Die Lotsin geht von Bord: ein vorgezogener Nachruf auf Angela Merkel

29.10.2018, Lesezeit 10 Min.
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Sie organisierte nach der Finanzkrise die Ausplünderung Südeuropas. Unter ihrer GroKo-Knute ging die SPD in die Knie, unfreiwillig schuf sie mit der AfD eine rechte Opposition. Jetzt ist Merkels eigener Abgang alternativlos. Ein Kommentar.

Angela Merkel wird im Dezember nicht noch einmal für den CDU-Vorsitz kandidieren. Vorerst will sie jedoch Bundeskanzlerin bleiben – 2021 wird sie aber aller Voraussicht nach nicht erneut antreten.Bei der Pressekonferenz am Montag erklärte sie, bereits bei der CDU-Klausurtagung in der Sommerpause habe sie beschlossen, nicht noch einmal als Parteivorsitzende zu kandidieren und auf die nächste Kanzlerkandidatur zu verzichten. Der konkrete Anlass für ihre Ankündigung am Montag waren dann jedoch offensichtlich die aufgrund des GroKo-Zoffs verlorenen Wahlen in Bayern und Hessen, die „nackten Zahlen“, wie Merkel es in ihrer Abtrittsrede nannte. Doch die Ursachen dafür, dass nach 13 Jahren als Kanzlerin und 18 als Parteichefin eine Ära zu Ende geht, reichen noch viel tiefer – auch tiefer als die „quälend lange Regierungsbildung“ zur jüngsten GroKo, die selbst nur Ausdruck einer Repräsentationskrise auf internationaler Ebene ist. Nach dem Brexit, dem absurden Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen, dem Chaos im Spanischen Staat, in Frankreich und Italien hat sie nun auch Deutschlands Parteiensystem langsam erreicht.

Eigentlich ist es ja erstaunlich, dass es noch so lange gut ging, nachdem schon seit 2015 „Merkel muss weg“ ein geflügeltes Wort der Rechten war. Die Kritik am Merkelismus, der von Koch bis Merz die ganze innere Opposition weggesteckt und reihenweise Erfolge fürs deutsche Kapital verbucht hatte, kam erst nach der Eurokrise im Zuge einer Orientierungskrise des deutschen Kapitals selbst. Mit der Eurorettung und dem Umgang mit der Geflüchtetenfrage im Sinne des deutschen Großkapitals standen Fragen des Multilateralismus auf der Tagesordnung, der in einer chaotischeren Weltordnung weniger selbstverständlich ist. Merkels Großprojekt war die Konsolidierung der kapitalistischen Erfolge Helmut Kohls und Gerhard Schröders – besonders der Restauration der DDR, deren eigenes politisches Kind sie war, und des Agenda-Sozialkahlschlags, der der SPD das Ansehen kostete. Aber ihre Methoden blieben die alten, bis dato erfolgreichen: mit Hilfe der wirtschaftlich errungenen Hegemonie über die EU einen Ausgleich schaffen zwischen den USA, Russland und China, sich weder in der Ukraine noch in Syrien zu weit aus dem Fenster lehnen, die Konzentration auf den europäischen Vorhof und sonst eine Reise im imperialistischen Windschatten der USA. Und immer schön „klären, was dem inneren Frieden dient“, wie sie es zum Abschied formulierte. Genau das wurde Merkel in einer Zeit zum Verhängnis, in der der kapitalistische Frieden weltweit unsicher scheint und Figuren wie Trump keinen dauerhaften Ausgleich mehr erlauben.

Merkel erkauft mit ihrem selbstbestimmten Abtritt nun Zeit für einen Übergang im Sinne des deutschen Großkapitals. Im Adenauer-Haus bestätigte sie bereits die Kandidaturen Annegret Kramp-Karrenbauers und Jens Spahns – dass sie erstere zur Organisierung eines geordneten Übergangs favorisiert, dürfte allen klar sein. Während sie von Bord geht, will die langjährige Kapital-Lotsin vermeiden, dass radikale Partikularinteressen wie in ihren Personifizierungen durch Spahn oder Merz sich durchsetzen, sondern die Bundesregierung weiterhin eine Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten einnimmt. Denn was sie in ihrer Rede sagt, ist wahr: Sie trat an, um Deutschland (das heißt dem deutschen Kapital, Anm. d. Red.) zu dienen. Sie sei nicht als Kanzlerin geboren worden und das habe sie auch nie vergessen. Tatsächlich könnte man ihr Respekt zollen, dass sie die Interessen der kapitalistischen Klasse in ihrer Gesamtheit konsequent umsetzte – ohne die Sentimentalitäten, Querelen oder Ausschweifungen ihrer großen Vorgänger Kohl und Schröder, aus deren unwürdigen Abgängen (der eine mit einem Bein im Gefängnis, der andere betrunken, beide in Verbindung mit einer Form der Korruption) Merkel lernte. Sie hatte beschlossen, das Amt „in Würde zu tragen und es eines Tages auch in Würde zu verlassen“. Daher gab sie für die Zeit danach, mit Blick auf Brüssel oder mögliche Goldene Fallschirme in Partei oder Industrie, „nur zu Protokoll, auch keine weiteren politischen Ämter antreten“ zu wollen. Merkel ordnete nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Partei mitsamt ihrer rechten kleinbürgerlichen Seele stets der Klasse des Kapitals unter, was ihr den Zorn eines Teils der Basis einbrachte, die ihr „Wir schaffen das“ hasste.

Wenn die technokratische Physikerin aus der Uckermark nun sagt, die „Arbeitskultur“ der eigenen Regierung sei unmöglich geworden, ist das eine Konsequenz daraus, dass Brüche im deutschen Gesamtkapitalisten mit seinen Fraktionen vorliegen: Wie soll sich Deutschland ohne Verlass auf die USA international orientieren? Wie kann der deutsche Imperialismus einen militärischen Sprung machen, wie ihn der kleine Putschist im Fraktionsvorsitz, Ralph Brinkhaus, schon über Bande gegen die Merkel-Vertraute von der Leyen forderte? Wie soll der industrielle Strukturwandel in Deutschland aussehen, auf den die Braunkohle-Debatte und die serienweisen Diesel-Skandale verweisen? Wie soll sich das Finanzkapital aufstellen, das mit seinen Kapitalexporten erfolgreich ist, aber gleichzeitig den Zorn des Rests der Welt auf sich zieht und mit der Deutschen Bank selbst auf einem maroden Fundament sitzt? Eine „Arbeitskultur“ des „inneren Friedens“, also des Ausgleichs im kapitalistischen Gesamtinteresse, des ständigen Kompromisses, ist in so einer Lage perspektivlos.

Der Neoliberalismus stirbt und reißt seine friedlichen Verwalter*innen mit – doch ironischerweise bringt er im Sterben keine großen Figuren mehr hervor, keine glorreichen Bonapartes, sondern mickrige Würmer wie Friedrich Merz, einen der blödesten und verhasstesten Vertreter*innen des Neoliberalismus zu seiner Hochzeit um die 2000er. Auch der Politzombie Norbert Röttgen war schon aus seinem Loch gekrochen, um noch vor Merkels Abtritt erste Schüsse abzugeben. Oder Jens Spahn, der für nichts steht als sich selbst und dessen Loyalität nicht einmal einer Klasse, sondern dem eigenen privaten Wohlstand als Büttel der Pharmaindustrie gilt, mit dem Charisma von fünf Metern Feldweg. Kramp-Karrenbauer dagegen ist die logische Nachfolgerin Merkels, nur etwas weiter rechts. Wir wollen an dieser Stelle jedoch nicht in Spekulationen verfallen, wer das Rennen macht, denn was ist überhaupt das Ziel dieses Rennens? Egal welcher Kopf am Ende vorne liegt, das Problem bleibt das gleiche: eine Strategiekrise des deutschen Kapitals selbst, dessen strategische Unklarheit die FDP während der Koalitionsverhandlung in ihrem niederen kleinbürgerlichen Instinkt zu einer Wette gegen Merkel anstiftete, weil Christian Lindner Schwäche roch.

Die Grünen nehmen nicht nur aufgrund ihrer Wahlerfolge einen Anlauf, eine erneuernde Partei der Bourgeoisie zu werden. Ihr kleinbürgerlicher Ursprung als Aufsaugerin und Abwicklerin der Friedens- und Umweltbewegung im Sinne des Neoliberalismus lässt sie zwar für Teile der Unionsbasis noch suspekt wirken. Doch ein BASF-Vorstand entschloss sich bereits vor Merkels Abtrittsrede, im Wirtschaftsbereich der Grünen Partei Mitglied zu werden. Und Winfried Kretschmann, früherer Maoist, präsentiert im Bündnis mit der Automobilwirtschaft längst eine urbane, aufgeklärte CDU des 21. Jahrhunderts. Noch im Gehen benannte Merkel die Hessen-Niederlage „umso bedauerlicher, weil die schwarz-grüne Landesregierung … eine erfolgreiche Bilanz“ vorweisen konnte. Werden die Grünen also Vorschläge zur Neuordnung von Industrie, Finanzkapital und aggressiverem Imperialismus machen können? Sie dienten sich seit 1998 immer wieder dafür an, trieben Hartz IV und Kriege besonders aggressiv gegen anfängliche Widerstände voran. Inzwischen gibt es nur noch einen rechten und einen ganz rechten Realo-Flügel in der Partei. Auf jeden Fall stehen das deutschen Parteienregime sowie das ganze deutsche Regime des relativen inneren und äußeren Pazifismus der Sozialpartnerschaft und Anlehnung an US-Interessen auf dem Prüfstand. Rein rechnerisch werden Zweier-Koalitionen auf Bundesebene immer unwahrscheinlicher und wir stehen voraussichtlich, wenn sich keine stärkere, bonapartistischere Fraktion über die Widersprüche hinweg schwingen kann, vor einer Zeit der exekutiven Schwäche – wie nach Konrad Adenauer, als Ludwig Erhard einen Übergang organisieren sollte, aber das Kapital enttäuschte. Nur dass diesmal der Plan B einer Großen Koalition immer weniger zur Verfügung steht als in der heimeligen Bonner Zeit.

Denn die zweite Säule des deutschen Regimes ist noch mehr am Abgrund: die SPD. Die Arbeiter*innenklasse wurde von ihr hundert Jahre lang verkauft, doch über ihre Seilschaften in den Gewerkschaftsbürokratien konnte sich die Sozialdemokratie immer wieder zu neuem Verrat aufrappeln. In der Linkspartei steht aufgrund der strukturellen Schwäche der Partei in Bezug auf die organisierte Arbeiter*innenklasse keine starke reformistische Alternative zur Verfügung. Die Rechtfertigung sozialdemokratischer Parteien besteht in der Klassengesellschaft in ihrer Vermittlungsfunktion – sie verhindert, dass Kämpfe zu Ende geführt werden, und bekommt dafür ihre paar Euro von den Kapitalist*innen. Aber was, wenn die Arbeiter*innen sich nicht mehr von ihrer Führung „ver- und zertreten“ lassen, wie es Zehn- und Zwanzig-Prozent-Ergebnisse in Bayern und Hessen andeuten? Ein Teil der Arbeiter*innenklasse wählt aus Perspektivlosigkeit rechts, ein anderer Teil wird moderate bürgerliche Parteien wählen. Doch was passiert mit den mächtigen deutschen Gewerkschaften? Merkels Abgang war erst der Anfang einer Kette der Verwerfungen auf politischer Ebene während einer relativen wirtschaftlichen Stabilität, die spätestens mit der nächsten Wirtschaftskrise auch die Arbeiter*innenklasse einnehmen wird.

Mit Wähler*innen-Wanderungen wird der Riss nicht gekittet: Eine Klasse will ihre Vertretung. Mehr denn je sind wir angesichts des Scheiterns des Neoliberalismus, der mit Merkel nur fürs Kapital erfolgreich konsolidiert wurde, der Ansicht, dass unsere Klasse ohne einen reformistischen Um- und Irrweg eine eigene Vertretung braucht. Gegen die kommenden Verwerfungen müssen wir gegen die Kramp-Karrenbauers, Spahns oder Merze ein Programm vorschlagen, das die Interessen der Lohnabhängigen vertritt, insbesondere: eine radikale Senkung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich; gleichen Lohn für gleiche Arbeit, keine Diskriminierung aufgrund Geschlecht, Ethnie, Religion, Sexualität oder Nationalität; Verstaatlichung schließender Betriebe wie Neue Halberg Guss sowie der für die Versorgung nötigen Industrien wie Energie oder Gesundheit unter Kontrolle der Beschäftigten; Vergesellschaftung der Banken und weg mit den Kreditforderungen und Militäreinsätzen gegen abhängige Nationen, die nur unseren Bossen helfen. Rechtsruck und Neoliberalismus wollen wir als Lohnabhängige gemeinsam bekämpfen, egal wer nächste*r Lots*in des rostigen imperialistischen Kahns wird.

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