Die NATO, die Türkei und die Doppelmoral des Westens
Schon seit Jahrzehnten führt Erdoğan im Schutz der NATO einen brutalen Krieg gegen kurdische, selbstverwaltete Gebiete. Nach erneuten Angriffen seit April nutzt er nun aus, dass es seine Zustimmung für den Beitritt von Schweden und Finnland zur NATO braucht.
Jahrzehntelang waren Finnland und Schweden neutrale Staaten und in militärischen Fragen bündnisfrei. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat nun jedoch zu einem Umdenken bei Politiker:innen und in der Bevölkerung beider Länder zugunsten der NATO geführt. Um in die NATO aufgenommen zu werden, muss einerseits jedes Land einen Antrag stellen, andererseits benötigt es ein einstimmiges Votum der NATO sowie die Ratifizierung der Bündniserweiterung durch die Parlamente der 30 bisherigen Mitgliedsstaaten.
Laut NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist die NATO bereit, Finnland und Schweden aufzunehmen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zufolge will auch Deutschland den Beitritt schnellstmöglich ratifizieren. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hingegen legt zurzeit immer noch ein Veto gegen die Aufnahme ein. Somit ist die Türkei das einzige NATO-Mitglied, das den Aufnahmeprozess öffentlich blockiert. Erdoğan instrumentalisiert den Streit über die Norderweiterung der NATO für seine eigenen Zwecke, da er mit der Androhung eines Vetos die westlichen Staaten erpressen und sie dazu bringen kann, seinen Forderungen nachzugeben.
Ein Ja zur Aufnahme Finnlands und Schwedens in das Verteidigungsbündnis will sich Erdoğan also teuer bezahlen lassen. Wahrscheinlich gibt es mehrere Gründe dafür. Es könnte zum einen ein politisches Zeichen an den Westen sein, dass die Türkei nicht alles mitmacht, was der Westen plant. Außerdem könnte Erdoğan innenpolitischen Bestrebungen nachgehen, nationalistische Wähler für die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr zu mobilisieren, indem er Sicherheitsbedenken der Türkei in den Fokus rückt.
Hauptsächlich aber geht es ihm dabei neben der Gülen-Bewegung um die kurdische Arbeiterpartei PKK und die Kurdenmiliz YPG, die als syrischer Ableger der PKK gesehen wird. Beide Organisationen bewertet die Türkei als terroristische und existenzielle Bedrohungen für das eigene Land. Zwar ist die PKK auch in Europa und den USA illegal, Verbote dieser Art sind jedoch gezielte Mittel bürgerlicher Staaten, um derartige Befreiungsbewegungen einzuschüchtern und einzuschränken. Um sich weiterführend mit der PKK und dem kurdischen Widerstand auseinanderzusetzen, empfehlen wir hier zwei Artikel zur Geschichte der PKK und den Erfahrungen und der revolutionären Strategie in Rojava.
Aktuell wird die YPG hingegen noch nicht als terroristisch eingestuft. Erdoğan wirft Finnland und vor allem Schweden vor, die PKK und die VPG zu unterstützen und die Auslieferung einiger „Terroristen“ an die Türkei zu blockieren. Zudem kündigte Erdoğan kürzlich eine weitere Militäraktion zur Ausweitung einer türkischen Sicherheitszone in Nordsyrien durch eine Offensive gegen die syrischen Kurd:innen an, was deutlich macht, in welcher starken Position er sich aktuell sieht. Die westlichen Partner könnte er dabei zum Wegsehen auffordern.
Ein weiterer Grund für das Veto könnten die Restriktionen der Waffenimporte sein. Einige EU-Länder, unter anderem Schweden und Deutschland, haben nachdem die Türkei 2019 in Nordsyrien und den Irak einmarschierte, sowie russische Raketenabwehrsysteme ihre Rüstungsexporte in die Türkei reduziert und Sanktionen verhängt. Auch die USA verhängten Sanktionen und schlossen die Türkei beispielsweise aus dem F-35-Kampfjet-Programm aus. Erdoğan könnte nun versuchen, eine Rücknahme dieser Restriktionen und Sanktionen zu erzwingen.
Erdoğans neueste Forderung besteht darin, dass die finnischen und schwedischen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung geändert werden müssten. Solange diese Änderung nicht erfolgt, will die Türkei nicht von ihrer Position abrücken. Sie verlangt nach wie vor von beiden Ländern eine härtere Haltung gegenüber der PKK und der YPG. Die Gülen-Organisation, der die Türkei den Putschversuch 2016 zuschreibt, soll ebenfalls nicht toleriert werden. Zudem sollen Finnland und Schweden schriftlich auf diese Forderungen antworten, die Vertretern beider Länder übergeben wurden. Damit soll vermieden werden, dass Finnland und Schweden nach dem Beitritt in die NATO oder nach einer eventuellen neuen Regierungsbildung ihre Position wieder ändern und die Forderungen nicht wie abgemacht erfüllen.
Jüngste Angriffe der türkischen Armee
Welche Pläne hat aber das türkische Militär, für die Erdoğan noch mehr Waffen braucht? Am 17. April diesen Jahres verkündete das türkische Verteidigungsministerium eine neue Offensive im Nordirak. Die Gebiete werden seit 2018 immer wieder von der türkischen Armee angegriffen, in dem Versuch Kontrolle über die Region zu gewinnen.
Dieser jüngste Angriff, dem ein Großteil bürgerlicher Medien kaum Beachtung geschenkt haben, kommt keineswegs aus dem Nichts. Seit Jahren hat die türkische Regierung unter Erdoğan diese Region im Visier, in der auch der Hauptsitz der PKK vermutet wird und die für die Guerillaverbände der PKK, den Volksverteidigungskräften HPG, als Rückzugsort und Stützpunktgebiet dient. Und auch wenn Erdoğans klares Ziel eine vollständige Auslöschung der kurdischen Freiheitsbewegung ist und er in den letzten Jahren Unmengen an Staatsgeldern in diesen Krieg gesteckt hat, ist er seinem Ziel noch nicht nah genug gekommen. Die türkischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2023 dienen ihm zur Zeit auch als weiterer Ansporn, diesen Krieg noch erbitterter zu führen, um mögliche Siege als Elemente seines Wahlkampfes zu nutzen. Immer wieder gehen im Internet Videos um, in denen der vermutliche Einsatz von chemischen Waffen zu sehen ist. Unabhängige internationale Untersuchungen dieser vermuteten Kriegsverbrechen bleiben aus. Eine detaillierte Beschreibung der langen Reihe von Angriffen der letzten Jahrzehnte liefert dieser Artikel, der am 24.5.2022 in der jungen welt erschien.
Warum sind diese Angriffe kaum Thema in der Politik und der Gesellschaft?
Es stellt sich nun dringend die Frage, warum die Politiker:innen und Medien in Deutschland kaum Kritik daran äußern, dass Erdoğan Kurdenmilizen im Irak und in Syrien angreift, um die kurdische Freiheitsbewegung zu bekämpfen und dabei etliche Menschen zu ermorden. Aus verschiedenen Faktoren lässt sich ableiten, dass die deutsche Regierung ein Interesse daran hat, dass die türkische Regierung Deutschland nicht als Feind ansieht. Zum einen ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner für Waffenexporte. Seit Mitte der 1960er Jahre zählt sie zu den größten Abnehmern deutscher Waffen und bis zum Jahr 2000 war sie fast immer unter den größten fünf Empfängerländern. Zwischen 2004 und 2020 wurden Kriegsschiffe oder Teile im Wert von 1,5 Milliarden Euro an die Türkei geliefert. Im Jahr 2019 erwarb sie Kriegswaffen aus Deutschland für 344,6 Millionen Euro, mehr als ein Drittel der gesamten deutschen Kriegswaffenexporte und war damit das zweite Jahr in Folge die Nummer eins unter den Empfängerländern deutscher Kriegswaffen.
Dabei wurden verschiedene deutsche Bundesregierungen stets dafür kritisiert, dass die Türkei deutsche Waffen unter anderem gegen die Kurden und die PKK einsetzt oder dass auch 2018 nach dem türkischen Einmarsch in Syrien die Bundesregierung davon absah, weitere Lieferungen von Rüstungsgütern zu verbieten. Es wurde zwar teilweise ein Rüstungsexportstopp gegen die Türkei verhängt, dieser half jedoch kaum, da er nur für Waffen galt, die im Syrien-Krieg eingesetzt werden können. Bei den Waffen, die 2019 an die Türkei geliefert wurden, handelte es sich aber ausschließlich um Waffen für den maritimen Bereich. Zudem galt der Lieferstopp auch nicht für bereits genehmigte Geschäfte. Insgesamt zählte Deutschland in den zehn vorangegangenen Jahren zu den fünf wichtigsten Waffenlieferanten der Türkei nach USA, Südkorea, Italien und Spanien.
Des Weiteren spielt das EU-Türkei-Abkommen, auch bekannt als „Flüchtlingsdeal“ oder „Flüchtlingspakt“, von 2016 eine große Rolle dabei, warum es sich die deutsche Regierung mit Erdoğan nicht verscherzen will und sich deswegen mit Kritik an ihm zurückhält. Die EU, damit auch Deutschland, hat weiterhin ein Interesse daran, dass die Türkei eine möglichst große Zahl Geflüchteter abfängt, um damit die Fluchtbewegung über die östliche Mittelmeerroute in die EU zu stoppen oder zumindest zu reduzieren. Wer von den griechischen Behörden als nicht asylberechtigt eingestuft wird, soll in die Türkei zurückgeschoben werden. Die EU versprach dafür, die gleiche Zahl asylsuchender Syrer:innen aus den Lagern in der Türkei in ihre Mitgliedsländer umzusiedeln. Bereits damals sprachen Kritiker:innen von einem Ausverkauf humanitärer Werte und dem Outsourcing der EU-Asylpolitik ausgerechnet an den immer autokratischer regierenden türkischen Präsidenten Erdoğan.
Der Ko-Vorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans, Cemil Bayik, sprach in Bezug auf den Rückhalt, den die Türkei von der NATO für ihren Angriffskrieg im Nordirak erhält, davon, dass für die westlichen Politiker:innen bei allem Gerede von Menschenrechten und Demokratie nur ihre eigenen Interessen im Vordergrund stehen. Für das kurdische Volk geht es in diesem Krieg um alles, da die Türkei bei Gebietsgewinn den Weg in den Norden des Landes abschneiden könnte. Der Krieg der Türkei ist als Krieg der NATO zu sehen, der in direkter Verbindung zum Krieg in der Ukraine steht, da der Westen ein extremes Interesse an der strategisch wichtigen Region hat, um den Zugriff auf irakisches Gas sicherzustellen. Für die Energiesouveränität Europas ist dieses Gas nun immens wichtig und da die Gaspipeline durch Kurdistan verläuft, muss diese Region kontrolliert werden können, um es nach Europa zu transportieren. Die Doppelmoral des Westens wird hier besonders deutlich: Ein Krieg wird genau dann nicht abgelehnt, sondern toleriert, sobald er der eigenen Macht und dem eigenen Staat von Nutzen ist.
Ende dieser und allen nationalen Unterdrückungen!
Wir klagen die offensichtliche und keineswegs überraschende Doppelmoral der deutschen sowie der anderen westlichen Regierungen an, die genau dann gegen nationale Unterdrückung vorgehen, wenn sie selbst Nutzen aus den Befreiungsbewegungen ziehen können und in allen anderen Fällen nicht einmal ihre üblichen leeren Worte zu verlieren haben.
Mal wieder ist es leicht zu sehen, dass die Aufmerksamkeit und das Interesse genau dort sind, wo auch Profite liegen, wie beispielsweise gerade in der strategisch wichtigen Region Nordiraks, um den Zugriff auf irakisches Gas zu sichern. Und wieso sollte sich die deutsche Regierung einen so guten Geschäftspartner wie Erdoğan verspielen? Die mittlerweile mehreren Milliarden Euro, die die deutsche Waffenindustrie durch Exporte an die Türkei verdient hat, sind offensichtlich mehr Wert, als die etlichen Menschenleben, die den türkischen Angriffen zum Opfer fallen
Wir fordern ein sofortiges Ende der Waffenlieferungen an das türkische Regime!
Und wie immer und überall fordern wir: Menschenleben über Profite!
Wir verteidigen das Selbstbestimmungsrecht der kurdischen Bevölkerung und ihren Kampf gegen den türkischen Kolonialstaat. Für den Sieg von Rojava gegen die türkische Militäroffensive!