “Sozialistischen Arbeiterpartei Ungarns” einen solchen Versuch unternahm.
Historische Lehren
Was wir in der Ungarischen Revolution sehen konnten, war die eindrucksvolle Bestätigung der Notwendigkeit einer politischen Revolution in den degenerierten Arbeiter*innenstaaten. In seinem Buch “Die verratene Revolution” schilderte Trotzki explizit die Merkmale einer solchen Umwälzung:
“Die Revolution, die die Bürokratie gegen sich selbst vorbereitet, wird nicht wie die Oktoberrevolution von 1917 eine soziale sein. Diesmal gilt es nicht, die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft zu ändern und die bestehenden Eigentumsformen durch andere zu ersetzen. Die Geschichte hat in der Vergangenheit nicht bloß soziale Revolutionen aufzuweisen, die das Feudalregime durch das bürgerliche ersetzten, sondern auch politische, die, ohne die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft anzutasten, die alte herrschende Spitze hinwegfegten (1830 und 1848 in Frankreich, Februar 1917 in Russland u.a.). Der Sturz der bonapartistischen Kaste wird selbstverständlich tiefe soziale Folgen haben, aber an sich wird er im Rahmen eines politischen Umsturzes bleiben.”
Die Ungarische Revolution war aber auch die Bestätigung für die Notwendigkeit einer revolutionären Partei in solch einem umfassenden Prozess. Sie ist die vielleicht stärkste historische Mahnung an die internationale Arbeiter*innenklasse, dass Räte als Form der Selbstverwaltung und -organisierung zwar notwendig, jedoch nicht ausreichend sind. Die Führung in Form einer revolutionären Partei ist nicht durch die Räte zu ersetzen – eine Negierung dieser Unvermeidlichkeit verschließt die historischen Lehren, für die das ungarische Proletariat bluten musste.
Die Zerschlagung dieser Revolution ist bis heute das Trauma des ungarischen Proletariats geblieben. Während an den “Volksaufstand” heute selbst von Regierungsseite erinnert wird (freilich verfälschend und für die bürgerlichen Zwecke instrumentalisierend), war die Revolution von 1956 bis an das Ende des Stalinismus ein Tabu. Im Gegensatz zu Polen etwa war die Niederlage der Revolution so niederschlagend, dass weitere Mobilisierungen der Massen ausblieben. Was wir deshalb in der Niederschlagung der Ungarischen Revolution analysieren können, ist die Zerstörung einer revolutionären Kampftradition des ungarischen Proletariats, welches bis dahin eines der aktivsten und bewusstesten weltweit war. Die Niederlage ist das Blutzeugnis, unter der das ungarische Proletariat bis heute zu leiden hat.