Die Straße zusammenführen
In der Nacht von Samstag auf Sonntag, den 21. Juni 2020 passiert das Unerwartete: Die Polizei verliert nach einer Drogenrazzia im Stadtgebiet Stuttgart die Kontrolle über den spontanen Gegenprotest und muss hinnehmen, dass in der Innenstadt Geschäfte, darunter Juweliere, geplündert und Einsatzfahrzeuge zerstört werden. Zwei Tage zuvor formierte sich in Frankfurt am Main ein Protestzug gegen eine Razzia in einem Universitätsgebäude, die Polizei suchte dort nach Beweisen gegen eine Person, die angeblich ein Jahr zuvor in Leipzig ebenfalls Polizeiautos in Brand gesetzt hat.
Bild: Pixabay.
Zwei nicht nur geografisch getrennte Proteste, doch ein gemeinsamer Gegner: Die deutsche Polizei. Auf der einen Seite eine spontane Menge, die sich ohne Vorbereitung gegen die alltäglichen Schikanen wehrt. Auf der anderen Seite eine Anzahl Student*innen mit einem gemeinsamen Bezug auf ein bestimmtes Haus, das seit Jahrzehnten zu den linken Strukturen der Stadt zählt. Haben sie nicht nur einen gemeinsamen Gegner, sondern auch ein gemeinsames Interesse?
Eine Wahrheit, die nicht zu leugnen ist: Der Konsum von verbotenen Drogen ist allgegenwärtig. Jede Schule und jeder Freundeskreis, jede Stadt und jede Uni, jeder Club und jedes Viertel hat Erfahrungen mit Drogenkonsum. In den großen Städten ist eine die Bestellung von Kokain oder Metamphetamin nur einen Telefonanruf entfernt und auch spät nachts leichter zu bekommen als eine gute Pizza.
Konsumiert wird vor allem auch von der Oberschicht: Studierende und Banker, Künstler*innen und „Alternative“. Die Besorgung des Stoffs wird allerdings von ganz anderen geleistet: Von denen, die auf die Einnahmen angewiesen sind, von denen, die als „Unterschicht“ betrachtet werden, und von einem internationalen Produktionsnetz, in dem Arbeiter*innen in völliger Illegalität und größter persönlicher Not und Abhängigkeit Drogen anbauen und produzieren ohne jemals eine Perspektive auf ein normales Leben zu bekommen.
Wir Sozialist*innen sagen: Die Verfolgung von Drogenkonsum und -handel muss endlich aufhören. Sie dient ausschließlich der Kriminalisierung von Leuten, die es ohnehin schwer haben, und nutzt nur der oberen Klasse. Indem sie die Jugendlichen einschüchtert, übt sie Kontrolle und Terror aus, um alle Menschen in ein „anständiges“ Leben zu zwingen, wobei „anständig“ für sie heißt, sich ohne Widerrede und Widerstand von den Reichen dieses Landes ausbeuten zu lassen. Die Jugendlichen der angeblichen „Unterschicht“ haben ein sehr genaues Gespür dafür, dass das Leben nach den Regeln ein falsches Leben ist. Im Kapitalismus reicht es nicht, zur Schule zu gehen und viel zu arbeiten, um ein gutes Leben zu haben. Das ganze System lebt nur davon, dass stets billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Es lebt davon, dass andere Länder ausgebeutet werden. Damit das funktioniert, braucht es ein Regime des Terrors und der Spaltung im inneren, und nichts anderes ist der Zweck der deutschen Polizei, wenn sie auf Drogenfahndung geht.
Da nun, nur wenige Stunden nach den Ereignissen, bereits absehbar ist, wohin die Reise der in Stuttgart regierenden Grünen Partei und der Sozialdemokraten geht: nämlich in eine Stärkung der Polizei und der Strafapparate; da sich in den sozialen Medien bereits eine breite, rassistische und hetzende Front des deutschen Kleinbürger*innentums abzeichnet, lasst uns als Sozialist*innen eine klare Botschaft senden: Wir erklären unsere Solidarität mit den Aufständischen gegen das deutsche Polizeiregime aus Schikane und Terror, wir betrachten die Zerstörungen von Einsatzfahrzeugen, Juwelieren und Luxusläden als einen nachvollziehbaren Ausdrucks der Auflehnung gegen das System. Wir unterstützen die direkte Aktion, wie spontan auch immer, gegen die deutsche Polizei.
Notwendig ist für die Zukunft aber auch ein Programm jenseits des spontanen Aufstands – eine Perspektive, die Verhältnisse wirksam im Sinne der abgehängten und diskriminierten zu verändern. Eine Perspektive, die der Arbeiter*innenklasse und der Jugend ein besseres Leben nicht nur zeigen kann, sondern konkrete Verbesserungen erkämpft. Nötig ist eine Perspektive, die mit solchen nach vorne weisenden Forderungen dem Chauvinismus und der Obrigkeitshörigkeit entgegentritt, die heutzutage auch unter den Arbeiter*innen selbst so verbreitet ist.
Was ist für eine solche Perspektive aber nötig? Wir haben viel über Stuttgart gesprochen, aber wir wollen an dieser Stelle zurückkommen auf Frankfurt am Main. Der dortige Protest stand im Zeichen einer an der Universität isolierten und kasernierten Linken. Der Sammelpunkt war der Uni-Campus, der Demonstrationszug eilte einmal die eine beliebte Ausgehmeile hinauf, ohne viel Aufsehen zu erregen, und endete in einer kurzen, kraftlosen Kundgebung vor einer Polizeiwache nahe der Uni. Über die Verankerung in der Bevölkerung herrschen große Missverständnisse unter den Demonstrierenden. „Ganz Frankfurt hasst die Polizei“, war zu hören und immer wieder: „Wir lassen uns nicht spalten“.
Doch die wie immer erhoffte Resonanz auf der Straße ist nicht vorhanden: Die eilig aus dem Keller hervorgekramten Rauchbomben werden von genervten Passant*innen und Anwohner*innen in dem durchaus auch stark migrantisch geprägten Stadtviertel ausgetreten, für jedes solidarische Winken können wir zwei rechtsradikale Hasstiraden aus den Fenstern vernehmen.
Was ist der Grund dafür, dass die radikale, studentische Linke derart isoliert bleibt? Warum kann sie nicht an die Welle der Proteste gegen die Polizei und staatliche Repression anknüpfen? Was bedeutet „Wir lassen uns nicht spalten?“ wirklich? Es bedeutet inmitten der Corona-Pandemie zuerst, gegen Entlassungen und Kurzarbeit zu kämpfen, mit denen der Kapitalismus sich auf Kosten der prekärsten Teile der Arbeiter*innen retten will. Es bedeutet, auch jenseits von akuten Krisen gegen die Abwertung und Prekarisierung von ganzen Wirtschaftszweigen aufzustehen: egal ob Pflegeberufe, Reinigungskräfte oder Lieferdienste – das System lebt davon, den Lohn für Arbeit auf ein Minimum zu reduzieren.
In Stuttgart zeichnet sich ab, dass die politische Führung von Grünen, SPD und Linkspartei sich bereits auf die völlige Repression verständigt hat: Egal ob die Protagonisten Dietmar Bartsch oder Cem Özdemir heißen, sie alle fischen nur am rechten Rand nach Stimmen, statt der berechtigten Wut der Jugend Gehör zu verschaffen. Doch den populistischen Wettlauf mit dem schon in Bewegung gekommenen rechten Hass werden sie verlieren – denn auch Teile der deutschen Arbeiterklasse werden weiter in die Hetze gegen Migranten* und Drogenhändler*innen einstimmen, wenn die großen Parteien diesen Ton vorgeben.
Der Ausweg ist und bleibt ein wirklicher Internationalismus, der nicht die Geige des bürgerlichen Staates spielt sondern der Masse aus Arbeiter*innenklasse und Prekären eine realistische Perspektive anbietet.