Die missverstandene Klasse: „Wohin gehen die Maurer?“
Der Aufstieg der Rechten in Europa hat die Debatte über die Beziehungen der Linken zur Arbeiter*innenklasse neu entfacht. Die Arbeiter*innenklasse wird dabei neu missverstanden.
„Links, cool, selbstbesoffen“ (Arno Frank, taz), oder „Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten“ (Christian Baron): Die Kritik an der Einstellung der radikalen Linken zur Arbeiter*innenklasse ist aktuell in Mode. Besonders Erfahrungsberichte mit reißerischen Titeln, wie die der beiden genannten Autoren Frank und Baron, schicken sich an, die vorgebliche subkulturelle Abgeschlossenheit der heutigen (radikalen) Linken unter die Lupe zu nehmen, und in ihr den Grund für die angebliche Abkehr der Arbeiter*innenklasse von linken Standpunkten zu identifizieren.
Die Debatte über das Verhältnis der Linken zur Arbeiter*innenklasse ist begrüßenswert und notwendig. Nur wird die Arbeiter*innenklasse darin neu missverstanden.
Falsche Bilder allerorten
In den Neunziger Jahren besuchte der taz-Autor Arno Frank die Universität Marburg. Nebenher, wahrscheinlich um sein Studium finanzieren zu können, arbeitete er auf Baustellen.
Durch diese Situation war er sowohl mit der universitären Linken als auch mit der Arbeiter*innenklasse konfrontiert. Ihm fiel die Selbstgewissheit des studentischen, linken Milieus auf. Während die sich in ihrer Freizeit über Texte von Trotzki austauschten, arbeitete er auf der Baustelle, wo er direkt mit Teilen der Arbeiter*innenklasse in Kontakt kam.
Da stand ich auf dem Bau, zusammen mit „dem Arbeiter“. Und der las nicht. Der trank schon morgens Mariacron, um den Stumpfsinn zwischen Steinwolle und Rigipsplatten überhaupt aushalten zu können.
Weiter schreibt er:
In den Pausen durfte ich […] ihre Gespräche untereinander anhören, und die kreisten um die Eintracht Frankfurt und den nächsten Urlaub in der Dominikanischen Republik. Sie kreisten nicht um die Expropriation der Expropriateure. Brecht fragte: „Wohin gingen am Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war, die Maurer?“ Nun, die Maurer, die ich kennengelernt hatte, gingen in den Puff oder verdämmerten mit einem Bier vor der Glotze. Sie lasenBildund den damals neuenFocus, nichtKonkretoder dietaz.
Frank beklagt, dass die „Selbstgewissheit“ über das „richtige Leben“ und der Austausch über die „richtigen Ideen“, die er in der Linken identifiziert, völlig an der Lebensrealität der Arbeiter*innen vorbeigehen.
Auch Christian Baron, dessen Buch im letzten Jahr viel diskutiert wurde, stammt aus einem proletarischen Milieu und konnte als erstes Kind seiner Familie studieren. Immer wieder schlug ihm an der Universität Trier, wo er studierte, der studentische Habitus entgegen, aus dem er mit seiner proletarischen Sozialisation völlig herausfiel. Er geht sogar noch einen Stück weiter als Frank und behauptet, dass die Linken nichts als „Verachtung“ für die Arbeiter*innenklasse übrig hätten.
Beide haben gemeinsam, dass sie die subkulturelle Entfernung der studentisch geprägten Linken von der Realität der Arbeiter*innenklasse kritisieren. Eine Entfernung, die sich nicht nur in unterschiedlichen Verhaltensweisen ausdrückt, sondern auch im Fokus auf sehr unterschiedliche politische Themensetzungen, wie Baron herausarbeitet.
Beide haben aber auch gemeinsam, dass sie am eigentlichen Kern des Widerspruchs vorbeischreiben. Nicht nur die Linken, die sie – holzschnittartig – kritisieren, haben ein falsches Bild der Arbeiter*innenklasse, sondern auch die Autoren selbst.
Welche Arbeiter*innenklasse?
Frank und Baron haben sicherlich Recht damit, dass sich ein Großteil der Arbeiter*innenklasse nicht für die Diskussionen innerhalb der Linken interessiert. Und ebenfalls damit, dass rassistische und sexistische Vorurteile vorherrschen.
Das nehmen sie zum Anlass, die Linken – innerhalb derer für sie kein Unterschied zu existieren scheint zwischen Grünen-Wähler*innen, Marxist*innen, Sozialdemokrat*innen und wem auch immer – dafür zu kritisieren, dass diese sich nicht in diese „schmutzige“ Welt wagen würden, sondern stattdessen lieber politisch unantastbar bleiben würden. Was wiederum ein Grund dafür sei, dass der Einfluss der Rechten in proletarischen Schichten steige.
Allerdings übersehen die beiden: Auch die Arbeiter*innenklasse ist kein monolithischer Block. Der Großteil der Arbeiter*innen ist weiblich und ein großer Teil unserer Klasse ist von Rassismus betroffen. Selbst die Autor*innen der Figur „Baumeister Bob“ haben das inzwischen verstanden. Und nicht zu vergessen: Wir haben in den vergangenen Jahren eine wiedererstarkende Kampfeslust von Sektoren der Arbeiter*innenklasse erlebt – besonders von stark prekarisierten Sektoren, in Service, Einzelhandel oder im öffentlichen Dienst. Das Bild, das die Kritiker*innen vom desinteressierten, versoffenen, pöbelnden Arbeiter zeichnen, macht genau diese Teile der Klasse unsichtbar.
Dabei wären es genau diese Sektoren – kämpferische Arbeiter*innen im Dienstleistungssektor, sich selbst organisierende migrantische Arbeiter*innen, klassenkämpferische Kolleg*innen, die die Solidarität mit allen Sektoren der Klasse als ihr Banner tragen –, mit denen die radikale Linke neue Wege gehen könnte.
Die Diskussion innerhalb der Linken
Zunehmend rückt diese Diskussion über das Wesen der Arbeiter*innenklasse innerhalb der Linken wieder in den Mittelpunkt, besonders angesichts des Auftauchens neuer rechter Bewegung. Die Diskussion basiert auf dem tatsächlichen strategischen Problem, dass der Kampf gegen Rechts nur mit einem unabhängigen Programm der Arbeiter*innenklasse effektiv zu Ende geführt werden kann – was der Sozialpartnerschaft widerspricht. Nachdem in Deutschland mit dem Aufstieg der AfD diese Diskussion akuter wurde, schafft Donald Trump mit massiven Angriffen auf unsere Klasse Tatsachen, besonders auf ihre am meisten unterdrückten Teile.
Zum Weiterlesen
Auf Left Voice, dem Schwestermagazin von Klasse Gegen Klasse in den USA, erschienen zwei Artikel zu dem Thema. Diese wurden übersetzt und auf Klasse Gegen Klasse veröffentlicht:
Arbeiter*innenklasse, die Linke und der Rechtspopulismus
Trump, Rassismus und das Proletariat
Worauf basiert die Hoffnungslosigkeit unserer Klasse, die in Mehrheit diesen Angriffen scheinbar teilnahmslos zusieht oder auf populistische Reden hereinfällt? Das Scheitern sozialdemokratischer und stalinistischer Politik hat zur Desillusion breiter Sektoren der Arbeiter*innenklasse in Bezug auf die Möglichkeiten der Veränderung ihrer Lebensverhältnisse geführt. Gleichzeitig entfernten sich Diskurs und Praxis auch innerhalb der radikalen Linken sich immer weiter von der Arbeiter*innenklasse als Kampfsubjekt, soweit sogar, dass das Proletariat als Klasse für verschwunden erklärt wurde, während sie objektiv anwuchs und mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung umfasst. Der poststrukturalistische Diskurs ist ein Beispiel für die Leugnung der lohnabhängigen Klasse als historisches Subjekt. Die Spezialisierung auf Stellvertreter*innenpolitik gegen Rechts und der Verzicht auf eine politische Konfrontation der sozialpartnerschaftlichen Reformismen verwehren dem autonomen Sektor auch tatsächliche Erfahrungen im gemeinsamen Kampf mit Avantgarde-Sektoren der Klasse.
Von dieser strategischen Schwäche konnten rechte Kräfte profitieren. Gleichzeitig konnten sich aufgrund des Fehlens einer klassenkämpferischer Strömung innerhalb der Arbeiter*innenklasse und ihrer Organisationen, der Gewerkschaften, rassistische und sexistische Spaltungen ausbreiten, die eine Solidarisierung innerhalb der eigenen Klasse erschweren.
Baron und Frank schlagen vor, dass die Linke gegenüber der Arbeiter*innenklasse offener sein muss. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Doch das sollte nicht darauf hinauslaufen, Vorurteile innerhalb unserer Klasse einfach so hinzunehmen. Sondern ganz im Gegenteil, mit ihren fortschrittlichsten Sektoren gemeinsame Erfahrungen zu machen.
Theorie und Praxis
Wir brauchen ein Übergangsprogramm, das notwendige Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeit und Überausbeutung vorschlägt, volle Rechte für Migrant*innen, Frauen, LGBTI* und Jugendliche fordert, gegen alle Arten von Diskriminierung aufgrund von Ethnie, Geschlecht, Sexualität, Religion und Staatsbürger*innenschaft vorgeht, für die Verstaatlichung von Basisdienstleistungen und dem Transportsektor und für sozialen Wohnungsbau unter Kontrolle der Arbeiter*innen und Nutzer*innen beziehugsweise Mieter*innen eintritt, gegen die Zumutungen von Leiharbeit und Werkverträgen, für ein kostenloses hochqualitatives Gesundheitssystem ohne Profitzwang, für eine höhere Rente und für die Verteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.
Doch vor allem braucht es eine Linke, die dieses Programm nicht nur propagiert, sondern auch in Taten umsetzt. Um das zu erreichen, müssen wir mit der Arbeiter*innenklasse direkt in Kontakt treten, statt sie “nur zu sehen […], wenn gerade die elterliche Dachgeschosswohnung ausgebaut“ wird, und Schulter an Schulter gemeinsam mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten kämpfen, statt „elitärem Dünkel und der paternalistischen Absicht einer ‚Umerziehung zum Guten‘“. Dazu müssen wir die Forderungen der am meisten unterdrückten Sektoren aufgreifen und unterstützen, wie die der Illegalisierten um Bleiberecht, Recht unter gleichen Bedingungen zu arbeiten und auf Bildung. Ein strategisches Ziel der politischen Linken sollte die Fusion demokratischer und Klassenauseinandersetzungen unter vom Kapital unabhängiger Führung der Lohnabhängigen sein, also der politische Streik gegen Prekarisierung und für gleiche Rechte aller.
Wir müssen die Geschichte studieren und aus bereits gemachten Fehlern lernen, besonders denen des Sozialchauvinismus und der Partnerschaft mit der Bourgeoisie, aber auch aus unseren eigenen. Kein*e Kommunist*in hat die Weisheit mit Löffel gegessen. Wirkliche Stärke erhalten wir durch unsere Erfahrung im Kampf, nicht durch das alleinige Studieren von Büchern (gar nicht durch den Verzicht auf Smartphones).
Das Lesen von Büchern ist aber keineswegs unwichtig. Die Theoretisierungen vergangener und aktueller Kämpfe der Arbeiter*innenbewegung helfen uns, im Eifer des Gefechts den Überblick zu bewahren und aus bereits gemachten Erfahrungen zu lernen, oder wie Bertolt Brecht schrieb:
Suche die Schule auf, Obdachloser! Verschaffe dir Wissen, Frierender! Hungriger, greif nach dem Buch: Es ist eine Waffe. Du mußt die Führung übernehmen! […] Scheue dich nicht zu fragen, Genosse! Laß dir nichts einreden, sieh selber nach! Was du nicht selber weißt, weißt du nicht.