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Die Radikalität der Gelbwesten – Perspektiven einer Bewegung

06.03.2019, Lesezeit 20 Min.
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Die deutsche Debatte um die Gelbwesten ist weiterhin geprägt von mangelnder Information, Desinteresse und unzähligen bizarren Analysen. Unsere Autorin Sophia Slamani bietet in diesem Artikel, der ursprünglich für das Lower Class Magazine verfasst wurde, eine andere Perspektive auf die Bewegung.

Anders als von Vielen prognostiziert und von der Regierung Macron gehofft, hat sich die Bewegung keinesfalls in Luft aufgelöst. Während sie vom Großteil der Bevölkerung unterstützt wird, berichtet man ob in Frankreich oder in Deutschland weiterhin gerne vorrangig über „Krawallmacher“ und „Extremisten“. Die Ziele der Bewegung werden entweder als zu radikal und unrealistisch verschrien oder auf Veränderungsmöglichkeiten im Rahmen der parlamentarischen Demokratie reduziert. Was vor Ort passiert, zeichnet ein sehr anderes Bild.

Wo steht die Bewegung?

Die Proteste haben sich zunehmend radikalisiert und ragen in Schlagkraft, Ausmaß und dem Rückhalt in der Bevölkerung über die 68er-Bewegung hinaus. Auch wenn es falsch wäre, zu behaupten, dass wir gerade eine Revolution erleben, bietet der radikale Bruch der Bevölkerung mit dem Staat und seinen Institutionen die Voraussetzung für revolutionäre Veränderung. Die Bewegung zeigt in ihrem Herzen eine Perspektive gegen die Alternativlosigkeit und den scheinbar besiegelten Gewinn des Kapitalismus als einzig möglicher Wirtschaftsform. Wenn die Regierung eines der mächtigsten Länder der Welt ins Taumeln gerät, sendet dies auf globaler Ebene eine unverkennbare Botschaft. Dies zeigt sich auch an den unzähligen Protesten, die das Symbol der gelben Weste weltweit aufgegriffen haben. Die Bilder des Boxers, welcher die Polizei mit gezielten Schlägen in die Schranken weißt und die vom Tränengas eingenebelten Innenstädte, lassen an der Radikalisierung der Proteste keinen Zweifel. Es bilden sich in vielen Städten öffentliche Generalversammlungen, in denen über die Ziele der Bewegung, die notwendige Politik und die Organisation des Protestes debattiert wird. Weder der Front National noch die Opposition unter Melenchon haben es geschafft eine ernsthafte Macht in den Protesten zu gewinnen; das Misstrauen in die traditionellen politischen Institutionen bleibt weiterhin vorhanden.

Aktion-Reaktion – Die Regierung unter Druck

Die Spontanität der Gelbwesten hat viele überrascht. Die unerwartete Offensive der französischen Bevölkerung zeigt die strukturelle Schwäche, welches das Projekt Macron von Anfang an in sich trug. Die scheinbare Leichtigkeit mit der die Reformen im ersten Jahr seiner Amtszeit verabschiedet wurden, war bedingt durch den Ausschluss jeglicher regulativer Organe und Institutionen. Wo sonst nach sozialdemokratischer Manier versucht wurde, Profite gegen die sinkenden Löhne und den damit einhergehenden Unmut der Bevölkerung auszuhandeln und Gespräche zu führen, prescht Macron mit all seiner Macht vor. Doch eben diese offensive Politik gegen die französische Bevölkerung zeigt sich jetzt im Gegenzug in der explosiven Radikalität einer Bewegung, die händeringend versucht den Präsidenten zu stürzen. Die endgültige Neoliberalisierung ist noch nicht besiegelt, auch wenn in Frankreich alle Mittel des Staatsapparates aufgefahren werden, um die eigene Bevölkerung einzuschüchtern und den Aufstand mit Gewalt niederzuschlagen. Seit Beginn der Bewegung ist der Präsident der 5. Republik massivem Druck ausgesetzt und hat sich aus vielen internationalen Geschäften zurückgezogen, da es die Lage in Frankreich zu kontrollieren gilt. Seit Wochen ist er kein einziges Mal in der Öffentlichkeit aufgetreten. Besuche von Politiker*innen, Militärbasen und andere Regierungsgeschäfte geschehen hinter verschlossener Tür; manchmal werden wenige Journalist*innen informiert, um Bericht zu erstatten. Hin und wieder gibt es Fernsehansprachen und Versuche der Beschwichtigung, doch er scheint zu wissen, wie riskant es für ihn wäre, sich öffentlich blicken zu lassen. Womöglich hat er Angst, dass es ihm gehen wird wie seinem vertrauten Sekretär für Finanzen und Wirtschaft, Benjamin Griveaux, welcher jüngst die Tür seines Ministeriums durch einen von Gelbwesten durchgeführten Gabelstaplerangriff verlor.

Macrons Antwort

Einer spontanen und zutiefst aufständischen Massenbewegung ausgesetzt, welche keine Repräsentanten und offiziellen Wortführer hat und sich nicht mit Frage-Antwort-Stunden hinter verschlossenen Türen abfindet, versucht Macron mit lächerlichen Angeboten entgegenzutreten. Etwa durch eine fiktive Steigerung des Mindestlohns, welche bereits lange geplant war und effektiv nichts verändert, oder die nicht-Besteuerung von Überstunden für Unternehmer, welche deren Profite maximiert und für die arbeitende Bevölkerung keine Relevanz hat. Um die größte Regierungskrise, seit 68 zu bewältigen, schreibt Macron einen “Brief an die Franzosen”, in dem er an die Gutmütigkeit seiner Bevölkerung appelliert; gefolgt von der “Großen Debatte” – einer inszenierten Diskussion mit von der Regierung gesetzten Themen. Macron gibt sich in dieser als verständlichen Landesvater, trifft sich mit Bürgermeister*innen und lokalen Politiker*innen und versucht so, den Unmut der Proteste zu besänftigen. Doch seine Versuche werden von wenigen in der Bewegung ernst genommen. Sie treffen auf blanken Hohn und haben die gewollten Effekte verfehlt.

Im Vordergrund der Debatte stehen öffentliche Ausgaben und Steuergesetze. Jedoch geht es mit Nichten um die Themen, die in der Bewegung diskutiert werden. Die Forderungen der Gelbwesten finden keinen Platz in Macrons Debattierprojekt. Da wären beispielsweise das „CICE” – ein Projekt welches vorsätzlich zur Schaffung von Arbeitsplätzen dient und seit 2013 40 Milliarden im Jahr an Konzerne zahlt, um diese wettbewerbsfähiger zu machen. Auch die Reichtumssteuer („ISF”) wurde schon im Vorfeld aus der Debatte gestrichen. Die Steuer, welche nur den reichsten Teil der Bevölkerung betraf, wurde zum ersten Januar 2019 abgeschafft. Ihre Wiedereinführung ist eine der prominentesten Forderungen der Bewegung, doch das Ergebnis der von Macron einberufenen Debatte ist voraussehbar enttäuschend. Sie ist undemokratisch und bietet denjenigen, die zu Tausenden für eine radikale Veränderung der Zustände in Frankreich kämpfen, keine Perspektive.

Doch es geht auch nicht darum, ernsthaft über Alternativen oder Perspektiven zu diskutieren. Macron wiederholt nur allzu gern seine Formel: „Wir können, egal unter welchen Umständen, keine Steuerreduzierungen durchführen, ohne die öffentlichen Ausgaben zu kürzen”. Seine “Große Debatte” hat als Antwort auf soziale Probleme, mangelnde öffentliche Versorgung und Prekarität nichts neues zu bieten. Die Fragen, die sich in den Forderungen der Bewegung wiederfinden und den Aufstand befeuern, bleiben unbeantwortet. Macron bewegt sich im Rahmen der bekannten neoliberalen Floskeln: Reichensteuern könne man nicht einführen, denn sonst wandern Investoren ab, Arbeitsplätze gingen verloren und der Markt müsse möglichst flexibel bleiben. Es geht in der Debatte nicht darum ernsthaft mit Arbeiter*innen über Alternativen zu diskutieren, sondern darum sie zu fragen, in welcher Weise sie sich gerne weiter ausbeuten lassen möchten. Es wird diskutiert, welche öffentlichen Ausgaben zum Schutze der Profite geopfert werden sollen. Das ist der gesetzte Rahmen des Diskurses, welcher die möglichen Lösungen auf ein Minimum reduziert.

Vorsätzlich zeigt Macron Bereitschaft, sich den Sorgen seiner Bürger zu stellen, doch die fordern bereits seit Monaten sehr viel mehr, als mit ihrem Präsidenten reden zu dürfen. Ludwig der 16. hat im Zuge der französischen Revolution ähnliche Taktiken angewandt und Beschwerdehefte in den Kommunen ausgelegt um sich nach den Sorgen und Nöten der Leute zu erkunden. Doch sein Versuch stieß, wie der von Macron, auf eine nicht zu besänftigende Masse, welche ihm Spott und Hohn entgegenbrachte, bevor er letztendlich seine Macht und seinen Kopf verlor.

Die „Große Debatte” soll noch bis zum 15. März weiterlaufen, doch die Gelbwesten zeigen ein ausgeprägt geringes Interesse an dieser Art von Beschwichtigung. Wenn Macron jetzt mit Unternehmen, Vereinen und Kommunen diskutiert, dann ist das ein Tropfen auf dem heißen Stein einer Bewegung, die keine Vertreter*innen hat und parteiliche und gewerkschaftliche Anführer*innen in ihren Grundsätzen ablehnt, da sie sich seit Jahren nicht von ihnen repräsentiert fühlt. Macron kann also lediglich an die Zivilgesellschaft appellieren. Er versucht sich in freundlichem Licht präsentieren, doch er stößt auf Zynismus und Zorn. Verständlich, wenn man betrachtet, mit welchen Mitteln die Regierung den Gelbwesten von Anfang an begegnet. Wir sehen dort keine „Große Debatte“, keinen demokratischen Diskurs. Was wir sehen sind Schlagstöcke, Wasserwerfer und Tränengas.

Weiche Worte, harte Schläge

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Seit Beginn der Proteste im November gibt es insgesamt rund 3000 Verletzte, ein Dutzend Tote und mehr als 400 schwere Verletzungen, darunter komplett abgerissene Hände, Füße und Ohren durch die Benutzung von Granaten und “LBDs”. Hierbei handelt es sich um kleinkalibrige Waffen, welche euphemistisch als “Werfer von Verteidigungskugeln” bezeichnet werden und außerhalb von Frankreich in ganz Europa verboten sind. In den letzten drei Monaten wurden 12000 dieser Geschosse von der Polizei abgefeuert. Das EU Parlament verurteilt den Einsatz und fordert die französische Regierung auf, den Gebrauch zu unterlassen. Ebenso wurden an die 50 Journalist*innen und Dutzende Sanitäter*innen verletzt. Der Innenminister Castaner verkündete, dass “diejenigen, die morgen zu Demonstrationen aufrufen, wissen dass es Gewalt geben wird und somit Verantwortung tragen”. Daraufhin gab es 500 Beschwerden, welche eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit anprangerten, von denen keine einzige weiter bearbeitet wurde. Die Polizei ist zunehmend aggressiv, hat die Konzentration des viel eingesetzten Tränengas erhöht und bewaffnete Motorradstaffeln wiedereingeführt.

Zudem hat das Parlament am 5. Februar mit 372 zu 92 Stimmen die “Anti Randalierer Gesetze” (loi anticasseurs) erlassen. Von der Polizeigewerkschaft vorgeschlagen und unter anderem von Le Pen und dem Front National (FN) unterstützt sind sie ein Schlag ins Gesicht derer, die ihr Recht auf Versammlungsfreiheit und Protest wahrnehmen.

Zu Allererst werden Durchsuchungen im Vorfeld von Demonstrationen rigoroser durchgeführt. Jegliches Material wie Brillen, Schals, Mützen oder Handschuhe, welche den geringsten Schutz gegen die polizeiliche Repression bieten werden konfisziert, da sie als passive Bewaffnung gewertet werden. Zudem wird Präfekten das Recht eingeräumt Demonstrationsverbote zu verhängen, was bis jetzt der Justiz vorbehalten war. Bei nicht Einhaltung erfolgt ein Eintrag in die Liste zu überwachender Personen. Des Weiteren, wird die Vermummung des Gesichts bei Demonstrationen mit bis zu einem Jahr Gefängnis und 15.000€ bestraft. Dazu gehören auch Ski- und Gasmasken, ohne die das Tränengas der Polizei unmöglich auszuhalten ist. Wenn Demonstrant*innen nach mehreren Aufforderungen einen Ort nicht verlassen, droht ihnen die sofortige Vorführung vor einen Strafrichter, was eine faire Verhandlung mit anwaltlichem Beistand unmöglich macht. Schon jetzt werden an die 150 Gelbwesten systematisch überwacht und abgehört und lokale Anführer der Proteste wie Eric Drouet oder Jerome Rodrigues wurden von der Polizei schwer verletzt oder festgenommen.

Der französische Staat, der auf medialer und diplomatischer Ebene weiterhin versucht das liberale, demokratische und gerechte Bild einer westlichen Demokratie aufrecht zu erhalten zeigt in der Repression auf den Straßen sein wahres Gesicht. Die Regierung scheint unter genügend Druck zu stehen, um mit solcher Härte vorzugehen, doch zugleich verliert sie damit nach und nach den mit Grundrechten bepinselten Schleier ihrer sogenannten Demokratie. Während Macron den US-amerikanischen Imperialismus in Venezuela unterstützt und sich international als Verteidiger der Demokratie präsentiert, lässt er Protest im eigenen Land blutig niederschlagen und beschneidet die Grundrechte. In Zeiten der Krise wird die Heuchelei der Regierung erneut zu Tage gebracht.

Der 5. Februar als Ausgangspunkt für den Generalstreik

Weit davon entfernt, die Masse der Bevölkerung zu vertreten, fanden sich die Gewerkschaften durch die Bewegung in einer marginalen Position und haben es bis jetzt geschafft, eine Pufferzone um die organisierte Arbeiter*innenbewegung zu bilden. Dennoch werden sie von den Gewerkschaftler*innen an der Basis unter Druck gesetzt, welche in großen Teilen an den wöchentlichen Demonstrationen teilnehmen. So hat die Führung der CGT am 5. Februar zu einem sektorübergreifenden Streik aufgerufen. Auch wenn der Aufruf mit all seinen Grenzen erst Monate nach dem Beginn der Bewegung kam, ist er ein wichtiger Pfeiler. Die Perspektive des Streiks findet immer mehr Zuspruch in der Bewegung; mit mehreren Teilen, die zu einem unbegrenzten Generalstreik aufrufen. Dass am 5. Februar die öffentlichen und privaten Sektoren zusammen mit Rentner*innen und Studierenden auf den Straßen waren, liegt zum einen an den organisierten Arbeiter*innen, die sich seit Wochen an den Samstagsdemonstrationen beteiligen, sowie am CGT-internen Protest, der sich der staatstragenden Position entgegenstellte.

In einer ohrenbetäubenden Stille haben die großen Medienhäuser nur sehr wenig vom Streik berichtet. Die Tagesschau stellte beispielsweise am Abend des Fünften fest, dass an diesem Tag auch Gewerkschaftler*innen an den Demonstrationen teilgenommen hätten, was der Realität eines Streiks nicht im geringsten entspricht. Laut Zahlen der CGT hatten in gemeinsamen Demonstrationen, Aktionen und Blockaden in ganz Frankreich 300.000 Menschen demonstriert, um auf das soziale Dilemma zu antworten. Dort wo die gewerkschaftliche Führung, trotz des Aufrufs zum sektorübergreifenden Streik, noch immer Vorbehalte gegenüber der Bewegung hat, sind es Gewerkschaftler*innen an der Basis, die begriffen haben, dass es einen gemeinsamen Kampf mit den Gelbwesten zu führen gibt. Zudem gab es auch nach dem 5. Februar vermehrt lokale Streiks, die sich in die Bewegung einreihen. Am 18. Februar streikte die Mehrheit der Belegschaft einer Schokoladenfabrik Nahe Tours, am Tag darauf 200 Beschäftigte einer Airbus-Tochterfirma. Arbeiter*innen von Bayer befinden sich bereits in der 11. Streikwoche gegen die Kündigung ihres gewerkschaftlichen Vertreters. Es liegt an den Arbeiter*innen selbst, Arbeit an der Basis zu leisten und die Gewerkschaften wieder zu selbstorganisierten und kämpferischen Instrumenten zu machen. Denn momentan geben sie aufgrund der Bürokratisierung und der staatstreuen Verhandlungspolitik keine Perspektive für radikale Veränderung.

Auch die Studierenden, die sich in den Wochen vor dem Streik ein wenig zurückgezogen hatten, haben auf den Aufruf geantwortet. An 2 Dutzend Universitäten sind jeweils hunderte Schüler in Generalversammlungen zusammengekommen und viele wurden blockiert. Vielen Studierenden ist klar, dass es Verbindungen zwischen ihnen und den Gelbwesten gibt. An den Samstagen rufen sie: „Gelbwesten und Studierende, selber Macron, selber Kampf!“. Die Forderungen beider gehen Hand in Hand, da sie der selben Prekarität, dem selben Hoffen um einen stabilen Arbeitsplatz und der selben polizeilichen Repression ausgesetzt sind.

Forderungen, Perspektiven und Grenzen der Bewegung

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Die Bewegung der Gelbwesten hat es zweifellos geschafft, eine seit Jahren nicht gesehene Angst bei den französischen Eliten auszulösen. Diese Angst beschränkt sich nicht auf eine verlorene Wahl oder eine missglückte Reform. Es ist die Angst vor der Revolte, die Angst vor dem populären Aufstand, die Angst vor dem Machtverlust durch eine nicht zu kontrollierende Wut. Ja, die Angst ist ins andere Lager gewechselt, denn die Bewegung ist mit zunehmender Polizeigewalt gewachsen, anstatt sich einschüchtern zu lassen. Gleichzeitig stellt die Konzeption des eigenen Lagers ein Problem dar, weil die Gelbwesten sich nicht unbedingt als Klasse sondern als Volk definieren. Damit eröffnet sich eine populistische Konzeption der Bewegung, welche mit ihren klar antikapitalistischen Forderungen im Konflikt steht. Denn auch bürgerliche Anti-Gelbwesten Demonstranten behaupten das Volk zu sein. Wenn die Gelbwesten sich als Teil des Volkes sehen und nicht als Teil einer Klasse dann stellt sich die Frage ob sie es schaffen ihre Ideen, gegen die der Bourgeoisie zu stellen und ihre eigenen Interessen als Klasse zu vertreten.

Vielleicht sollten wir fragen wer das Volk ist? Für die Gelbwesten sind das diejenigen, die nicht in der Regierung sitzen, diejenigen die keine politische Macht inne haben. Die Bewegung richtet sich im Kern gegen Macron, gegen Politiker*innen, gegen die repräsentative Demokratie mit ihren Parteien und bürokratisierten Gewerkschaften, welche ihre Interessen seit Jahrzehnten nicht vertritt. Somit ist die Forderung von Volksentscheiden nach Bürgerinitiative (“RIC”), zu einer zentralen Forderung der Bewegung geworden. Sie ist eine Forderung nach mehr politischer Macht für die Basis des Volkes. Die Idee ist das Verfassen neuer Gesetze, das Außerkraftsetzen von Gesetzen, die Veränderung der Verfassung sowie das Absetzen von Abgeordneten durch Volksentscheide zu ermöglichen. Jedoch wird die Beziehung zwischen Arbeit und Kapital nicht in Frage gestellt. Denn wenn es keine Kontrolle über die Wirtschaft gibt, dann bleibt ein Volksentscheid in der selben Illusion einer Demokratie gefangen, welche eigentlich von den Gelbwesten kritisiert wird. Dies ist auch der Fall in Ländern wie der Schweiz oder Italien, wo ähnliche Volksentscheide bereits existieren. Denn die politische Macht bleibt grundsätzlich auf der Seite des Kapitals. Die Interessen der Bewegung werden nur dann respektiert, wenn der politische Druck groß genug ist. Wie dieser Druck nachhaltig aufgebaut werden kann, bleibt die zentrale Frage.

Ein grundsätzliches Problem von Volksentscheiden bleibt, dass sie eine demokratische Entscheidung des Volkes erzielen wollen, ohne einen Raum für Diskussion zu geben, welcher nicht durch die Meinung der Herrschenden dominiert ist. Ein solcher Raum wird in diesen Tagen in der Bewegung geschaffen. Die Gelbwesten organisieren sich vielerorts in Generalversammlungen um ihre Forderungen zu diskutieren, politische Debatten zu führen und sich auf Aktionsmöglichkeiten zu verständigen. Am 26. und 27. Januar gab es eine übergeordnete Versammlung in der sich hunderte lokale Delegationen trafen um eine demokratische Form der Organisierung zu finden und über die notwendigen Schritte zur Weiterführung der Bewegung zu diskutieren. „Nicht rassistisch, nicht sexistisch, nicht homophob, stolz auf unsere Verschiedenheiten um eine solidarischen Gesellschaft zu bauen.“, lautete das Motto. Sie rufen dazu auf „ab dem 5. Februar die Aktionen weiterzuführen, die Blockaden von Kreisverkehren und Wirtschaft weiterzuführen und einen massiven und verlängerbaren Streik aufzubauen“ und „Komitees an Arbeitsplätzen, Universitäten und überall anderswo zu bilden, damit der Streik von den Streikenden selber geführt wird“. Eine weitere übergeordnete Versammlung ist in Planung.

Es steht außer Frage, dass die Bewegung in ihren politischen Ideen heterogen, konfus und auch nationalistisch ist. Doch gerade die Beteiligung rechter Gruppen und Ideen bringt gleichzeitig auch die Notwendigkeit, sich zu positionieren und zu intervenieren um menschenverachtenden und rassistischen Ideen den Platz zu nehmen. Auch wenn die Gelbwesten sich nicht als soziale Klasse betrachten, bestehen sie zu großen Teilen aus Arbeiter*innen, welche eine gemeinsam erfahrene Unterdrückung sehr bewusst wahrnehmen. Die Bewegung selbst hat eine neue Brüderlichkeit, zwischen den Menschen geschaffen, welche es Rechten schwierig macht ihre Ideen durchzubringen. An vielen Orten wurden Rechte und Nationalisten aus den Reihen der Gilets Jaunes ausgeschlossen. Sie haben deshalb wenig andere Wahl, als ihre Gegner mit roher Gewalt zu bekämpfen und sich, wie der Front National bei Erlassung der jüngsten Polizeigesetze, auf die Seite des Staates zu schlagen. In mehreren Fällen halfen rechte Gruppen der Polizei Demonstrant*innen festzunehmen und Demonstrationen zu behindern.

Oft wird die Bewegung als apolitisch bezeichnet. Doch, wenn sich die Gelbwesten weigern sich der Führung von Parteien und Gewerkschaften unterzuordnen, dann ist das weit entfernt davon apolitisch zu sein. Sie ist und bleibt die politischste Bewegung die Frankreich seit Jahren gesehen hat. Die Forderungen nach mehr Lohn, Abschaffung des Senats und Begrenzung von Politiker*innengehältern sprechen für sich. Die Bewegung ist politisch, nur akzeptiert sie keine Definition, nach der Politik sich auf die Angelegenheiten des Staates beschränkt. Sie fordert eine andere Politik, eine der Arbeiter*innen, die für ihre Arbeit angemessen bezahlt werden wollen, die ein funktionierendes Gesundheitssystem, eine hochwertige Bildung, vernünftige öffentliche Versorgung, Zugang zu Kultur, Kunst und Urlaub verdient haben. Sie sollte also nicht nur Macron angreifen, sondern das Lager was er vertritt: die Bourgeoisie, welche entgegen der Interessen der Arbeiter*innen handelt. In den letzten Wochen lassen sich Tendenzen einer Institutionalisierung der Bewegung erkennen: Verhandlungen mit der lokalen Regierung, Ordner*innen, die mit der Polizei kollaborieren oder das Aufstellen von Listen zur Europawahl, über die Macron sich aufgrund ihres geringen Veränderungspotenzials mit Sicherheit freut. Deshalb sind Selbstorganisierung und Unabhängigkeit der Bewegung wichtiger denn je. Das Auftreten einer organisierten Arbeiter*innenbewegung könnte die politische Situation kippen lassen und die Bewegung voranbringen, die sich ihrem Mangel an Strategie, Organisierung und politischer Erfahrung stellen muss.

In Deutschland scheinen viele weiterhin verwundert, dass die Forderungen einer sehr jungen politischen Bewegung nicht dem radikalen oder revolutionären Konsens mancher Aktivist*innen entsprechen. Wenn wir eine Politik verfolgen würden, welche ernsthaft versucht die prekäre deutsche Bevölkerung anzusprechen und die offensichtlichen sozialen Probleme des Neoliberalismus massenhaft anzugreifen, dann würden wir vielleicht verstehen, dass revolutionäre Veränderung nicht von zehntausenden Menschen ausgeht, die von Anfang an die gleiche Analyse teilen. In Frankreich öffnet sich momentan ein neuer politischer Raum. Es werden wieder strategische Diskussionen geführt und radikale und revolutionäre Ideen beginnen mehr Zuspruch zu finden. Wie die Bewegung es schafft ihre Interessen und Ideen erfolgreich durchzusetzen, steht zur Debatte. Doch die Debatte findet in diesem Moment statt und das sollten wir nicht unterschätzen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Lower Class Magazine, die Übersetzung wurde besorgt von Henri Walther. Bilder von Johan Px Photographie.

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