Die politische Krise in Georgien ist voller Widersprüche 

20.12.2024, Lesezeit 10 Min.
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Foto: George Khelashvili/shutterstock.com

Inmitten von Verhandlungen und Erpressungs-Vorwürfen hat die Ankündigung der georgischen Regierung, die EU-Beitrittsgespräche auszusetzen, zu großflächigen Protesten im Land geführt, bei welchen sich die Bevölkerung zu großen Teilen für einen Beitritt einsetzte.

In Georgien hat die Partei Georgischer Traum (RG), welche bei den Wahlen am 26. Oktober die Parlamentswahl gewann, angekündigt, die EU-Beitrittsgespräche auszusetzen. Vor allem in Georgiens Hauptstadt brachen daraufhin Demonstrationen aus, auf denen von den Protestierenden neue Parlamentswahlen gefordert wurden. Während Analytiker:innen die Dynamiken in Georgien oft auf einen Konflikt zwischen pro-russischen Parteien auf der einen und pro-europäischen auf der anderen Seite reduzieren, ist die politische Situation tatsächlich um einiges komplexer. 

Am 28. November kündigte der georgische Premierminister Irakli Kobachidse an, die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 auszusetzen und beschuldigte Brüssel der Bestechung. Diese Ankündigung erfolgte nur Stunden nachdem das Europäische Parlament abgestimmt hatte, die Wahlen vom 26. Oktober nicht anzuerkennen, in welchen die regierende Partei die Mehrheit der Sitze im georgischen Parlament gewonnen hatte. Diese Entscheidung des europäischen Parlaments, welche in den Medien kaum Beachtung fand, stellt eine Form der Beeinflussung in einem Land dar, welches zwischen westlichem Imperialismus und Russland mit seinen Verbündeten steht. Hinzu kommt, dass derzeit noch keine ausreichenden Beweise für Wahlbetrug durch die regierende Partei vorliegen. Außerdem hat die RG eine Mehrheit von nur 54 Prozent, wodurch ihnen nicht zusteht, die Verfassung zu ändern, wie es von der RG-Führung angestrebt wird. Wenn es also ihr Ziel war, die Wahl komplett zu manipulieren, warum sollten sie sich dann knapp vor ihrem Ziel selbst ausbremsen?

Demonstrationen und bonapartistische Manöver der Opposition 

Die georgische Präsidentin Salome Surabischwili, welche eine rein zeremonielle Position innehat, kündigte ihrerseits an, dass sie ihre Präsidentschaft nicht abgeben werde und behauptete, es würde sich um „gestohlene Wahlen“ und ein „illegitimes Parlament“ handeln: „ein illegitimes Parlament kann nichts anderes hervorbringen, als eine illegitime Regierung und einen einen illegitimen Präsident.“

Surabischwili wurde durch die Unterstützung der RG zur Präsidentin ernannt und agiert als Vertreterin des Imperialismus in Georgien. Früher war sie als französische Botschafterin für Georgien zuständig. Ihre Familie emigrierte 1921 nach Frankreich, auf der Flucht vor der bolschewistischen Revolution. Die Georgische Staatsbürgerschaft erhielt sie erst 2003, nach der sogenannten „Rosenrevolution“. Surabischwili versucht in der Tat einen kleinen institutionellen coup d’état durchzusetzen, um die regierende Partei zu zwingen, den Forderungen der EU klein bei zu geben. Dieser bonapartistische und pro-imperialistische Versuch wurde bei ihrer Verkündung bei Le Monde ziemlich eindeutig:

„Ich kann nichts durchsetzen, außer die Entscheidung zu treffen, erneut Wahlen auszurufen. Das muss der Gegenstand des Kompromisses sein… Wenn Herr Bidsina Iwanischwili [Oligarch und informelle Führungskraft des Landes] sich entscheidet, seinen Premierminister zu entlassen, dann werde ich, in Übereinstimmung mit der Verfassung, Wahlen ausrufen. Die Lösung ist, dass er zurücktritt, und wir eine Übereinstimmung über die Bedingungen der anstehenden Wahlen treffen.“

Es sollte auch hinzugefügt werden, dass die Vereinigten Staaten Georgien ebenfalls sanktioniert haben, indem sie ihre „strategische Partnerschaft“ mit dem Land auflösten. 

Die Proteste brachen an dem Abend aus, an welchem Protest gegen die Entscheidung der Regierung in der Hauptstadt Tiflis angekündigt wurde. Der Ton dieser Proteste ist sehr unterschiedlich zu den friedlichen Protesten, welche auf die Wahlergebnisse der Parlamentswahl folgten und Wahlbetrug anprangerten. Nun haben sich die Proteste radikalisiert und die Protestierenden verlangen klar nach neuen Parlamentswahlen, um die derzeitige Regierung zu stürzen. 

Die protestierenden Sektoren haben sich seit den letzten Protesten im Oktober ebenfalls verändert. Tinatin Akhvlediani, ein Forscher am Centre for European Policy Studies in Brüssel gab an, dass Beamt:innen, teilweise sogar Angestellte des Ministeriums, Mitglieder des diplomatischen Corps und Lehrer:innen den Protesten angeschlossen haben. Ein sehr großer Teil der georgischen Bevölkerung (80 Prozent laut Umfragen) sieht die EU-Mitgliedschaft als einen Weg, um ihren Lebensstandard zu verbessern und betrachtet daher die Entscheidung der Regierung, dies zu verzögern, als einen Angriff.

Die Demonstrierenden waren seitens der Polizei, welche nicht scheute Tränengas und Wasserwerfer einzusetzen, harten Repressionen ausgesetzt. Die Demonstrierenden verteidigten sich ihrerseits mit Feuerwerkskörpern und dem Werfen von Steinen. Die Polizei hat seit Beginn der Demonstrationen mehrere hunderte Menschen festgenommen, wobei von mehreren NGOs „Folter“ und der Einsatz von „gewalttätigen Methoden gegen Bürger:innen um sie zu bestrafen“ verurteilt wird. Am sechsten Dezember, im Anschluss auf ein Statement des Premierministers, verhaftete die Polizei auch mehrere Oppoisitionspolitiker:innen und warf ihnen vor, verantwortlich für die Auseinandersetzungen zwischen den repressiven Kräften und Demonstrierenden zu sein. Das zeigt, dass die Regierung im Angesicht der Proteste ihren bonapartistischen und repressiven Kurs nur noch weiter verhärtet.

Die ersten Proteste brachen im April aus, als das Parlament ein Gesetz verabschiedete, das so ähnlich auch in Russland existiert und festlegt, dass Organisationen, welche mehr als 20 Prozent ihrer Einnahmen aus dem Ausland beziehen, sich als „Agenten ausländischen Einflusses“ ausweisen müssen. Tun sie dies nicht, kassieren sie eine Strafe. Obwohl die EU dieses Gesetz damals kritisierte, hat die EU nun selbst ein solches Gesetz verabschiedet, welches fordert, dass Organisationen, welche aus dem EU Ausland stammen, sich ebenfalls […] auszuweisen haben. Dieses EU-Gesetz ist genauso autoritär wie das in Georgien oder Russland, da es der herrschenden Klasse der EU ermöglicht, jede Organisation zu diskreditieren, welche unter die vage Bezeichnung eines „dritten Landes“ fällt. 

Hinter den Differenzen: ein neoliberaler Konsens 

Georgier:innen erinnern sich noch gut an die Präsidentschaft von Micheil Saakaschwili. Er wurde mit einem entschiedenen pro-westlichen Programm gewählt und hat daraufhin von 2008 bis 2013 für extrem harsche neoliberale Reformen für die arbeitende Klasse gesorgt. Diese beinhalteten Privatisierungen, Abbau von öffentlichen Leistungen sowie Steuersenkungen für die Bourgeoisie. Seit dem Fall der Sowjetunion und der kapitalistischen Restauration fungiert Georgien als Labor für ultra-liberale Maßnahmen, was es zum Land mit der höchsten Ungleichheit in der Region gemacht hat. Trotz des Wachstums, den das Land unter Saakaschwili erlebt hat, litt die arbeitende Klasse unter Arbeitslosigkeit, Prekarität und Repression für diejenigen, die sich trauten, das Regime herauszufordern. Die RG nutzte die Verbrechen der Saakaschwili Regierung um 2012 gewählt zu werden. 

Es ist genau dieses schädliche Erbe, das es so schwierig macht, die verschiedenen Bestandteile der Opposition zu vereinen. Obwohl die Opposition bei den vergangenen Wahlen 40 Prozent der abgegebenen Stimmen holen konnte, trat sie in drei verschiedenen Koalitionen an. Präsidentin Surabischwili scheint nun die Person zu sein, die diese verschiedenen Strömungen vereinen kann. Allerdings, wie Emil Avdaliani, Professor für Internationale Beziehungen an der Europäischen Universität in Tiflis, schreibt

Die georgische Präsidentin Salome Surabischwili, die sich in Opposition zur Partei Georgischer Traum positioniert und als potentielle Gallionsfigur einer vereinten Opposition gesehen wurde, ist an der Aufgabe, eine Einheit herzustellen, gescheitert. Sie bleibt populär, ist aber nicht populär genug, um eine entscheidende Rolle zu spielen. Andere Opositionsanführer:innen haben nicht das Charisma oder den nötigen eigenen politischen Hintergrund, um massiven populären Zuspruch zu erhalten. 

Trotzdem könnte die anwachsende Repression der Regierung den Boden für eine oppositionelle Einheit bereiten, selbst wenn diese nur temporär wäre.

Trotz der Probleme der Saakaschwili Era hat die derzeitige Regierung den arbeitenden Klassen und der breiten Masse nichts progressives anzubieten. Anknüpfend an die Saakaschwili Regierung hat die RG neoliberale Maßnahmen zugunsten der lokalen Bourgeoisie fortgesetzt, indem sie eine Regierung von Technokrat:innen eingesetzt haben, deren Maßnahmen von „Expert:innen“ entwickelt wurden und scheinbar auf objektiven Daten und Technologien basieren. Je mehr öffentliche Dienstleistungen dem Markt anvertraut werden können, desto besser.

Diese Logik wird vom Parteivorsitzenden Bidsina Iwanischwil verkörpert, welcher früher selbst Premierminister war und derzeit die reichste Person des Landes ist. Er häufte sich seinen Reichtum in Russland an, hauptsächlich durch Anteile am russischen Gasgiganten Gazprom. Zusätzlich transformiert die RG Regierung Georgien in eine Steueroase, während die ärmsten Haushalte die Kosten tragen müssen. In anderen Worten, die Regierung sowie die Opposition teilen größtenteils neoliberale und Arbeitgeberorientierte Positionen, als auch eine starke Anziehung zu „technokratischen“ Regierungen. 

Aber zusätzlich zu neoliberalen Maßnahmen und Autoritarismus baut die Regierung auf reaktionäre Gesetze wie das im September abgestimmten Gesetz zu „Familienwerten“, welches darauf abzielt, jede Form von LGBTIAQ+ Ansprüchen der Gesellschaft zu unterdrücken. Dieses Gesetz bietet der Regierung ebenfalls Möglichkeiten, den Einfluss von NGOs zu unterbinden.

Georgien inmitten von geopolitischen Rivalitäten 

In den westlichen Medien wird die regierende Partei als pro-russisch dargestellt. Tatsächlich ist die Realität viel komplexer. Zwar möchte die Regierung eine gute Beziehung zu Russland aufrechterhalten, gleichzeitig möchte sie auch die Beziehungen mit dem Westen und der Europäischen Union pflegen, wobei Georgien jedoch eine gewisse Kontrolle über die vorübergehenden Zustand dieser Wiederannäherung behalten soll. Das Ziel der georgischen Regierung besteht zweifellos darin, zu einem ähnlichen Regime wie dem in Aserbaidschan zu tendieren – das heißt es soll gelingen, mithilfe geopolitischer Hebel Garantien vom Westen zu erhalten und gleichzeitig die politische Hegemonie im Land zu festigen. Das würde der Regierung ermöglichen, Konkurrenten zu neutralisieren und den Aufstieg einer Opposition zu verhindern, auch innerhalb der Zivilbevölkerung. 

Die Regierung versucht außerdem die Gaskrise, welche durch den Ukrainekrieg ausgelöst wurde, zu nutzen, um geopolitische Hebel auf der russischen und auf der westlichen Seite zu aktivieren, da Georgien ein strategisches Land für den Transport von Gas aus Aserbaidschan darstellt. Dies kommt der georgischen Bourgeoisie zugute, welche sich durch Handel mit Russland sowie dem Westen bereichert – auf dem Rücken der georgischen Arbeiter:innenklasse. 

Natürlich ist es möglich, dass der Ukrainekrieg bestimmte Tendenzen in der regierenden Partei verstärkt hat. Die Antwort der Europäer und der NATO auf Russlands Aggressionen mag die RG-Parteiführung nicht befriedigt haben. Obwohl EU und NATO die Ukraine noch immer finanziell, politisch und militärisch unterstützen, hat Russland es geschafft, das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu verbessern. Selbst im Fall eines Friedensabkommens (und trotz des Scheiterns des eigentlichen Plan Moskaus), ist es wahrscheinlich, dass die Ukraine geschwächt aus dem Konflikt hervorgehen wird und infolgedessen noch abhängiger von westlicher Unterstützung wird. 

In diesem Sinne mag die Friedenspropaganda der RG während der Wahlen ein Ausdruck wahrer Befürchtungen der georgischen Regierung gewesen sein: eine Provokation Russlands soll um jeden Preis vermieden werden, aus Angst, selbst von Moskau angegriffen zu werden. In diesem Kontext gewinnen eine gute Beziehung zu Russland und dem Westen sowie die Kontrolle über die Wiederannäherung mit der EU eine nuancierte Bedeutung und stehen für mehr als nur eine „pro-russische Orientierung.“ Dies ist umso wahrscheinlicher vor dem Hintergrund, dass Georgien bereits 2008 von Russland angegriffen wurde und nun russische Soldaten in zwei georgischen separatistischen Regionen – Südossetien sowie die Autonome Republik Abchasien – stationiert sind. 

Trotz einer gewissen Radikalität der Demonstrierenden machen es all diese Elemente derzeit schwer sich vorzustellen, dass sie sich ähnlich wie die ukrainische Maidan-Revolution von 2013 zu einer Revolte entwickeln. Die direkte Involvierung von imperialistischen Führungskräften schließt einen Vergleich mit der eben erwähnten Bewegung aus. Die Demonstrationen scheinen sich außerdem auf die Hauptstadt Tiflis und andere große Städte wie Batumi zu begrenzen, welche der Bewegung nicht erlaubt eine Kraft aufzubauen, welche die Regierung bedrohen könnte. Es stimmt natürlich auch, dass wir diese Möglichkeit nicht ausschließen können, aber momentan hängt es davon ab, wie die Situation sich entwickelt: zu viel Repression von Seiten der Regierung könnte den Protesten zu größerer Unterstützung verhelfen. Ebenso können wir nicht ausschließen, dass Verhandlungen zwischen der EU und Georgien die Krise lösen können. Die Aufhebung bestimmter Gesetze der RG könnte hier als Hebel fungieren, um Verhandlungen auf einer günstigeren Basis für die georgische Regierung wieder aufzunehmen. Dies könnte zugleich als ein „Sieg“ der Europäischen Union dargestellt werden. 

Die organisierte Arbeiter:innenklasse ist bei diesen Demonstrationen nicht anzutreffen. Die Arbeiter:innenbewegung in Georgien ist weitgehend demoralisiert und wird von allen Seiten angegriffen: von der derzeitigen Regierung sowie von der vorherigen pro-Europäischen Regierung. Die Forderungen nach einem EU-Beitritt reicht nicht aus, damit sich die Arbeiter:innenklasse den Protesten anschließt. Abgesehen von einigen spezifischen Sektoren scheint die Arbeiter:innenbewegung also abwesend von diesen Mobilisierungen. Offensichtlich ist die Situation in Georgien extrem polarisiert. Keine der politischen Kräfte, weder die der autoritär-reaktionären Regierung von Kobachidsedie, noch die pro-westliche, neoliberale Opposition der Präsidentin Saakaschwili vertritt die Interessen der arbeitenden Bevölkerung. 

Dieser Artikel erschien zunächst am 10. Dezember in unserer Schwesterzeitung Révolution Permanente.

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