Die Türkei steht vor Neuwahlen
// Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kündigt in der aufgeheizten Phase der politischen Lage in der Türkei die Neuwahlen an. Er beabsichtigt dabei in den kommenden Neuwahlen ausreichende Stimmen für die Bildung einer Alleinregierung zu erzielen, um das Präsidialsystem einzuführen. //
Nur zwei Monate nach den Parlamentswahlen in der Türkei steht das Land vor Neuwahlen. Es wurde in der Zeit mit der Erteilung der Vollmacht vom Staatspräsident Erdogan eine provisorische Regierung der AKP gebildet, die Koalitionsgespräche mit der bürgerlich-kemalistischen Partei CHP und der ultrarechten Partei MHP geführt hatte. Nach den Parlamentswahlen, die der 13jährigen Alleinregierung der AKP ein Ende gesetzt haben, konnten diese Parteien sich nicht auf eine Koalitionsregierung einigen.
Währenddessen hat Erdogan den „Friedensprozess“ mit der kurdischen Bewegung für beendet erklärt und ihr gegenüber der eine militärische Offensive gestartet.
Der Termin für die Neuwahlen wurde vom hohen Wahlausschuss (YSK) noch nicht angekündigt, doch Erdogan mischte sich in diese Frage ein und kündigte den 1. November als Wahltermin an und verletzte damit einmal mehr die Verfassung.
Es muss nun eine Wahlregierung gebildet werden, die die Wahlen vorbereitet. Nach dem Gesetz soll diese Wahlregierung aus den Parteien des Parlaments bestehen, doch sowohl die CHP als auch die MHP haben die Teilnahme abgelehnt. Die reformistische pro-kurdische HDP verhält sich wiederum pragmatisch: Um den Krieg zu stoppen und sich als fähiger Garant der Stabilität zu beweisen, hat sie sich unter der Bedingung der Mitbestimmung des Kabinetts dafür bereit erklärt, an der Wahlregierung teilzunehmen.
Auch wenn Erdogan aufgrund seiner Amtsstellung eine neutrale Position einnehmen sollte, sahen dies in der Praxis anders aus: Während die AKP die Koalitionsverhandlungen im Interesse Erdogans führte, stellten die CHP und MHP als zentrale Bedingung für die Bildung einer Koalitionsregierung den Rückzug von Erdogan in sein Amt als Staatspräsident auf. Doch es wäre naiv, daran zu glauben, dass Erdogan sich nach einer relativen Wahlniederlage der AKP auf dieses Amt beschränkt. Sowohl als Ministerpräsident als auch als Staatspräsident hat er in den letzten 13 Jahren eine autoritäre Politik vertreten. Er hat sich dabei teilweise auf die putschistische Verfassung von 1982 bezogen. Als sie ihm aber den Spielraum verengte, hat er die Verfassung nach seinen Interessen umformuliert. Als beispielsweise 2013 der Korruptionsskandal ausbrach, führte er innerhalb der Justiz und der Polizei eine Säuberungswelle durch und verhinderte die Untersuchung der Korruption der AKP.
Die AKP geht davon aus, dass sich die gespaltene türkische Bourgeoisie mit einer „starken“ Alleinregierung vereinheitlichen kann. Während die säkulare Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute (TÜSIAD) eher für den „diplomatischen“ Kurswechsel in der Außenpolitik, die Fortsetzung des „Friedensprozesses“ in einem Koalitionsmodell von AKP und CHP steht, verhält sich der konservative Verein Unabhängiger Unternehmer und Industrieller (MÜSIAD) nach den Interessen Erdogans. Der Pro-Erdogan-Kurs des MÜSIAD ist kein Zufall, da dieser Verein vor allem in der Zeit der AKP-Alleinregierung große Unterstützung erfahren hat.
Der Staatsterrorismus gegenüber den linken und kurdischen Kräften findet vor dem Hintergrund der bevorstehenden Neuwahlen statt. Die AKP strebt danach, einerseits mit der nationalistischen Rhetorik der MHP die Basis zu entziehen, andererseits den Einzug der HDP ins Parlament zu verhindern oder sie zumindest zu schwächen. Dabei beabsichtigt sie, ausreichende Stimmen für die Bildung einer Alleinregierung zu erreichen. Die AKP geht davon aus, dass die Vertiefung der Sicherheitssorgen der Bevölkerung zur Erhöhung ihrer Stimmen dienen wird. So sieht man Erdogan und viele AKP-PolitikerInnen auf den Trauerfeiern der gefallenen Soldaten. Zudem nutzen sie die nationalistische Rhetorik, um dem Staatsterrorismus eine Legitimation zu geben. Doch bisher ist der Einfluss auf die Wahlen gering. Angesichts der Vertiefung der ökonomischen Probleme, feindlichen Beziehungen in der Außenpolitik und dem Wiederaufflammen des Kriegs gegenüber der PKK herrscht landesweit ein spürbarer Unmut gegen die Regierung, auch wenn der größte Teil der bürgerlichen Medien tagtäglich kriegstreibende Schlagzeilen verfassen.
Mit dem Bruch der „Waffenruhe“, die vor zwei Jahren begann, sterben wieder massiv kurdische Guerrilla-KämpferInnen und türkische Soldaten. Angehörige beider Seiten protestieren nun gegen den Krieg. Es hat sich ein massenhafter „Friedensblock“ gebildet, unterstützt von fast allen linken und liberalen Organisationen, MenschenrechtsaktivistInnen und NGOs. Doch der „Friedensblock“ hat sehr große Grenzen: Es gibt keinen Aufruf zum aktiven Widerstand in Form von Besetzungen der strategischen Institutionen und Betriebe und Streiks, während die Regierung die KurdInnen in Nordkurdistan verhaftet, foltert und tötet. Es geht im wesentlichen nur um den Aufruf zur Fortsetzung des „Friedensprozesses“. Doch es zeigt sich immer deutlicher, dass der „Friedensprozess“ nur eine Utopie ist und die grundlegendsten Fragen des unterdrückten kurdischen Volkes nicht lösen kann. Dieser Kurs betrügt nur die Massen und verhindert die Radikalisierung. Doch auch der „Radikalismus“ der PKK ist fragwürdig. Es finden unabhängig von der mehr als legitimen Selbstverteidigung individualistische und vereinzelnde Attentate statt, die hauptsächlich nur Verwirrungen produzieren und keinen strategischen Ausweg für die Selbstbestimmung und die Lösung der sozialen Probleme der kurdischen ArbeiterInnen und Massen anbieten.
Auch die kurdischen Teile innerhalb der AKP sind mit dem Ende des „Friedensprozesses“ nicht zufrieden, da sie materielle Verluste davon haben. All diese Elemente zeigen die Hindernisse auf, die die AKP bei der Erhöhung ihrer Stimmen in den kommenden Wahlen konfrontieren muss.
Auch die Umfragen bestätigen diese Prognose.
Nach diesen wird es höchstwahrscheinlich im Vergleich zur heutigen Lage nach den Neuwahlen keine große Änderungen an der Sitzkonstellation im Parlament geben. Schon am 7.Juni hatte die HDP die restriktive Zehn-Prozent-Hürde überwunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die HDP auch diesmal den Einzug ins Parlament schafft, ist sehr hoch. Es ist sogar zu erwarten, dass die HDP ihre Stimmen erhöht, da der militaristische Kurs der AKP auf ihre kurdische Basis einen negativen Einfluss hat.
Es wird in diesem Fall kein Referendum für die gesetzliche Einführung des Präsidialsystems geben. Nichtsdestotrotz kann Erdogan de facto die Regierung regieren, da die Befugnisse des Staatspräsidenten in der putschistischen Verfassung sehr breit sind. So verkündete Erdogan am 14. August 2015 in Rize zum ersten Mal ganz konkret die Bonapartisierung: „Es gibt einen Präsidenten mit De-Facto-Macht in unserem Land, nicht mit symbolischer. Ob man es akzeptiert oder nicht, das Regierungssystem der Türkei hat sich verändert. Was wir nun tun sollten, ist, die rechtlichen Rahmenbedingungen unserer Verfassung dieser De-Facto-Situation anzupassen.“
Die Neuwahlen werden im Schatten der Militarisierung des ganzen Landes stattfinden. Es reicht nicht nur zu sagen, dass Erdogan „wieder kein Präsident wird“, wie es die HDP bei den ersten Wahlen zu ihrem Slogan machte. Es wurde bestätigt, dass allein der parlamentarische Weg Erdogan nicht die Macht entziehen und den Krieg gegen die kurdische Bewegung stoppen kann. Es geht vielmehr darum, die militärische Offensive mit der organischen Mobilisierung der ArbeiterInnenorganisationen und Streikmethoden der ArbeiterInnen zu bekämpfen, und eine strategische Allianz zwischen den türkischen und kurdischen ArbeiterInnen und Massen aufzubauen: Selbstverteidigung der kurdischen Region (und Solidarität mit allen Organisationen im Kampf), Generalstreik gegen Erdogan, in der Perspektive einer sozialistischen Umwälzung in der Türkei und in Kurdistan.