Die sogenannte Gerechtigkeit
In Indien haben Tausende von Menschen in Neu Delhi, Hyderabad und Bangalore gegen die Gruppenvergewaltigung und Ermordung einer 27-jährigen Tierärztin durch vier Männer protestiert. Die Demonstrant*innen sind wütend über die Tatenlosigkeit der patriarchalen Regierung und die täglichen brutalen Vergewaltigungen und Misshandlungen von Frauen.
Beitragsbild: Frauen gedenken dem Opfer einer Gruppenvergewaltigung vor dem Mahatma Ghandi Denkmal in Neu-Delhi. Foto von Jordi Bernabeu Farrús via Flickr.
- Inhaltlicher Hinweis – Beschreibung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen
Im Zuge der aktuellen Massenproteste gegen Vergewaltigungen in verschiedenen indischen Großstädten versammelten sich in Hyderabad Demonstrierende vor der zentralen Polizeistation und forderten die Aushändigung der vier mutmaßlichen Vergewaltiger. Politiker*innen und Demonstrierende forderten eine beschleunigte Verurteilung der vier Mörder. Die Proteste wurden von weiteren schrecklichen Meldungen von Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen begleitet.
Am 28.11. wurde in Shadnagar, eine Stadt etwa 50km entfernt von Hyderabad im Bundesstaat Telangana, die verkohlte Leiche der 27-jährigen Tierärztin gefunden. Die Polizei informierte, dass die Frau schon in der Nacht des voran gangenen Mittwochs entführt worden sei. Sie war auf ihrem Weg zu einem Arzt und parkte ihren Scooter an einem großen Einkaufscenter. In ihrer Abwesenheit hatten die Tatverdächtigen vermutlich einen der Reifen zerstört. Als sie zurückkam, um mit ihrem Scooter weiterzufahren, kamen die mutmaßlichen Täter und boten der Frau Hilfe an. Das Opfer hat ihre Schwester angerufen, um ihr zu sagen, dass sie gerade in Not sei und eine Gruppe von Männern ihr Hilfe angeboten hat. Das Opfer hätte Angst gehabt, die Schwester hätte sie später versucht zurück zu rufen, doch das Handy war aus. Am Donnerstagmorgen wurde die verkohlte Leiche der Frau in einer Decke gefunden. Der Körper war mit Kerosin übergossen und angezündet worden.
Am 6.12. wurden die vier mutmaßlichen Täter von der Polizei ermordet. Die vier Männer wurden zum Tatort gebracht, um gegenüber der Polizei die Tat zu rekonstruieren. Sie haben dann angeblich die Polizisten angegriffen und versucht zu fliehen, woraufhin die Polizei alle vier erschoss. Für letztere ist der Fall nun abgeschlossen, da sie die vier Täter auf die mehrfach öffentlich ausgedrückte Forderung des Lynchens hin getötet haben. Kavita Krishnan von der All India Progressive Women’s Association sieht dies im Gespräch mit dem Fernsehsender Al-Jazeera völlig anders und glaubt dieser Berichterstattung nicht. Es sei ein Polizeimord an den unbewaffneten mutmaßlichen Tätern in Gewahsam gewesen. Dies habe nichts mit Gerechtigkeit zu tun.
Meenakshi Ganguly, Südasien Direktorin von Human Rights Watch, schreibt auf Twitter: „Um die öffentliche Wut über das staatliche Versagen bei sexuellen Übergriffen zu besänftigen begehen indische Behörden einen weiteren Verstoß. Bullen richten die Verdächtigen des Hyderabad-Mordes hin oder waren so inkompetent, dass sie sie aus der Haft entkommen ließen und dann auf sie schossen um zu töten, nicht um sie festzunehmen.“
Viele Inder*innen zeigten sich jedoch erfreut über den Mord an den angeklagten Vergewaltigern aus Frustration über das indische Justizsystem. In den letzten Jahren gab es zwar einige wenige Veränderungen in der Strafgesetzgebung Indiens, die längere Haftstrafen für Vergewaltiger vorsehen und auch Voyeurismus, Stalking und Frauenhandel als Straftat anerkennen, aber ist dies trotzdem nicht ausreichend. Die Strafgesetzgebung bei der Vergewaltigung von queeren Menschen ist noch verheerender und zeigt wie diskriminierend und transphob das Justizsystem in Indien ist. Die Strafe für Vergewaltigungen gegen cis Frauen liegt bei mehr als sieben Jahren, aber für die trans-Community liegt sie zwischen sechs Monaten und zwei Jahren, was im Jahr 2014 zur Kampagne #RapeIsRape geführt hatte.
Locket Chatterjee, Parlamentsmitglied von der regierenden, hindu-nationalistischen BJP schreibt zum Mord der Polizei: “Das ist ein sehr guter Schritt für unser Land. Ich habe mich wirklich gut gefühlt, als ich diese Nachricht am Morgen gelesen habe. Die Seele des Vergewaltigungsopfers muss jetzt Frieden finden. Ihre Familie muss Frieden finden. Solche Taten sollten legalisiert werden.“ Meenakshi Ganguly kritisiert, dass die Polizei sich nicht wie ein Gericht und Scharfrichter verhalten und Menschen nicht ohne Gerichtsprozess umbringen darf. Ein Mord darf nicht mit einem weiteren Mord vergolten werden.
Das eigentliche Problem sind patriarchale, homo- und transphobe Strukturen in Indien, die bekämpft werden müssen. Es bringt nichts Vergewaltiger zu lynchen, wenn nicht die patriarchalen Strukturen selbst verändert werden. Der Mord an den vier Tätern und damit die Schließung des Vergewaltigungsfalles vertuscht dabei das eigentliche Problem. Feminist*innen und Aktivist*innen in Indien sagen, dass die Regierung bei der Überprüfung der Verbrechen gegen Frauen und queere Menschen versagt hat.
„Die Tatsache, dass unsere Regierungen nicht genug tun, um die Straßen gut zu beleuchten und sicherer zu machen, damit Frauen in großer Zahl unterwegs sind, ist das Problem. Dass unsere Polizei die Schuldzuweisung für Opfer fördert, das ist das Problem. […] [Die] Justiz ist daran interessiert, die Sexualität von Frauen zu regulieren und sie zu verurteilen, anstatt ihnen Gerechtigkeit anzubieten“, erklärte Krishnan gegenüber Al Jazeera. Auch der stark hindu-nationalistische Charakter der Berichterstattung der Polizei wurde deutlich. Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass einer der Täter Moslem war und somit nahe gelegt, dass seine Religion das eigentliche Problem war, ohne auf die Religionsangehörigkeit der anderen drei einzugehen. Das Problem ist jedoch der patriarchale Staat in Indien, das Problem ist Respektlosigkeit gegenüber Frauen. Eine Frau solle sich nicht rechtfertigen müssen, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, sondern es müsse eine frauenfreundliche Atmosphäre hergestellt werden und es müsse geschlechtsspezifische Maßnahmen von den öffentlichen Institutionen geben, vor allem von der Polizei und der Justiz, so Krishnan.
Natürlich wurde in der öffentlichen Diskussion der Vergewaltigung der Tierärztin auch die Schuld beim Opfer gesucht. Ein Minister im Bundesstaat Telangana warf dem Opfer vor, nicht sofort die Polizei angerufen zu haben. Sie würde ansonsten heute noch am Leben sein.
Am Donnerstag, den 5.12., erzeugte eine weitere Meldung Schlagzeilen. Eine 23-jährige Frau erlag ihren Verbrennungen, nachdem sie zwei Tage zuvor von fünf Männern angezündet wurde, darunter zwei von ihr angeklagte mutmaßliche Vergewaltiger. 95 Prozent ihrer Haut waren verbrannt, weshalb sie im Krankenhaus an einem Herzstillstand starb. Am 12. Dezember 2018 war sie mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt worden. Ein mutmaßlicher Täter wurde inhaftiert, ist jedoch letzte Woche nach Bezahlung der Kaution freigelassen worden. Der Angriff passierte nachdem sie die mutmaßlichen Täter angezeigt hatte und im Unnao Distrikt, im Bundesstaat Uttar Pradesh, auf ihrem Weg zum Gerichtsprozess war.
Auch in Rajasthan entlud sich die patriarchale Gewalt: die Leiche eines kleinen Mädchens wurde halbnackt im Gebüsch gefunden. Sie wurde vergewaltigt und anschließend mit dem Gürtel ihrer Schuluniform erdrosselt. Die Polizei nahm einen 40-jährigen Hauptverdächtigen fest.
Die indische Regierung ist sexistisch, homo- und transphob, sowie patriarchal. Die hindu-nationalistische BJP-Regierung im Bundesstaat Uttar Pradesh wurde Anfang diesen Jahres von den Oppositionsparteien kritisiert, da sie ein Parlamentsmitglied der Partei schützten, der eine 19-jährige Frau vergewaltigt haben soll.
2017 hat die indische Polizei 32.500 Vergewaltigungsfälle von Frauen registriert, das sind durchschnittlich rund 90 Vergewaltigungen pro Tag laut National Crime Records Bureau (NCRB). Die Dunkelziffer soll jedoch viel höher liegen. Die Zahlen von queeren Menschen in Indien, die zu Opfern von sexualisierter Gewalt werden, sind schwer zu finden. Dies gibt einen Hinweis darauf, wie wenig die Leben queerer Menschen in Indien zählen. Viele Mädchen, Frauen und vor allem queere Menschen gehen mit ihrer Vergewaltigung nicht an die Öffentlichkeit aus Angst vor Stigmatisierung und Scham. Indien wurde von einer Umfrage der Thomson Reuters Foundation unter Gender-Expert*innen im Jahr 2018 als das gefährlichste Land der Welt für Frauen eingestuft.
Die Gruppenvergewaltigung und Ermordung der 27-jährigen Tierärztin und der 23-jährige Frau erinnert an den „Delhi Gang Rape“ 2012 (Gruppenvergewaltigung in Delhi), bei der die 23-jährige Studentin Nirbhaya von sechs Männern in einem Bus brutal vergewaltigt und gefoltert wurde. Sie erlag ihren inneren Verletzungen. Dies löste in vielen Städten Indiens mehrtägige Proteste und national sowie international Debatten um die Sicherheit von Frauen aus. Auch hier wurde dem Opfer die Schuld gegeben, denn sie hätte sich nicht zu spät in der Öffentlichkeit aufhalten sollen. Zusätzlich muss der „Delhi Gang Rape“ sowie auch die Vergewaltigung der 27-jährige Tierärztin als ein kritisches Medienevent betrachtet werden, das nähere Analysen bedarf. Vor allem in den europäischen Medien werden indische Frauen und queere Menschen als hilflose, passive Opfer in einer gewaltvollen, patriarchalen Gesellschaft dargestellt. Doch es gibt auch zahlreiche gut organisierte feministische und queere Widerstände in Indien mit unterschiedlichen Ausrichtungen, die unterschiedliche Protestformen organisieren und sehr konkrete Forderungen an die indische Regierung ausformuliert haben.
Diese feministischen Widerstände sollen bald in einer mehrteiligen Artikelreihe vorgestellt werden, angefangen mit der „Why Loiter?“-Bewegung.