„Die solidarische Stimmung war fast mit den Händen zu greifen“ – Interview mit Florian Wilde
Die Menschen im Hamburger Schanzenviertel räumen nun auf und feiern gelassen. Die Hubschrauber und die polizeiliche Besatzungemacht ist verschwunden – endlich ist die G20 vorbei. Jetzt geht es um die Deutung der vergangenen Tage. Ein Interview mit dem Hamburger Aktivisten Florian Wilde, der im Bündnis "Grenzenlose Solidarität statt G20" sowie in der Linkspartei aktiv ist.
Das war ein krasses Wochenende gerade. Wie fühlst du dich?
Meine Stimmung schwankt zwischen Entsetzen und Begeisterung. Ich bin entsetzt über einen in der letzten Woche völlig außer Rand und Band geratenen Polizeistaat und über die staatlichen Anschläge auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Begeistert bin ich, wie entschlossen und engagiert viele Menschen ihre Grundrechte gegen diesen Polizeistaat verteidigt haben. Trotz aller Gewaltszenen und medialen Hetze haben viele ihren Protest gegen die G20 auf die Straße getragen.
Wie sieht es jetzt bei dir vor der Haustür aus?
Seit etwa einer Woche hatten ununterbrochen Hubschrauber über unserer Wohnung auf St. Pauli gekreist. Ihr Rattern bildete, unterlegt vom fast unaufhörlichen Heulen der Polizeisirenen, den Grundsound zu den teils dystopischen Szenen der letzten Tage. Dieses Geräusch war unser ständiger Begleiter geworden. Das Gefühl der Anspannung ist nie gewichen.
Sonntag früh waren die Hubschrauber dann plötzlich weg, eine schon ganz ungewohnte Stille herrschte im Stadtteil. Auch die vorher wie eine Besatzungsmacht erscheinende und agierende Polizei war Sonntag endlich aus den Straßen verschwunden.
In den Medien klingt es teilweise so, als sei die Hamburger Innenstadt tagelang vom Islamischen Staat besetzt gewesen. Wie hast du die Gewalt erlebt?
Ich selbst habe vor allem schreckliche Szenen der Polizeigewalt mit ansehen müssen. Besonders krass fand ich den Überfall der Polizei auf die angemeldete, genehmigte und bis dahin völlig friedliche antikapitalistische Demonstration am Donnerstag.
Das war ein schlimmer Anschlag des rot-grünen Senates auf Versammlungsfreiheit. Gegen diese Polizeigewalt haben sich einige zu wehren versucht. Dabei sind dann auch Flaschen und Steine geworfen worden. Mir kam das eher wie eine verzweifelte und letztlich auch eher hilflose Reaktion im Angesicht einer eskalierenden Staatsmacht vor.
Ich war nicht dabei, als Autos angezündet und kleine Geschäfte entglast wurden, kann dazu also nicht aus erster Hand berichten. Das Einschlagen von Schaufensterscheiben kleiner Geschäfte oder von Wohnhäusern und das Anzünden von Kleinwagen ist aber wahrlich kein antikapitalistischer Akt, sondern einfach nur bescheuert. Zum Glück war es nur eine winzige Minderheit, die sich an solchen Aktionen beteiligte.
Auffällig war, dass die Polizei nicht eingriff, als Vermummte marodierend durch Altona zogen, oder als am Freitag Abend riesige Feuer in der Schanze brannten. Da sie über mehr als 20.000 Einsatzkräfte verfügten und sonst omnipräsent waren, liegt der Verdacht nahe, dass die Polizei die Randalierer*innen bewusst gewähren ließ, um unseren Protest zu diskreditieren.
Am Sonntag haben tausende Anwohner*innen das Schanzenviertel aufgeräumt. War das eine Art politische Kehrwoche der linken Szene?
Die Menschen beseitigten viele der Schäden der vergangenen Tage und feierten ausgelassen, dass der G20 endlich vorbei ist. Die Schäden, die ich noch feststellen konnte, gingen quantitativ etwas über das für die Schanze fast normale Maß hinaus – etwas mehr kaputte Fensterscheiben, etwas mehr kaputte Bankautomaten, als sonst bei Demos hier üblich. Vor den kaputten Bankautomaten wurden kostenlos belegte Brötchen und Getränke von Anwohner*innen ausgegeben. Niemand musste so hungrig sein, weil er sich kein Geld ziehen konnte.
Auf große Stellschilder schrieben viele Menschen ihre Meinung zu der Frage auf, was es in den letzten Tagen neben dem Chaos auch an Positivem gegeben hat. An anderer Stelle Wäscheleinen mit Zetteln, auf denen es Statements der Anwohner*innen gab. Viele kritisierten den G20, andere die Polizei, wieder andere die Autonomen. Bands gaben spontane Konzerte an der Straßenecke. In der Roten Flora gab es warmes Essen für Menschen, die zum Gipfelprotest in die Stadt gekommen waren.
Die über dem Viertel liegende gelöste und solidarische Stimmung war fast mit den Händen zu greifen. Ich empfand das als eine sehr schöne Form der kollektiven Verarbeitung der Ereignisse. Die Anwohner*innen haben sich nicht in eine passive Opferrolle drängen lassen, sondern die Dinge selbst in die Hand genommen.
Das gesamte Spektrum, das gegen die G20 mobilisierte, hat jeden Spaltungsversuch gut widerstanden. Wie war das möglich?
Naja, es gab ja einige Spaltungen. Zunächst hatten sich namhafte NGO’s wie Campact, der NaBu und der WWF sowie der DGB aus Angst vor möglichen Krawallen während der Gipfeltage von unserem Bündnis getrennt und für den Sonntag vor dem Gipfel zu einer eigenen Demo, der „Protestwelle“, mobilisiert. Dann haben auch die Grünen unser Bündnis verlassen, und mit der SPD zur „Hamburg zeigt Haltung“-Demo parallel zu unserer Großdemonstration aufgerufen.
Die „Protestwelle“ brachte mit großem Finanzeinsatz gerade mal 10.000 Menschen auf die Straße. Bei „Hamburg zeigt Haltung“ sollen es sogar nur 6.000 gewesen sein. An unserer „Grenzenlose Solidarität statt G20“-Demo am Samstag nahmen hingegen laut Demoleitung 76.000, laut „Hamburger Morgenpost“ sogar 100.000 Menschen teil. Politisch konnten wir die Spaltungsversuche also abwehren.
Dies liegt auch daran, dass es in Hamburg eine große, gut verankerte und bündnisfähige linke Szene gibt, mit engen Verbindungen zur Linkspartei, den Gewerkschaften und linksliberalen Medien. Und man hat in Hamburg in den letzten Jahren bereits viele Erfahrungen mit polizeilicher Repression und dem Widerstand dagegen gesammelt. Es war wirklich beeindruckend, wie cool die Menschen auf den ganzen Polizeistaats-Wahnsinn hier reagierten, und einfach weiter auf die Straße gingen.
Welche Bilanz ziehst du vom Ganzen? Also wer hat dieses Wochenende in Hamburg „gewonnen“, die Herrschenden oder die Beherrschten?
Ich halte es für einen großen Erfolg, dass trotz wochenlanger medialer Panikmache Zehntausende gegen den G20 auf der Straße waren, nicht nur am Samstag, sondern auch in den Tagen zuvor. In der gegenwärtigen Inszenierung einer globalen Polarisierung zwischen neoliberaler Mitte und Rechtspopulismus waren linke Alternativen in den letzten Monaten nur selten sichtbar. Mit unserem Protest konnten wir diese vermeidliche Polarisierung durchbrechen und ein weltweit wahrnehmbares Signal für antikapitalistische Alternativen setzen. Das halte ich für einen großen Erfolg der Beherrschten.
Nun versuchen CDU und SPD allerdings, ausgerechnet den Widerstand gegen Polizeistaat und Grundrechtsverletzungen zu kriminalisieren und in eine quasi terroristische Ecke zu stellen. Leider spielen ihnen einige unverantwortliche Aktionen der letzten Tage dabei auch in die Hände.
Diese Auseinandersetzung gilt es nun zu führen, und dabei die Rolle der Polizei als Aggressor zu benennen und ihre gezielte Eskalationsstrategie in Hamburg zu entlarven. Ich glaube, dass wir auch diese Auseinandersetzung gewinnen können, weil das Agieren der Staatsmacht so offensichtlich unverhältnismäßig und grundrechtsverletzend war.