Die RevolutionärInnen und die Frage der “linken Regierung”

14.06.2012, Lesezeit 15 Min.
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Die Wahlen vom 6. Mai haben gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit der griechischen Bevölkerung gegen die brutalen Sparprogramme der “Troika” (die EU, der IWF und die EZB) und der wichtigsten Parteien der Bourgeoisie sind. Der Untergang der traditionellen Parteien hat überwiegend Syriza genutzt: Eine linksreformistische Koalition, deren wichtigster Teil Synaspismos ist – eine alte, aus einer Spaltung der Kommunistischen Partei hervorgegangenen Formation, die gemeinsam mit anderen recycelten Kommunistischen Parteien wie der deutschen Linkspartei, der spanischen Izquierda Unida und der französischen Kommunistische Partei, die sogenannte Europäische Linke ausmacht. Syriza konnte ihren Stimmenanteil vervierfachen, wurde zur zweitwichtigsten Kraft nach den Wahlen und eröffnete eine bedeutende politische Krise, als sie sich weigerte, eine Regierung mit der sozialdemokratischen PASOK und der konservativen Nea Dimokratia zu bilden. Das eröffnete den Weg zu den Neuwahlen vom 17. Juni.

Das rasante Wachstum der Stimmen für Syriza ist der Gipfel einer tiefen gesellschaftspolitischen Polarisierung. Es ist Ausdruck von drei Jahren Anpassungsmaßnahmen und “Rettungen” sowie von fünf Jahren wirtschaftlicher Rezession in deren Folge. Das alles im Rahmen einer beispiellosen sozialen Krise und eines permanenten Widerstands der ArbeiterInnen, Jugend und verarmten Massen. Die andere Seite dieses Polarisierungsprozesses auf der elektoralen Ebene war der der rechtsextremen Neonazipartei “Goldene Morgenröte”, die im Zuge von wachsenden rassistischen Ressentiments die xenophob-nationalistische Karte ausspielte.

Zweifellos knüpft die politische Botschaft von Syriza, das “Memorandum” abzulehnen und gleichzeitig in der Eurozone zu bleiben, an das jetzige Bewusstsein von breiten Sektoren der ArbeiterInnenschaft, der „empörten“ Jugend und der im Zuge der Krise verarmten Massen an. Obwohl sie in den letzten zwei Jahren 17 Generalstreiks und unzählige Mobilisierungen gegen die brutalen Kürzungsmaßnahmen durchführten, haben sie angesichts einer fehlenden revolutionären Perspektive immer noch die Illusion, ihre Rettung sei nur innerhalb der Eurozone möglich.

Obwohl die Aussichten ungewiss sind, scheint sich entgegen der großen Zersplitterung der Stimmen, die die Wahlen vom 6. Mai kennzeichnete, für die nächsten Wahlen eine Tendenz abzuzeichnen, eine „nutzbare Stimme” im rechten wie linken Lager abzugeben. Die traditionell Rechtswählenden werden ihre Stimme für die Stellvertreter der rechten Parteien, Nea Dimokratia, abgeben. Im linken Lager wird die Stimmabgabe von der Vorstellung des “Möglichen” begleitet, die bei Syriza ausgemacht wird. Dies könnte zu einer bedeutenden Verringerung der Stimmen für die rechtsextreme “Goldene Morgenröte” sowie von traditionellen linken Organisationen wie der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) und Antarsya führen.

Nea Dimokratia und PASOK ­­– unterstützt von den großen imperialistischen Medien – haben ihre Kampagne darauf ausgerichtet, die Ängste der Mittelklassen zu schüren. Eine Regierung von Syriza werde sich als unfähig erweisen, den versprochenen Verbleib in der Eurozone zu verwirklichen. Sie malen den „Teufel“ an die Wand, der von einer Mehrheit zwischen 65 und 80 Prozent (je nach Umfrage) gefürchtet wird: Den Rauswurf aus dem Euroraum.

Um dieser Panikmache etwas entgegenzusetzen, hat Alexis Tsipras, wichtigste Figur von Syriza, immer wieder betont, dass er im Falle einer Regierungsbildung keine “unilaterale” Maßnahme ergreifen werde, die die EU beschädigt. So etwas wäre beispielsweise eine Nichtrückzahlung der Auslandsschulden. Noch weniger werde er Maßnahmen ergreifen, die die Banken bzw. die kapitalistischen Interessen schädigen würden. Gleichzeitig sucht er nach Verbündeten, wie dem französischen Präsidenten Hollande bis hin zu US-Präsident Obama. So versucht er Druck für einen Ausweg aufzubauen, der nicht nur auf Sparprogrammen basiert. Gleichzeitig verspricht Syriza, das Memorandum abzulehnen und mit Merkel und der Troika über das Verbleiben Griechenlands in der Eurozone zu verhandeln. Syrizas Rechnung besteht darin, dass der Austritt Griechenlands aus dem Euroraum die Anführer der europäischen Mächte teurer zu stehen kommen würde als die Verhandlung einiger Punkte der Sparmaßnahmen. Es droht eine Kettenreaktion, die Spanien, Italien und mit ihnen die gesamte EU in eine Krisenspirale hineinziehen könnte, was wohl Auswirkungen auf der ganzen Welt nach sich ziehen würde. Die Position von Syriza – die seit ihrem Wahlerfolg vom vergangenem Mai nichts anderes getan hat, als ihren Diskurs zu mäßigen –, zielt auf die Abschwächung des Drucks von EU und IWF und auf die Hoffnung, die Wirtschaft des Landes könnte sich erholen. Es wird auf eine wirtschaftliche Dynamik gehofft, um so die griechischen Verpflichtungen bedienen zu können und das Programm von „strukturellen Reformen“ in die Wege zu leiten. Allerdings zeigt die harte Haltung von Merkel, die vor allem die Interessen der deutschen Banken und deutschen GroßkapitalistInnen verteidigt, dass dieses reformistische Programm der „Eurorettung“, d.h., in erster Linie die Rettung der deutschen Banken und des kapitalistischen Europas (einschließlich der griechischen Bourgeoisie), und der griechischen ArbeiterInnen völlig utopisch ist. Syriza teilt in einem wesentlichen Punkt das Programm von Nea Dimokratia und PASOK, nämlich Griechenland als einen „lebensfähigen Kapitalismus“ im Euroraum darzustellen. Allerdings wollen sich die rechten Kräfte als wirksameres Mittel für dieses Ziel profilieren. Das erklärt ,wieso es in den letzten Umfragen keine Gewissheit mehr über den Sieg von Syriza gibt und weshalb die traditionelle Rechte von Nea Dimokratia Chancen auf den ersten Platz hat.

Die Illusionen einer “linken Regierung”, die sich mit dem Imperialismus versöhnen könne

Das Wahlphänomen Syrizas begeisterte viele Linke, die sich als trotzkistisch verstehen. Diese übernahmen sehr rasch die Losung einer „linken Regierung“, d.h., einer Regierung aus Syriza, der Griechischen Kommunistischen Partei (KKE) und der Demokratischen Linken (eine rechte Abspaltung von Syriza, die mehrere Abgeordnete von PASOK anzog), die aus den Wahlen vom 17. Juni hervorgehen könnte.

Die LIT (Internationale ArbeiterInnenliga, deren wichtigste Organisation die brasilianische PSTU ist) hat sich für die Bildung einer „Antikürzungsregierung“ ausgesprochen. In ihrer Stellungnahme ruft sie zum Aufbau einer „Linksfront“ auf, bestehend aus Syriza, der KKE, Neuer Demokratie (wir nehmen an, sie meinen die Demokratische Linke, A.d.A.) und weiterer linker Kräften wie Antarsya, die die Regierung übernehmen und ein Programm zum “Bruch mit der Troika” aufstellen soll. Dieses soll das Memorandum verurteilen und einen “echten Rettungsplan der ArbeiterInnen und des Volkes” aufstellen. Für die LIT würden manche RevolutionärInnen die programmatische Inkonsistenz von Syriza bezüglich einer revolutionären Politik – gemeint ist nicht weniger als ihr Reformprogramm für die imperialistischen Institutionen der EU – als einen “Vorwand” benutzen, um sich nicht einer „linken“, von Syriza angeführten Regierung, unterzuordnen. Die LIT beabsichtigt nicht einmal, sich programmatisch abzugrenzen, da sie sich dem Minimalprogramm „Antimemorandum“ vollkommen anschließt. Diese opportunistische und elektoralistische Politik, all jene zu vereinen, die “gegen die Rechte” sind, ist keine Neuigkeit für die LIT. Ihre portugiesische Sektion blieb im Bloco de Esquerda (port.: Linksblock), gemeinsam mit einer reformistischen und parlamentarischen Linken, die weit entfernt vom Klassenkampf agierte. Auch wirbt sie für eine “Regierungsalternative” zur Sozialistischen Partei gemeinsam mit der Kommunistischen Partei, die ähnlich wie Syriza eine Politik der Neuverhandlung der Auslandsschulden und der Anpassungsmaßnahmen vertritt und darüber hinaus eine Politik der Klassenversöhnung verfolgt, die die ArbeiterInnen mit jenen “Demokraten und Patrioten, die nicht für die Abschaffung der Souveränität ihres Landes sind”, zusammenzubringen beabsichtigt. (La República.es, 27.05.12).

Das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VS – von der die französische ex-LCR, die heute in der NPA ist, ein Teil ist) sagt es ganz ohne Umschweife und ruft direkt dazu auf, sich das 5-Punkte-„Notprogramm“ von Syriza zu eigen zu machen, das u.a. Forderungen wie die Annullierung des Memorandums, die Aussetzung der Zinszahlungen der Auslandsschulden und die wirtschaftliche Überprüfung zur Trennung zwischen „legalen“ und „illegalen“ Schulden, sowie die öffentliche Kontrolle der Banken (Tsipras stellte klar, dass es sich dabei nicht um eine Nationalisierung handle) beinhaltet. In einer öffentlichen Erklärung hat das VS offiziell dazu aufgerufen für Syriza zu stimmen, sogar gegen den Willen ihrer eigenen griechischen Sektion, OKDE-Spartakus. Diese nimmt an den Wahlen als Teil der antikapitalistischen Koalition Antarsya teil, bezeichnet das Programm von Syriza als reformistisch und hat nun angesichts der Erklärung des VS eine wichtige Debatte in ihren Reihen entwickelt. Die Führung des VS hat bisher keine einzige Schlussfolgerung über die Krise der NPA gezogen, die aufgrund ihrer fehlenden strategischen Definition und ihrer Aufbaumethode bei Wahlen und nicht im Klassenkampf offen opportunistische Strömungen hervorgebracht hat, die jeglichen Anspruch einer “antikapitalistischen Linken” aufgeben wollen, um mit der Linksfront von Mélenchon und der KPF zusammenzukommen, was zu Lähmung und Mitgliederschwund geführt hat.

Die GenossInnen der Partido Obrero [„Arbeiterpartei“, aus Argentinien. A.d.Ü.] haben sich auch diesem Chor aus Organisationen angeschlossen, die die Losung der “linken Regierung” gegen die rechten Parteien aufstellen. In einem in Prensa Obrera [Arbeiterpresse] erschienenen Artikel behauptet Jorge Altamira (Anführer der PO) – obwohl PO die Grenzen des reformistisch-utopischen Programms von Syriza sowie die offensichtliche Tatsache anerkennt, dass im Falle der Bildung der Regierung diese „Linke“ nur Zeit gewinnen würde –, “unter diesen Bedingungen stellen wir stärker als jemals zuvor die Losung nach einer ‘Regierung der gesamten Linke’ als Alternative gegen die Rechte auf“, was er mit der Forderung an sie ergänzt, sie möge “mit dem Imperialismus brechen, d.h., mit der Europäischen Union, antikapitalistische Maßnahmen ergreifen und eine ArbeiterInnenregierung voranbringen”. Da es in Griechenland keine Organe der kämpfenden Massen gibt, die dazu tendieren eine Doppelmacht zu schaffen [also räteähnliche Strukturen, A.d.Ü.], appelliert dieser Aufruf von der PO an den Willen der Syriza-Führung, eine ArbeiterInnenregierung „voranzutreiben“, womit sie – anstatt den Reformismus und den Pazifismus zu bekämpfen -, die parlamentarischen Illusionen der Massen bestärken, die von den Mittelinksparteien geschürt werden. Die Politik der PO besteht darin, „die Perspektive einer linken Regierung gegen die Rechten zu verteidigen, bei gleichzeitiger Denunziation des Charakters bzw. der strategischen Grenzen des Programms dieser Linken”. Somit legt sie eine kritische Unterstützung an einer von Syriza angeführten möglichen linken Regierung an den Tag, was selbst Altamira vor lediglich zwei Wochen als „die Gefahr einer opportunistische Politik“ bezeichnete, „wie es die Unterstützung – selbst im Falle einer ‚kritischen‘ Unterstützung – im Namen ‚des Kampfes gegen die Anpassungspolitik‘“ (Prensa Obrera 1222) wäre. Obwohl Altamira behauptet, dass er “die Wahlkampagne der griechischen revolutionären Linken – die EEK [die EEK ist Teil des CRCI („Komitee für die Wiedergründung der Vierten Internationale“), der auch die argentinische PO angehört. A.d.Ü.] – unterstützt”, bekräftigt er eigentlich Illusionen in Syriza und die reformistische Linke, die weit davon entfernt sind, eine ArbeiterInnenregierung anzustreben und sich stattdessen als einen Ablenkungsmechanismus im Dienste des griechischen Kapitalismus und der EU erweisen könnten.

Der Aufruf nach einer von Syriza angeführten möglichen “linken Regierung” trägt nicht dazu bei, dass Sektoren der ArbeiterInnen und der Jugend zur Schlussfolgerung gelangen, dass das einzige Programm, um den Kürzungen entgegenzutreten, ein antikapitalistisches und revolutionäres Programm sein kann. Im Gegenteil, er nährt die Illusion, es gäbe einen parlamentarischen und friedlichen Ausweg aus der Krise, ohne eine Auseinandersetzung mit den imperialistischen Institutionen wie der EU und ohne die Interessen der KapitalistInnen anzugreifen. Diese Politik ist im besonderem Maße opportunistisch. Besonders angesichts der möglichen Perspektive, dass durch die Verschärfung der Krise und durch einen Sprung im Klassenkampf offen konterrevolutionäre Tendenzen beflügelt werden, die mit der Zustimmung von Sektoren der Bourgeoisie und der verängstigten Mittelklassen agieren, wie sie heute von dem Aufstieg der Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ angekündigt werden. Das Argument einer “linken Regierung” ähnelt den Politiken der “morenoistischen” Strömung. Bei ihnen wird die Taktik der “Arbeiter- und Bauernregierung” als Aufforderung an reformistische bzw. kleinbürgerliche Führungen der kämpfenden Massen (im Gegensatz zu elektoralen Bewegungen) verstanden. Solche Aufforderungen erfolgen im Rahmen revolutionärer Situationen damit die Massen mit der Bourgeoisie brechen und selbst die Macht ergreifen. Das ist unauflöslich mit der Entstehung von Organismen von Doppelmacht „sowjetischer“ Art und einer kühnen Politik zur Entstehung derselben verbunden und wird durch die elektorale Unterstützung von Personen und Programmen der Klassenversöhnung verfälscht. Die Politik von PO passt sich dieser Vorstellung an.

Die griechischen ArbeiterInnen und Jugendlichen haben bisher einen großen Widerstandswillen und eine große Kampfbereitschaft zur Bekämpfung der Kürzungspläne auf den Straßen gezeigt. Eine Minderheit von politisch fortschrittlichen Sektoren der ArbeiterInnenschaft haben sogar ihre Arbeitsstätten besetzt. Dennoch wurden diese Aktionen und ihre Kampfenergie bisher von einer den Interessen der Bosse dienlichen Gewerkschaftsbürokratie kanalisiert. Deren isolierte Streikaktionen haben eine Entwicklung von Tendenzen zum unbefristeten Generalstreik verhindert. In dieser Situation stellt die KKE mit ihrer Politik der Selbstprofilierung und des Sektierertums (mit einem reformistischen und elektoralistischen Programm) eine Hürde zur Entwicklung der proletarischen Einheitsfront dar. Sie trägt Mitschuld an der jetzigen Situation. Um die Pläne der EU und der griechischen Bourgeoisie zu besiegen, bedarf es eines revolutionären Programms, das eine Antwort auf die Offensive der KapitalistInnen gibt, damit diese die Kosten der Krise selbst tragen. Dieses Programm muss dringende Maßnahmen, wie die Streichung der Auslandsschulden und die Rücknahme der Kürzungsprogramme, mit Übergangsmaßnahmen verbinden. Letztere wären Maßnahmen wie die Nationalisierung des Bankensektors unter ArbeiterInnenkontrolle, die Enteignung der GroßkapitalistInnen und die Perspektive der Errichtung einer Regierung der ArbeiterInnen und verarmten Massen, die auf Organen der ArbeiterInnendemokratie basiert. Eine solche Regierung muss sich als ersten Schritt im Kampf um die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa verstehen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 7. Juni 2012 hier auf Spanisch.

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