„Die Sozialdemokratie bietet sich an, die Krise des Regimes zu lösen“
Die deutsche Regierung ist so tief in der Krise wie noch nie in der Nachkriegszeit. Die Rolle der Sozialdemokratie bei der Rettung des Regimes und der Aufstieg der Rechten. Interview für La Izquierda Diario mit Stefan Schneider, Redakteur von Klasse Gegen Klasse.
Wie tief ist die Krise, die sich in Deutschland eröffnet hat?
Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik seit ihrer Gründung 1949, dass keine Regierung gebildet werden konnte. Das heißt, es ist eine Krise, die es so noch nie gab. Die Krise, die das Regime gerade durchläuft, verschärft die Krisentendenzen, die sich in der Regierung unter Angela Merkel und in der CDU schon in den letzten zwei Jahren gezeigt haben. Die Regierung wird ja schon seit der Krise des Migrationsregimes immer offensiver von der extremen Rechten in Frage gestellt.
Deutschland ist die wichtigste Macht in Europa. Wie wirkt sich die Krise auf die EU aus, und umgekehrt?
Man könnte sagen, dass es sich um ein neues Glied in der Kette der politischen Krisen in der CDU handelt, die sich in den Rahmen einer allgemeineren Krise in der Europäischen Union einordnet. Diese beiden Ebenen können nicht voneinander getrennt werden, denn in letzter Instanz ist die Krise Merkels die Krise der Europäischen Union. Viele Fragen in der EU sind ungeklärt: die Krise der Migration, der Brexit, die Repräsentationskrise der politischen Regime, oder die Krise der sogenannten „extremen Mitte“1. Dazu kommt aktuell noch die Krise des Spanischen Staats mit dem Aufstieg der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien. Und ein weiteres ungelöstes Thema ist die Position, die die EU in einer polarisierteren Welt einnehmen wird; gegenüber den USA unter Trump, Russland und in Bezug auf China als aufstrebende Macht. Merkel konnte bisher auf diese Fragen keine einheitliche Antwort in Deutschland und in der EU geben und darin liegt der Ursprung eines Großteils der Infragestellung der vorigen Regierung.
Die Krise Merkels ist die Krise der Europäischen Union.
Ein Großteil der Diskussionen während der Sondierungsgespräche der letzten Wochen drehte sich ja um europäische und internationale Fragen. Zum Beispiel die Migrationskrise, die einer der Schlüsselelemente dafür war, dass die Verhandlungen abgerbrochen wurden. Aber auch Themen wie der Klimawandel und die Position Deutschlands in Europa im Allgemeinen. Bei diesen internationalen Themen lagen die wichtigsten Differenzen zwischen den Parteien. Fragen, die beim Abbruch der Verhandlungen viel Gewicht hatten, angesichts der Rolle Deutschlands in der Europäischen Union.
Wie hat insbesondere die Migrationskrise die Verhandlungen beeinflusst?
In den Verhandlungen gab es einen ultrarechten Flügel: die CSU, die „Schwesterpartei“ von Merkels CDU in Bayern. Sie wollten eine Obergrenze für Geflüchtete. Die Grünen hatten das zu Beginn abgelehnt, aber während der Verhandlungen haben sie ihre Haltung immer weiter abgeschwächt und waren schließlich bereit, eine gewisse Quote zu verhandeln. In diesem Moment schien es so, als ob es angesichts des Einknickens der Grünen keine Hürden mehr für die Bildung einer Regierungskoalition gäbe; dennoch haben schließlich die Liberalen die Verhandlungen abgebrochen und dabei die Frage der Migration als einen der Gründe angegeben. Die FDP hat aktuell ein relativ isolationistisches Programm in Bezug auf europäische Fragen. So lehnen sie aus nationalistischen Gründen neue Rettungsschirme ab und haben auch mit der Frage des Asyls große Probleme.
Wir könnten also sagen, dass die Krise der deutschen Regierung eine Verbindung aus der Krise der EU und der Repräsentationskrise des Regimes und seiner Parteien ist…
Ja, so kann zum Beispiel der Aufstieg der AfD bei den Bundestagswahlen und den letzten Landtagswahlen als Resultat der Repräsentationskrise gesehen werden. Es ist spannend, das mit anderen Ländern zu vergleichen: Zum Beispiel hat sich die Krise im Spanischen Staat, Frankreich, Großbritannien oder Griechenland im Entstehen oder Stärken nicht nur rechter, sondern auch linker politischer Strömungen ausgedrückt. In Deutschland hat sich die Krise mit Ausnahme einiger kleiner Beispiele grundsätzlich eher nach rechts ausgedrückt. Und dort kann man sich die Frage stellen, welch Rolle die reformistische Linke, wie die Linkspartei, dabei spielte. Eine Partei, die während der letzten Wochen der Regierungsverhandlungen sehr passiv blieb und fast überhaupt nicht politisch aufgetreten ist. Auch jetzt, wo sich eine tiefe Krise eröffnet hat, bleiben sie merkwürdig schweigsam; es scheint, als ob die reformistische Linke keine unabhängige Alternative anzubieten hat. Sie lassen die Gelegenheit, vor Millionen von Menschen aufzuzeigen, dass die kapitalistischen Parteien der Mehrheit der Arbeiter*innenklasse nichts Gutes anzubieten haben, verstreichen. Gerade auch aufgrund ihrer internen Spaltung durch die Migrationskrise bleibt die Linkspartei sehr passiv, ohne Alternativen aufzuzeigen.
Wo wir von fehlenden Alternativen sprechen: Die SPD hat nach den Wahlen eine neue Regierung mit Angela Merkel abgelehnt, aber in der vergangenen Woche haben sie angekündigt, neue Verhandlungen aufzunehmen…
Die Sozialdemokrat*innen sagen jetzt, dass sie die Regierungsfähigkeit sichern werden. Zuerst hatte die SPD-Spitze nach der Ankündigung, dass die Regierungsbildung scheitert, noch gesagt, dass sie vor Neuwahlen keine Angst hätte und weiterhin keine neue Große Koalition bilden wollten. Das war am vergangenen Montag. Aber keine drei Tage später hatten sie ihre Position vollständig geändert. Der rechteste Flügel der Sozialdemokratie (darunter der Bundespräsident, Vertreter*innen von Landesregierungen, Sigmar Gabriel etc.) hat in den vergangenen Tagen verlauten lassen, dass man zeigen müsse, dass die SPD eine verantwortungsbewusste Partei sei, dass man die Republik nicht in die Krise stürzen dürfe, dass man Kompromisse machen und nicht naiv sein dürfe usw..
Der Druck des Establishments, der Medien und der ganzen politischen Kaste gegenüber der SPD war so stark, dass selbst Parteichef Martin Schulz, der am meisten gegen eine Neuauflage der Koalition war, nach einem Treffen mit dem Bundespräsidenten – der derselben Partei angehört wie Schulz – sagte, dass er einer Großen Koalition offen gegenüber stünde. Nun wird es eine Mitgliederbefragung in der SPD geben, ob eine solche Koalition gebildet werden soll oder nicht.
Natürlich können Neuwahlen oder eine Minderheitenregierung nicht ausgeschlossen werden, aber das Wahrscheinlichste ist nun die Variante, die noch vor einigen Tagen die unwahrscheinlichste schien: eine Neuauflage der Großen Koalition zwischen Merkels CDU und der SPD. Die deutsche Großbourgeoisie sucht Stabilität. Die Sozialdemokratie bietet sich an – wie schon häufiger in der deutschen Geschichte –, die Krise des Regimes zu lösen. Am wahrscheinlichsten ist es, dass die SPD Merkel erneut unterstützt, sie vor der Krise rettet und die Regierungsfähigkeit garantiert.
Und was sind die politischen Perspektiven, die sich im Falle der Bildung einer Großen Koalition ergeben? Was wird diese „Stabilität“ bringen?
Das wird die tiefergehende Krise nicht lösen. Die AfD wird sich zunächst einmal in die größte Oppositionspartei im Parlament verwandeln, was zum Beispiel heißt, dass sie nach den Regierungserklärungen das Erstrederecht haben wird. Sie werden also eine große Bühne bekommen. Und sie werden sich erneut als die einzige Partei präsentieren können, die Merkel nicht unterstützt, als eine konsequente Opposition, die nicht Teil des Establishments ist. Und das kann die AfD weiter stärken. Das hat natürlich seine Grenzen, denn die AfD hat viele interne Widersprüche; es gibt einen eher neoliberalen Flügel, der innerhalb der nächsten Jahre an die Regierung kommen will, während ein anderer Flügel offen faschistisch ist. Noch ist unklar, wie dieser Konflikt gelöst wird. Am kommenden 2. und 3. Dezember werden sie ihren Parteitag haben und eine neue Parteispitze wählen. Sie werden dort sicher die neue Situation nutzen, um viel Propaganda gegen den Rest der Parteien und gegen die Sozialdemokratie zu machen. Sie werden sagen, dass die AfD die einzige reale Alternative ist usw. Sie können dabei auch davon profitieren, dass von links bisher keine Alternative sichtbar ist, solange beispielsweise die Linkspartei, wie in den letzten Wochen, von der politischen Bühne ziemlich verschwunden ist.
Zum Schluss noch ein paar Worte zum Weiterdenken: Auch wenn es nun nach ein bisschen mehr Stabilität als noch vor ein paar Tagen aussieht bleiben weiterhin die tiefgründigen Widersprüche bestehen, die zu der Krise geführt haben: die Krise von Merkels CDU und die Krise der EU, wie ich sie am Anfang beschrieben habe. Und der Druck von rechts auf die Regierung wird auch steigen. Es wird also eine komplexe Situation sein, wo nicht sicher ist, dass die Große Koalition einen neuen Zyklus von Stabilität in Deutschland garantieren kann.
Dieses Interview führte Josefina L. Martínez. Im Original am 24. November 2017 bei La Izquierda Diario erschienen.
[1] „Extreme Mitte“ ist ein von Tariq Ali geprägter Begriff, der das politische Establishment im späten Imperialismus beschreibt, die „ununterscheidbare politische Elite“ der bürgerlichen Parteien.