Die leninistische Konzeption der Partei

14.06.2023, Lesezeit 85 Min.
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Im Werk Lenins ist die Parteifrage entscheidend – und ebenso schwierig zu enträtseln.

Um die Parteifrage im Werk Lenins wieder aufzugreifen, gilt es, sich mit mindestens zwei interpretativen Schemata auseinanderzusetzen. Das erste – das sich leider schon lange hält – assoziiert den Leninismus mit Autoritarismus und die „leninistische Partei“ mit der Diktatur einer selbsternannten Elite (oder Avantgarde), die den Keim einer totalitären Besessenheit in sich trägt und damit den Stalinismus vorwegnimmt. Die Hartnäckigkeit dieser Lesart hat im Kontext der internationalen Reaktion dazu beigetragen, die leninistische Partei in der radikalen Linken zu diskreditieren, selbst in Sektoren, die historisch mit dem Leninismus verbunden sind. So ist es bei derjenigen Strömung in der Neuen Antikapitalistischen Partei (Nouveau Parti Anticapitaliste, NPA) in Frankreich, die aus der Revolutionär-Kommunistischen Liga (Ligue Communiste Révolutionnaire, LCR), der französischen Sektion des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale, hervorgegangen ist. Für sie, ebenso wie für ihre internationalen Mitstreiter:innen, ist Lenin als Bezugspunkt bestenfalls eine Art kraftlose Folklore und schlimmstenfalls ein letztlich sektiererisches Konzept, das es um jeden Preis zu überwinden gilt.

In jüngerer Zeit hat sich die Debatte um die leninistische Partei zum Teil dank der Forschung in der englischsprachigen akademischen Welt, insbesondere durch Lars Lih, verändert. Seine akribische Untersuchung von Lenins „Was tun?“ mündete in dem beeindruckenden Buch „Lenin Rediscovered. What Is to Be Done? in Context“1 [Lenin Wiederentdeckt. ‚Was tun?‘ im Kontext“]. Lange Zeit galt „Was tun?“ als „Handbuch“ für die systematische Ausformulierung eines neuen Organisationskonzepts. Lih stellt hingegen die Mythen, die sich um Lenin berühmtestes Werk ranken, radikal in Frage. Lihs Studie hat viele ergiebige Diskussionen ausgelöst,2 aber seine These, dass Lenin bis zuletzt, auch nach seinem Bruch mit der Zweiten Internationale, ein „russischer Sozialdemokrat“ geblieben sei, ist auch ernsthaft kritisiert worden. Letztlich tendiert Lihs Lesart dazu, die originellsten und politisch entscheidenden Bestandteile in Lenins Beiträgen auszublenden. Das geht so weit, dass er bestreitet, dass man überhaupt von einer leninistischen Parteikonzeption sprechen kann.3

Lenin und der „Leninismus“ nach dem 20. Jahrhundert

Eine Diskussion des Leninismus im 21. Jahrhundert sollte damit beginnen zu sagen, was der Leninismus nicht ist. Als 2017 das einhundertjährige Jubiläum der Russischen Revolution gefeiert wurde, veröffentlichte Stéphane Courtois auf Französisch ein Buch mit einem Titel, der die Abkürzungen offenlegt, die von manchen liberalen Ideolog:innen propagiert werden: „Lénine, l’inventeur du totalitarisme“4 [Lenin, Erfinder des Totalitarismus]. Auf Courtois‘ Ende des politischen Spektrums ist es nichts Neues, Lenin zu dämonisieren. In seinem Buch „Lenin and the Revolutionary Party“ [Lenin und die revolutionäre Partei] schreibt der US-amerikanische Historiker und trotzkistische Aktivist Paul LeBlanc:

Seit dem Sieg der bolschewistischen Revolution bis in die Gegenwart haben liberale und konservative Ideolog:innen des kapitalistischen Status Quo immense Ressourcen aufgewendet, um die Idee zu verbreiten, dass Lenin und seine Werke – besonders sein Konzept der revolutionären Partei – eine hässliche Gefahr für Recht, Ordnung, simplen menschlichen Anstand und die westliche Zivilisation darstellen.5

Die Bedeutung dieses Hasses und dieser Angst, die Lenin bei der internationalen Bourgeoisie hervorruft, kann nicht überbetont werden. Im Wesentlichen liegt das daran, dass er dazu beigetragen hat, die sozialistische Oktoberrevolution zum Sieg zu führen, und damit die Hoffnungen ganzer Generationen genährt hat.

Aber eine Rückkehr zu Lenin ist umso schwieriger, als es innerhalb der kommunistischen Bewegung selbst zu weiteren starken Verzerrungen gekommen ist. Wir können nicht ignorieren, dass Stalin, nach Lenins Tod Agent der bürokratischen Konterrevolution im Arbeiter:innenstaat, sich durch systematische Bezugnahme auf Lenins Ideen zu legitimieren versucht hat. Indem er verkürzte, aus dem Zusammenhang gerissene und zu ewigen Wahrheiten verwandelte Zitate gebraucht und missbraucht hat, entwickelte der Stalinismus unter dem Deckmantel des „Leninismus“ einen dogmatischen und verknöcherten Denkkanon, von dem er behauptete, er beruhe auf dessen Autorität.6 Diese gewaltige theoretische und politische Revision hat die internationale kommunistische Bewegung so tief gezeichnet, dass, wie Daniel Bensaïd es ausdrückt, „wir dazu neigen, Lenins spezifischen Beitrag zur Parteikonzeption mit dem kodifizierten ‚Leninismus‘ zu verwechseln, der mit der Bolschewisierung, dem Monolithismus gleichgesetzt wird.“7 Liberale und stalinistische Beschreibungen der leninistischen Partei stimmen außerdem darin überein, dass sie einen im Grunde autoritären Lenin präsentieren, den Architekten einer Partei mit „eiserner Disziplin“, die „von oben auferlegt“ wird und „keine Kritik“ duldet – und so weiter. Bleiben wir bei dieser oberflächlichen Lesart, ergibt Le Blancs Erklärung Sinn: „Es überrascht nicht, dass viele revolutionär gesinnte Menschen zu dem Schluss gelangt sind, dass, wenn das der Leninismus ist, der Leninismus nichts für sie ist.“8

Doch trotz der vielen Klischees, in denen er zu pressen versucht wurde, bleibt Lenin für all diejenigen unverzichtbar, die heute über den Aufbau einer revolutionären Organisation nachdenken. Das hat einen einfachen, aber profunden Grund, wie Pierre Broué in seiner Geschichte der bolschewistischen Partei richtig formuliert hat:

Die Partei war in den Händen Lenins ein unvergleichliches historisches Instrument. Etwa 10.000 klandestine Aktivisten hatten sich nach den revolutionären Tagen im Februar 1917 wieder zusammengefunden und sollten in weniger als acht Monaten eine Organisation bilden, die von den breiten Massen der Arbeiter und in geringerem Maße auch der Bauern als die ihre anerkannt wurde. Sie sollte sie im Kampf gegen die Provisorische Regierung anführen, um die Macht zu erobern und sie zu behalten. Lenin und seine Genossen sollten trotz Fraktionskämpfen und Repression dort Erfolg haben, wo andere Sozialisten unter zunächst günstigeren Bedingungen letztlich gescheitert waren; zum ersten Mal seit Bestehen sozialistischer Parteien sollte eine von ihnen gewinnen.9

Weil ein solches „historisches Instrument“ für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart so entscheidend ist, ist es dringend notwendig, zu Lenin zurückzukehren – zu seiner Theorie und Praxis der Organisation. Die Krise des Kapitalismus vertieft sich und wir sind Zeug:innen eines Aufschwungs des internationalen Klassenkampfes vor dem Hintergrund einer Radikalisierung auf der Linken und der Rechten sowie eines wachsenden Autoritarismus der Regierungen. Die „neue“ radikale Linke hat es versäumt, eine Perspektive aufzuzeigen, wie dieser Aufschwung den bürgerlichen Staat konfrontiert und die Grenzen des Kapitalismus überwinden kann. Schlimmer noch, „neue“ politische Projekte wie Syriza in Griechenland und Podemos im Spanischen Staat wurden in Rekordzeit zu Erfüllungsgehilfen der neoliberalen Politik. In diesem Zusammenhang kann eine Rückkehr zu Lenin anregend sein, nicht um fertige Lösungen für die aktuelle Situation zu finden, sondern um darüber nachzudenken, wie man Kampforganisationen (wieder) aufbauen kann, die die Chancen, die die Situation bietet, zu ergreifen wissen, um den Weg zur sozialistischen Revolution im 21. Jahrhundert zu eröffnen – und so zu verhindern, dass diese Situationen den Konservatismus und letztlich den Faschismus schüren.

Dieser Artikel kehrt zu Lenin zurück, indem er verschiedene Ereignisse und Debatten in der Geschichte des Bolschewismus zu seinen Lebzeiten untersucht, von der Gründung der Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) im Jahr 1898 bis zur Oktoberrevolution 1917. Der Artikel stellt durchgehend die Frage: Welche Bedeutung hat Lenins Beitrag zur Frage der Partei, die laut Bensaïd „eine Revolution innerhalb der Revolution“ darstellt?

Obwohl es bei Lenin keine systematische Theorie der Partei gibt, werden wir sehen, dass es eine Kohärenz zwischen Lenins theoretischen Organisationskonzepten und seiner Praxis des Bolschewismus gibt. Diese Kohärenz deutet auf eine andere Tradition als die der damals vorherrschenden Sozialdemokratie hin. Lenin bezieht sich zwar bis 1914 auf die Sozialdemokratie, insbesondere auf deren deutsche Sektion, aber die spezifischen Bedingungen der Entwicklung der russischen Revolution und sein eigener theoretisch-politischer Werdegang veranlassten ihn, das Verhältnis zwischen Klasse, Partei und Führung neu zu formulieren und der Rolle der Partei in der Dynamik der Revolution eine neue Bedeutung zu geben. So vertrat er im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts innerhalb der internationalen Sozialdemokratie Positionen, die sich gegen die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende Auffassung richteten. Er setzte sich für einen neuartigen Kurs ein, der die Vereinigung zum Aufbau echter Massenparteien, insbesondere in Deutschland, in den Vordergrund stellte.

Lenin und seine bolschewistische Strömung (zunächst eine Tendenz, dann eine Fraktion und ab 1912 eine unabhängige Partei) polemisierten innerhalb der Zweiten Internationale unweigerlich gegen die Deutschen. Diese einzigartige Position versetzte Lenin im Sommer 1914 in eine bessere Lage, als die Führer der Zweiten Internationale ihren großen Verrat begingen und sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hinter ihre eigenen Bourgeoisien stellten. Sie ermöglichte es Lenin aber auch, 1917 in Russland im revolutionären Prozess eine entscheidende Rolle zu spielen.

Skizzieren wir zunächst die wichtigsten „Etappen“ in der Entwicklung der leninistischen Organisationsauffassung und der Praxis des Bolschewismus innerhalb der russischen Sozialdemokratie.

Der 20-jährige Lenin: eine Zeitung für ganz Russland

Lenins Kampf für die sozialistische Revolution entspann sich unter den spezifischen und schwierigen Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung in Russland.10 Die unnachgiebige Repression des zaristischen Regimes erklärt sowohl die Schwäche der liberalen politischen Bewegung als auch die Schwierigkeit der Arbeiter:innen- und Volksbewegung,11 einen revolutionären Pfad zu finden.12 In der russischen revolutionären Bewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Narodniki (Volkstümler) versucht, den Unmut auf dem Lande aufzugreifen. Sie wurden jedoch von der Apathie der bäuerlichen Massen rasch entmutigt und entschieden sich, auf terroristische Methoden umzusatteln. Dies spielte eine entscheidende Rolle in der politischen Differenzierung in Russland und machte einen starken Eindruck auf Lenin, besonders nachdem sein Bruder Alexander Uljanow, ein Aktivist der Narodniki, vom Regime für einen versuchten Mordanschlag auf Zar Alexander II. hingerichtet wurde.

Der Marxismus entwickelte sich im Russland der 1880er Jahre vor allem gegen diese volkstümlerische Strömung (und später gegen die als „legaler Marxismus“ bekannte Strömung). Dies ging vor allem auf die Pionierarbeit von Georgi Plechanow zurück, der die Werke von Marx und Engels ins Russische übersetzte. 1881 gründete Plechanow die Befreiung der Arbeit, die erste russische Gruppe, die als marxistisch bezeichnet werden kann. Lenin schloss sich bald darauf an und machte sich daran, sie in eine echte Partei zu verwandeln. Lenins Rolle war von Beginn an entscheidend. Broué erklärt:

Nach den brillanten theoretischen Kämpfen, die Plechanow geführt hat, stellt sich für seine Schüler und Weggefährten das praktische Problem: Gerade wegen der immensen Hindernisse, die die Autokratie jeder Organisation, selbst auf elementarer Ebene, bereitet, bemühen sich die russischen Sozialdemokraten als konsequente Marxisten mehr als andere darum, das Werkzeug zu schaffen, das ihnen dazu dienen soll, eine Welt zu verändern, die zu interpretieren ihnen als Marx‘ Nachfolger nicht genügt. Es ist der junge Uljanow – Lenin –, der diese Suche am besten zum Ausdruck bringt.13

Ein erster entscheidender Schritt war der Gründungskongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1898. In Wirklichkeit war die Partei jedoch längst nicht geeint und die lokalen Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzte, blieben weit verstreut. Lenin schrieb: „Durch diesen riesigen Schritt vorwärts hat die russische Sozialdemokratie gleichsam für eine Zeitlang alle ihre Kräfte erschöpft und ist zu der früheren zersplitterten Arbeit der einzelnen lokalen Organisationen zurückgekehrt.“14 Es war Lenins erster großer Kampf: Von 1895 bis 1903 führte er einen Krieg gegen die, wie er es nannte, „handwerklerischen“ Methoden der sozialdemokratischen Bewegung und setzte alle seine Kräfte ein, um die „die Zusammenfassung […] zur Arbeit einer einzigen Partei“15 zu erreichen.

Lenin hatte zwei Ziele. Das erste war, die Partei zu zentralisieren. Er war überzeugt, dass dies notwendig wäre, wenn die Partei eine entscheidende Rolle gegen das zentralistische Monster der zaristischen Autokratie spielen sollte. Er schrieb:

Nur die Verschmelzung zu einer Partei wird es ermöglichen, die Prinzipien der Arbeitsteilung und der Kräfteersparnis systematisch durchzuführen – dies aber müssen wir erreichen, um die Zahl der Opfer zu vermindern und ein mehr oder minder festes Bollwerk gegen das Joch der autokratischen Regierung und ihre wütenden Verfolgungen zu schaffen.16

Das zweite bestand darin, die Errungenschaften jedes einzelnen Kampfes der entstehenden Arbeiter:innenbewegung zu koordinieren und festzuhalten, um ihnen ihre „Bedeutung als Vorbild“ zu geben – die ohne eine Partei isoliert bleiben würde. Er fuhr fort:

Infolge dieser Handwerklerei bleiben die zahlreichen Fälle, in denen die Arbeiterbewegung in Rußland aktiv hervortritt, rein lokale Ereignisse und verlieren viel von ihrer Bedeutung als Vorbild für die ganze russische Sozialdemokratie, als ein Stadium der ganzen russischen Arbeiterbewegung. […][O]hneihre Zusammenfassung in einem Organ der ganzen Partei verlieren alle diese Formen des revolutionären Kampfesneun Zehntel ihrer Bedeutung, führen sie nicht zur Sammlung gemeinsamer Erfahrungen der Partei, zur Schaffung einer Parteitradition und Parteikontinuität.17

Die Partei erscheint somit als „Katalysator“, um die Kampferfahrungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenzufassen und ihnen Kohärenz und Kontinuität zu verleihen. Das Gleiche gilt für den Streik, den er als eine Kriegsschule für die Arbeiter:innenklasse und die Revolutionär:innen betrachtet: „eine Schule, in der die Arbeiter es lernen, Krieg zu führen gegen ihre Feinde“18.Um die Ambitionen Lenins und die Schwierigkeit der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, zu ermessen, muss man sich vor Augen führen, wie groß Russland war (etwa 30-mal größer als Frankreich) und wie niedrig sein wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungsstand zu dieser Zeit war.

Um die sozialdemokratischen Kräfte zu vereinen, erwies sich die Zeitung recht schnell als das wirksamste Instrument. Lenin schrieb:

Nur die Schaffung eines gemeinsamen Parteiorgans kann jeden ‚Teilarbeiter‘ der revolutionären Sache mit dem Bewußtsein erfüllen, daß er ‚in Reih und Glied‘ marschiert, daß seine Arbeit für die Partei unmittelbar notwendig ist, daß er ein Glied jener Kette bildet, die den schlimmsten Feind des russischen Proletariats und des ganzen russischen Volkes — die russische autokratische Regierung — erdrosseln wird.

So hatte Lenin zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine erste Skizze seiner Auffassung von der Partei vorgelegt: Die grundlegende Aufgabe der Partei besteht darin, den Initiativen des Proletariats eine gemeinsame und organisierte Richtung zu geben. Diese Konzeption ähnelt stark derjenigen der damaligen internationalen Sozialdemokratie, vor allem der deutschen Sektion, die das fortschrittlichste Beispiel in Bezug auf die Organisation darstellte, auch wenn sie nicht identisch war.

1902 bis 1903: „Was tun?“ und die ersten Spaltungen in der SDAPR

Der Zweite Kongress der SDAPR fand 1903 statt. Es wurde erwartet, dass es ein Kongress der „aufrichtigen“ Vereinigung sein werde. Stattdessen wurde es der Kongress des ursprünglichen Bruchs, der ersten Spaltung zwischen den Menschewiki („Minderheit“) und den Bolschewiki („Mehrheit“, angeführt von Lenin). Im Rahmen der vorbereitenden Debatte für diesen Kongress schrieb Lenin sein berühmtes „Was tun?“19. Im Kern ist dieses Werk eine Polemik gegen die Gruppe, die von Alexander Martynow angeführt wurde und die Lenin „Ökonomisten“ nannte. Sie enthält logischerweise gewisse konjunkturelle Entwicklungen.20

„Was tun?“ hat als Dreh- und Angelpunkt für dogmatische und „mystifizierende“ Lesarten von Lenins Organisationskonzepte gedient, vor allem in der sogenannten marxistisch-leninistischen Tradition. Nichtsdestoweniger ist es für das Verständnis von Lenins Organisationskonzept unverzichtbar. Es ist unmöglich, auf jede Debatte Bezug zu nehmen, die der Text provoziert hat. Dieser Text konzentriert sich deshalb insbesondere auf zwei Ideen, die Lenin entwickelt hat: die Verbindung zur Spontaneität der Klasse und sein Beharren, dass das Proletariat und, an seiner Spitze, die Sozialdemokratie sich dem Terrain des politischen Kampfes widmen muss.

Über das gesamte Buch hinweg setzt sich Lenin mit der Idee auseinander, dass die Arbeiter:innen „spontan“ (also nur durch die Entwicklung des Kapitalismus und seiner Krisen selbst) zu einem revolutionären Bewusstsein gelangen könnten. Er charakterisiert diesen Glauben an die Allmacht der Spontaneität der Massen als Sackgasse und bezeichnet ihn als „Anbetung der Spontaneität“21. Die russische Sozialdemokratie halte diese davon ab, ihre organisatorischen Aufgaben korrekt zu bestimmen. Durch den Spontaneismus, so Lenin, werde man zum Gefangenen der Launen des Klassenbewusstseins, das keiner geraden Linie (einer langen, progressiven und ununterbrochenen Entwicklung) folgt. Es entspricht vielmehr der Bewegung eines Pendels, mit Perioden des Auf- und Abschwungs: „[D]ie Unterdrückung der Bewußtheit durch die Spontaneität [ist] ebenfalls auf spontanen Wege vor sich gegangen.“22 Er erinnert uns weiterhin, dass das Klassenbewusstsein sich nicht auf einem neutralen Grund entwickelt, sondern innerhalb eines historischen bestimmten Rahmens Form annimmt, in welchem die bürgerliche Ideologie Mittel zur Verfügung stehen, die jenen des Proletariats tausendfach überlegen sind:

Warum aber, wird der Leser fragen, führt die spontane Bewegung, die Bewegung in die Richtung des geringsten Widerstands gerade zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie? Aus dem einfachen Grund, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt.23

Gegen diejenigen, die sich dem Kult des Spontanen hingaben, „überspannte er den Bogen“24 und ging er noch einen Schritt weiter. Er schrieb: „Darum besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Spontaneität“25. Wie Lih zeigt, war es entgegen mancher Interpretationen nicht so sehr ein Mangel an Vertrauen in die Spontaneität der Massen, die ihn antrieb, sondern die Überzeugung, dass eine Gelegenheit bevorstünde und sich große Explosionen der Arbeiter:innen und des Volks ankündigten, sowie die Sorge, dass die Revolutionär:innen darauf nicht vorbereitet sein würden. Von dieser fehlenden Vorbereitung, der verzögerten Organisierung der sozialdemokratischen Kräfte, war Lenin besessen, nicht etwa vom Misstrauen in die Massen oder von der angeblichen Abscheu gegenüber ihrer Spontaneität.26 Das letzte Kapitel von Lenins Buch umreißt einige praktische Schlussfolgerungen: Dort radikalisiert Lenin seine Haltung gegen handwerklerische Methoden und gibt der „Zentralisierung“ und der berufsmäßigen Militanz den Vorrang.27 Er skizzierte auch ein organisatorisches Schema, das aus verschiedenen Zirkeln und Organisationen bestand, wobei er darauf bestand, zwischen der Organisierung von Arbeiter:innen in Gewerkschaften und berufsständischen Organisationen, die sehr breit sein mussten, und der Organisation der Revolutionär:innen zu unterscheiden – der Partei.

Die andere auffällige Dimension von Lenins Schrift, diesmal auf einer unmittelbar programmatischen Ebene, ist seine Polemik mit Martynow. Ihm wirft Lenin vor, die politische Agitation in Richtung der Arbeiter:innenklasse „einengen“28 zu wollen, indem er sie auf den „kollektive[n] Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer für günstige Bedingungen des Verkaufs der Arbeitskraft, für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter“ reduzieren wolle. Die ökonomischen und alltäglichen Kämpfe der Arbeiter:innenklasse waren für Lenin eine absolute Notwendigkeit, doch waren sie von einem revolutionären Standpunkt nichtsdestoweniger unzureichend, um das Klassenbewusstsein zu schärfen. Im Gegenteil ist der politische Kampf aus zwei Gründen absolut essentiell: 1. um die Klasse und die Revolutionär:innen zu erziehen, die die kapitalistische Gesellschaft in all ihren Ausdrücken zu verstehen lernen müssen, um ihren zutiefst reaktionären Charakter begreifen zu können, und 2. um Bündnisse zu schmieden, die für den Sieg der proletarischen Revolution notwendig sind. So schrieb Lenin:

Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiternur von außengebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die BeziehungenallerKlassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischensämtlichenKlassen.29

Weiter schreibt er,

daß das Ideal eines Sozialdemokraten nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern derVolkstribunsein muß, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu nutzen, umvor aller Weltseine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, umallenund jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen.30

Was hier entsteht, ist im Grunde die Überzeugung, dass die Arbeiter:innenklasse das kapitalistische System stürzen und eine hegemoniale Position beanspruchen muss.31 Sie darf sich nicht auf eine ökonomisch-korporatistische Position beschränken, sondern muss danach streben, Bündnisse zu schaffen, um die Forderungen aller Ausgebeuteten und Unterdrückten aufzunehmen.

Wie bereits erwähnt war „Was tun?“ Teil der vorbereitenden Debatten für den Zweiten Kongress der SDAPR. Der Kongress war ein Schritt nach vorn, was das Programm anbelangte (wo die Ökonomist:innen bemerkenswerterweise in der Minderheit waren), doch in der Organisationsfrage traten unerwartete Divergenzen auf.32 Die Debatten drehten sich vor allem um den Paragraph 1 der Statuten der SDAPR, in welchem die  Mitgliedschaftskriterien festgehalten waren. Die von Lenin vorgebrachte Version prallte auf jene von Martow vorgelegte. Lenins Fassung bestand, anders als Martows, auf der „Betätigung“ der Mitglieder in den Aktivitäten der Partei innerhalb einer der Parteiorganisationen.33  Lenins Antrag wurde nicht angenommen, doch als die Wahl der Leitung der SDAPR und der Iskra an der Reihe war, errang Lenin eine Mehrheit.34 Unterstützer:innen von Martows Antrag fochten die Wahl der Leitung daraufhin an, behaupteten es sei ein Unfall gewesen und benutzten dies als Vorwand, um mit Lenins Unterstützer:innen zu brechen.35 In den Monaten nach dem Zweiten Kongress brachten die Menschewiki weitere Vorwürfe gegen Lenin vor und schoben die Spaltung auf seine „falsche, bürokratische, formalistische, pompadourische, nichtsozialdemokratische Auffassung des Zentralismus“36. Im folgenden Jahr blickte Lenin in einer langen Schrift mit dem Titel „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ auf die Ereignisse des Kongresses zurück. Darin zeigte er die Übereinstimmung zwischen den beiden Strömungen und ihren Organisationsweisen. Gegen die Konzeption der Menschewiki und Axelrods, der Lenin zufolge Leute sich Parteimitglieder nennen lassen wollte, die „der Partei so oder anders helfen“37, erklärte Lenin:

Ich bringe damit ganz klar und genau meinen Wunsch, meine Forderung zum Ausdruck, daß die Partei als Vortrupp der Klasse etwas möglichst Organisiertes darstelle, daß die Partei nur solche Elemente in sich aufnehme, die wenigstens ein Mindestmaß an Organisiertheit ermöglichen. Hingegen vermengt mein Opponent die in der Partei organisierten Elemente mit den nichtorganisierten, diejenigen, die sich leiten lassen, mit denen, die sich nicht leiten lassen.38

Er verteidigt sich zudem gegen Karikaturen, die seine Position in eine letztlich verschwörerische oder sektiererische Konzeption verwandelt haben:

Man darf doch wirklich die Partei als Vortrupp der Arbeiterklasse nicht mit der ganzen Klasse verwechseln. […] Man glaube nicht, daß die Parteiorganisationen nur aus Berufsrevolutionären bestehen dürfen. Wir brauchen die mannigfaltigsten Organisationen aller Arten, Abstufungen und Schattierungen, angefangen von außerordentlich engen und konspirativen bis zu äußerst breiten, freien, losen Organisationen.39

Hier finden wir bei Lenin ein organisatorisches Schema, das verschiedene konzentrische Kreise umfasst.

Letztlich handelt es sich bei dem, was Lenin vorschlägt, nicht so sehr um eine „avantgardistische“ Parteikonzeption (oder gar eine „blanquistische“, wie viele Gegner:innen Lenins behauptet haben). Es geht vielmehr um eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen der Partei, in der sich die Avantgarde, also die bewusstesten und entschiedensten Schichten der Klasse, zusammenfindet, und den Massen. Es ist bemerkenswert, dass seine Konzeption, obwohl sie nicht explizit gegen die internationale Sozialdemokratie gerichtet war, indirekt ein erster Bruchpunkt mit den damals vorherrschenden Konzepten war. Sie forderte auch international zahlreiche Kritiken heraus, zuerst die berühmte von Rosa Luxemburg.40

Auch wenn Lenin großen Wert darauf legte, die Gründe für den Streit über die Statuten darzulegen,41 betrachtete er sie nicht als hinreichenden Grund für eine Spaltung der Partei. Im Gegensatz dazu, was Marxist:innen-Leninist:innen behaupten, waren es tatsächlich die Menschewiki, die die Spaltung initiierten. Wie Le Blanc darlegt, gab Lenin erst im Herbst 1904 „die Idee einer echten Einheit zwischen Bolschewiki und Menschewiki“42 auf.

Die Episode illustriert die Beziehung zwischen den Bolschewiki und Lenin sowie Lenins Beziehung zur Frage der Einheit der Partei. Er schlug keineswegs eine Spaltung zu jedem Preis vor (wie sonst wäre seine Entschlossenheit zur Vereinigung der russischen Sozialdemokratie oder seine unten diskutierte Position im Vorfeld des Vereinigungskongresses in Schweden erklärlich). Er ließ jedoch ebensowenig zu, dass die Einheit der Partei vom opportunistischen Flügel dazu benutzt werden konnte, um von der Partei in Fragen, die ihm wichtig erschienen, politische oder programmatische Zugeständnisse zu erpressen. Wie der Historiker Hal Draper zusammenfasst:

[Lenins] unverwechselbarer Ansatz war: Einheit ja, aber nicht um den Preis, den Sieg der Mehrheit zu hintertreiben. Einheit ja, aber auf derselben demokratischen Grundlage wie zuvor: Der rechte Flügel könnte darauf hinarbeiten, auf dem nächsten Kongress zu gewinnen, aber politische Zugeständnisse als Belohnung dafür, sich nicht abspalten, würde es nicht geben.43

1905: die Revolution, die Partei und die Massen

Das Jahr 1905 war zweifelsohne ein entscheidender Wendepunkt in Lenins theoretisch-politischem Erbe. Wie er selbst bemerkte, war die erste russische Revolution eine Gelegenheit, um seine Konzeption und die der anderen auf die Probe zu stellen.44 1905 sollte folglich einen Sieg der programmatischen Thesen der Bolschewiki über jene der Menschewiki markieren. Es würde außerdem zu einem Moment werden, an dem Lenin die Beziehung zwischen der Avantgarde und den Massen im revolutionären Prozess neu untersuchen sollte.

Zu jener Zeit befand sich die gesamte Sozialdemokratie in einer strategischen Debatte über die kommende Revolution. Die vollständigen Einzelheiten übersteigen den Umfang dieses Artikels; es genügt anzumerken, dass die Mehrheit der Strömungen der Arbeiter:innenbewegung zwar darin übereinstimmten, dass der Inhalt der kommenden Revolution bürgerlich sein würde (also demokratische und agrarische Aufgaben umfasste). Die Bolschewiki und die Menschewiki gingen jedoch darüber auseinander, welche Rolle das Proletariat darin spielen müsste. Die Position der Menschewiki, die mechanisch die „Etappen“ der kapitalistischen Entwicklung in Europa nachahmten und in Russland anwandten, war, dass die Sozialdemokratie versuchen müsse, die von den Liberalen (der Konstitutionell-Demokratischen Partei, Kadetten genannt) angeführte Revolution zu begleiten. Nach Lenins gegenteiliger Ansicht – jener vertrat in dieser Debatte eine Zwischenposition zwischen der menschewistischen Konzeption und jener Leo Trotzkis45 – müsse die revolutionäre Sozialdemokratie die Initiative ergreifen und die Wut der Massen in eine Perspektive des Aufstands lenken.

Die Erfahrung von 1905 als eine Periode der intensiven Aktivität der Massen bot die Gelegenheit, jene Theorien zu erproben und die Debatte zu entscheiden. Wie Lenin in „Die Revolution lehrt“ schrieb, hatten die „Neuiskristen“ begonnen, menschewistische Konzepte auszudrücken:

[Man] wird sogleich sehen, wie letztere begannen, unter dem Einfluß der Ereignissefaktischauf die Seite ihrer Opponenten überzugehen, d. h. nicht gemäß ihren Resolutionen, sondern gemäß den Resolutionen des III. Parteitags zu handeln.46Es gibt keinen besseren Kritiker einer irrigen Doktrin als den Gang der revolutionären Ereignisse.47

Auf dieser Basis befürwortete Lenin – der zuversichtlich war, dass der Marsch der Revolution die Menschewiki unweigerlich nach links und damit zu den bolschewistischen Positionen führen würde – erneut eine Wiedervereinigung der Partei und seiner bolschewistischen und menschewistischen Strömung.

Im Bemühen, den Druck von Seiten des Volkes zu vermindern, beauftragte der Zar seinen Innenminister Alexander Bulygin mit der Bildung der Duma, einer gesetzgebenden Versammlung. Diese erste Duma, deren Wahlprinzipien weitgehend unzureichend blieben, löste unter den Sozialdemokrat:innen lebhafte Debatten aus. Die Bolschewiki befürworteten, gefolgt von der Mehrheit der sozialdemokratischen Organisationen,48 einen Boykott und betrieben Propaganda und Agitation gegen konstitutionelle Illusionen. Die Menschewiki jedoch weigern sich, für die Resolution über den Boykott zu stimmen.49 Lenin, der zu jener Zeit außerhalb Russlands lebte, verfolgte die Streiks und Straßenkämpfe des russischen Proletariats, besonders in Sankt Petersburg und Moskau, eng.50

Die große Neuheit, die „originellste Schöpfung“, wie es Marcel Liebman ausdrückte, der Revolution von 1905, war selbstverständlich die Entstehung von Sowjets. Diese Räte der Arbeiter:innenmassen wurden auf der Ebene der Fabriken und daraufhin der Distrikte gewählt. Sie tauchten während der Revolution auf und breiteten sich über den Sommer hinweg auf zahlreiche Städte aus. Der bedeutendste unter ihnen war der Sowjet von Sankt Petersburg. Im Oktober 1905 gegründet, versammelte er Delegierte, die 250.000 Arbeiter:innen vertraten.51 Diese Räte ermöglichten die breite Organisierung und Koordinierung der verschiedenen Initiativen der Massen in ihrem Kampf.

Anders als die menschewistischen Aktivist:innen, zeigten sich die Bolschewiki von den neuen Kadern zunächst verwirrt. Broué notiert: „Tatsächlich passten sich die Bolschewiki nur langsam den neuen revolutionären Bedingungen an: Die Verschwörer wussten nicht von einem auf den anderen Tag, wie sie Redner werden und Menschenmengen versammeln sollten.“52 Aus vielen historischen Quellen geht hervor, dass es unter ihnen eine Zurückhaltung, ja fast ein Misstrauen gab. Dies ging so weit, dass die Ortsgruppe in Sankt Petersburg eine Resolution verabschiedete, in der sie erklärte, dass der Sowjet Gefahr laufe, das Proletariat auf einem niedrigen Entwicklungsstand zu halten. Diese Vorstellungen hatten mit denen Lenins nichts zu tun. Er zögerte nicht, aus dem Ausland die Vorurteile seiner bolschewistischen Genoss:innen gegenüber den Sowjets zu bekämpfen, indem er schrieb:

Nun aber zur Sache. Mir scheint, Genosse Radin hat nicht recht, wenn er […] die Frage so stellt: Sowjet der Arbeiterdeputierten oder Partei? Mir scheint, man darf die Frage nicht so stellen, die Antwort mußunbedingtlauten:SowohlSowjet der Arbeiterdeputiertenals auchPartei. Die Frage – eine äußerst wichtige Frage – besteht lediglich darin, wie die Aufgaben des Sowjets und die Aufgaben der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands voneinander abzugrenzen und miteinander zu verbinden sind.53

Die Entstehung der Sowjets war für Lenin der Anlass zu einer wirklichen theoretischen Bereicherung seiner Konzeption der Dialektik zwischen der Organisation (der Avantgarde) und der Massenspontaneität. Den bolschewistischen Kadern, die jene Organe, die aus und in den Kämpfen der revolutionären Klasse geboren wurden, den Entscheidungen der Partei unterordnen wollten, schlug er stattdessen vor, dass sie verbreitert werden sollten: „Meines Erachtens ist der Sowjet der Arbeiterdeputierten als politisch führendes revolutionäres Zentrum keine zu breite, sondern im Gegenteil eine zu enge Organisation.“54 Diese neue Konzeption des revolutionären Prozesses gab Lenin nicht mehr auf. Sie deutet nicht nur seine Orientierung während der russischen Revolution von 1917 an, sondern ebenso seine späteren Debatten über die Taktik der Arbeiter:inneneinheitsfront während der ersten Jahre der Kommunistischen Internationale. Sie zeugt von einer nicht-binären Auffassung zwischen den beiden Termen der revolutionären Gleichung: dem Kampf um die Einheit der Klasse in der Aktion und dem politischen Kampf um ihre revolutionäre Führung, die gegeneinander auszuspielen ein Fehler wäre.

In seiner Bilanz der Revolution von 1905 setzte sich Lenin für eine tatsächliche Reorganisation der Partei ein. Diese hatte zwei wesentliche Dimensionen. Die erste war konjunktureller Natur: Es galt, die demokratischen Fortschritte zu berücksichtigen, die die Revolution errungen hatte, Fortschritte, die zwar sehr begrenzt, aber dennoch bedeutsam waren, weil sie die legale Arbeit ermöglichten.55 Die zweite war eine Demokratisierung der Partei. Lenin bekämpfte den Konservatismus der bolschewistischen Komiteemitglieder56 und plädierte gegen sie dafür, die Tore der Partei zu öffnen.57 Dies gehörte zu Lenins neuen Organisationsmethoden, insbesondere die Verbreiterung lokaler Zirkel und das Prinzip der Wählbarkeit. Lenin schrieb:

Die Bedingungen für die Tätigkeit unserer Partei verändern sich von Grund auf. Die Versammlungs-, Koalitions- und Pressefreiheit ist erobert. Natürlich sind diese Rechte in keiner Weise gesichert, und es wäre töricht, wenn nicht gar verbrecherisch, sich auf die jetzigen Freiheiten zu verlassen. Der entscheidende Kampf liegt noch vor uns, und die Vorbereitung auf diesen Kampf muß an erster Stelle stehen. Der konspirative Parteiapparat muß erhalten bleiben. Zugleich aber ist es unbedingt notwendig, die jetzige, verhältnismäßig größere Bewegungsfreiheit weitestgehend auszunutzen. Es ist unbedingt notwendig, neben dem konspirativen Apparat immer mehr neue, legale und halblegale, Parteiorganisationen (und sich an die Partei anlehnende Organisationen) zu schaffen. Ohne diese letztere Arbeit ist es undenkbar, unsere Tätigkeit den neuen Verhältnissen anzupassen und die neuen Aufgaben zu lösen…58

Aus dieser Perspektive war es das Jahr 1905, das den Anstoß für die Einführung der Demokratie in der Partei gab. Zuvor war sie wegen der politischen Bedingungen des Landes, die sie nicht zuließen, sehr begrenzt gewesen. Die Revolution änderte dies, und die Bolschewiki führten in der Partei das Konzept des „demokratischen Zentralismus“ ein, das es bis dahin nicht gegeben hatte. Dieser stellte die Kontinuität des Zentralismus dar, wie er in „Was tun?“ entworfen wurde, mit dem Zusatz der Demokratie. Lenin wurde zu ihrem größten Verfechter innerhalb der Partei. In einer scharfen Reaktion auf eine Resolution des Zentralkomitees über „Freiheit der Kritik und Einheit der Aktionen“ formulierte Lenin den demokratischen Zentralismus wie folgt:

Das Prinzip des demokratischen Zentralismus und der Autonomie der lokalen Körperschaften bedeutet gerade dieFreiheit der Kritik, vollständig und allerorts, wenn dadurch die Einheit einerbestimmten Aktionnicht gestört wird, und die UnzulässigkeitjedwederKritik, welche dieEinheiteiner von der Partei beschlossenen Aktion untergräbt oder erschwert.59

Die Revolution von 1905 und das Auftreten der Sowjets waren für Lenin also der Anlass, um die Verbindung zwischen der Partei und den Massen in einer revolutionären Dynamik neu auszuarbeiten. Seit dem Kongress von 1903 wurde Lenin (zu Unrecht, wie wir gesehen haben) immer wieder vorgeworfen, das „spontane Element“ unterzubewerten; 1905 beweist vielmehr, dass er es für entscheidend hielt. Die Verbindung zwischen Spontaneität (Massen) und Organisation (Avantgarde) muss von einem dialektischen Standpunkt aus betrachtet werden. Manchmal und besonders in Perioden, in denen sich die Situation rasch verändert, kann das spontane Element dem organisierten Element voranschreiten. Lenin schrieb: „Den Wechsel in den objektiven Bedingungen des Kampfes, der den Übergang vom Streik zum Aufstand erforderte, hat das Proletariat früher als seine Führer gefühlt.“60 Doch während Lenin seine Konzeption der Partei bereicherte, blieb dieser Aspekt grundsätzlich derselbe wie 1903, als er sich der menschewistischen Konzeption entgegengestellt hatte: Auch in Zeiten der Revolution (und man könnte sagen: besonders in Zeiten der Revolution) ist die Existenz einer einheitlichen und zentralisierten Partei eine entscheidende Frage. Lenin rückte von seiner Konzeption der Partei als Umgruppierung der Avantgarde der Arbeiter:innenklasse nicht ab. Doch die Veränderung der politischen Situation veranlasste ihn dazu, darauf zu bestehen, dass sich die bolschewistischen Kader den Massen überall und jederzeit stellen sollten. Dies zeigt, dass es keine mechanische Beziehung zwischen der Klasse/Massen und der Partei/Avantgarde gab, sondern eine „Bewegung des ständigen Austauschs zwischen der Partei und den gesammelten Erfahrungen der Klasse“, wie Bensaïd es ausdrückt. Daraus ergibt sich die große Flexibilität der Partei in Lenins Konzeption (die in starkem Gegensatz zu der monolithischen Konzeption steht, die ihm von manchen zugeschrieben wird): die Fähigkeit der Partei, die Veränderungen der politischen Situation aufzugreifen, um sich zu erneuern und zu vermeiden, konservativ zu werden. Die Organisation dient also nicht als Bollwerk gegen Spontaneität, sondern ihre Disziplin ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sie sich schnell an veränderte Situationen anpassen kann. Wie der ungarische marxistische Philosoph Georg Lukács erklärte:

Es ist keineswegs die Aufgabe der Partei, irgendwelche abstrakt ausgeklügelte Verhaltungsweise den Massen aufzudrängen. Sie hat im Gegenteil vom Kampf und von den Kampfmethoden der Massen ununterbrochen zulernen. […] Darum istjeder Dogmatismus in der Theorie und jede Erstarrung in der Organisation verhängnisvoll für die Partei.61

Diese Auffassung hebt sich von derjenigen der Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie ab, die die Spontaneität der Massen als eine Hilfskraft betrachtete, die von der Partei von Zeit zu Zeit mobilisierte werden konnte, aber im Wesentlichen ein Faktor der „Desorganisation“ und ein Ausdruck der „Unreife“ des Proletariats war. Dies war die Position von Karl Kautsky in der Debatte mit Rosa Luxemburg und Anton Pannekoek über den „Massenstreik“ 1910 bis 1913, die die Seiten der Neuen Zeit erschütterte und die insbesondere auf einer Bewertung der russischen Revolution von 1905 beruhte. Lenin scheint diese Debatte damals nicht unmittelbar gekannt zu haben, aber es ist unbestreitbar, dass die Position, die er vertrat, derjenigen Luxemburgs viel näherstand als derjenigen Kautskys.

Zuletzt bestätigte und beschleunigte das Jahr 1905 auch die Annäherung zwischen der menschewistischen und der bolschewistischen Strömung. Die Revolution hatte das Ausmaß der politischen und programmatischen Differenzen zwischen den beiden Strömungen offenbart.62 Doch war Lenin zuversichtlich, dass die Menschewiki unter dem Druck der Ereignisse gezwungen sein würden, sich der Politik der Bolschewiki anzuschließen. Schließlich hatten sich Bolschewiki und Menschewiki während der Revolution auf der gleichen Seite der Barrikaden wiedergefunden.

Galt es einen politischen Kampf auszufechten, so konnte und musste er sich für Lenin im Rahmen einer wiedervereinigten Partei entfalten. Er schrieb:

Gegen diese Tendenzen des rechten Flügels unserer Sozialdemokraten müssen wir den entschiedensten, offensten und schonungslosesten ideologischen Kampf führen. […] Aber in einer einheitlichen Partei darf dieser ideologische Kampf die Organisationen nicht spalten, darf er die Aktionseinheit des Proletariats nicht stören.63

So wurde im April 1906 in Stockholm ein Vereinigungsparteitag abgehalten. Auch dort leitete Lenin – neben seiner Analyse der neuen politischen Situation – seine Überzeugung, dass die Revolution etwas war, das entschieden vorbereitet werden musste.64 Er schrieb:

Denkt daran, daß die Ereignisse euch auf jeden Fall und unvermeidlich morgen oder übermorgen zum Aufstand herausfordern werden! Die Frage ist nur, ob ihr dann gerüstet und vereinigt auftreten oder ob ihr verwirrt und zersplittert sein werdet.65

1907 bis 1912: Die Jahre der Reaktion und die endgültige Spaltung

Auf dem Vereinigungskongress, der im April 1906 in Stockholm stattfand, hatten die Menschewiki die Mehrheit: Anwesend waren 62 Delegierte, die 34.000 Menschewiki vertraten, und 46 bolschewistische Delegierte, die 14.000 Aktivist:innen repräsentierten. Lenin und die Bolschewiki behielten ihre Fraktion bei, aber Lenin erklärte, dass ihr Ziel nicht darin bestehe, sich in eine neue Partei umzuwandeln, sondern lediglich darin, eine entschlossene Taktik zum Aufbau der Arbeiter:innenpartei aufzustellen. Auf dem Londoner Kongress im Mai 1907 kehrte sich das interne Kräfteverhältnis um, und die Bolschewiki verfügten über eine knappe Mehrheit. Dies lässt sich insbesondere durch die Ablehnung der aufständischen Aktionen von 1905 durch die Menschewiki erklären, verbunden mit dem Zusammenhalt der bolschewistischen Kader und ihren organisatorischen Bemühungen.

Doch schon bald sah sich die SADPR mit einer neuen, wesentlich ungünstigeren Situation konfrontiert. Ab der zweiten Hälfte des Jahres 1907 und noch mehr ab dem Jahr 1908 entlud sich die Repression des Regimes gegen die sozialdemokratische Bewegung: Die Arbeiter:innenbewegung und die Anzahl der Streiks brachen ein, sozialdemokratische Komitees wurden zerschlagen, es kam zu Verhaftungen und Verbannungen. Über die Mitgliederzahl der SDAPR stellte Pierre Broué fest: „Von mehreren Tausend in Moskau im Jahr 1907 waren es Ende 1908 nur noch 500, Ende 1909 nur noch 150: 1910 gab es keine Organisation mehr. Im ganzen Land sank die Mitgliederzahl von fast 100.000 auf weniger als 10.000.“66 Kurzum, nach der revolutionären Episode von 1905 bis 1906 war die Reaktion hart und der Rückzug allgemein.

All dies trug in besonderem Maße zur Verschärfung der Spannungen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der verbliebenen Partei bei. Erneut begann die Polemik, sowohl über die Bilanz der Revolution von 1905 als auch darüber, welche Politik in der neuen Situation zu verfolgen sei. Die Meinungsverschiedenheiten konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Frage, welche Politik in Bezug auf die dritte Duma und die Aufrechterhaltung der illegalen Aktivitäten der Partei verfolgt werden sollte. Sowohl unter den Menschewiki als auch unter den Bolschewiki gab es Meinungsverschiedenheiten, die zu neuen Konstellationen führten. Innerhalb der bolschewistischen Strömung vertrat Lenin eine Minderheitenposition gegenüber den „Otsowisten“, Anhänger:innen Bodganows, die Lenin die Perspektive einer ausschließlich illegalen Arbeit und eines Boykotts der Duma gegenüberstellten. Lenin leitete jedoch aus der Situation die Notwendigkeit ab, dass die Revolutionär:innen alle Mittel, auch legale oder halblegale, nutzen sollten, um sich vorzubereiten, ihre Kräfte zu sammeln und ihr Programm bekannt zu machen. Obwohl Lenin den reaktionären Charakter der dritten Duma erkannte und gegen Illusionen in der Verfassung kämpfte, zögerte er nicht, mit den Menschewiki gegen einen Boykott der Wahlen zu stimmen. Zu den Anhänger:innen Bodganows gesellten sich die „Ultimatisten“, eine Strömung innerhalb der Bolschewiki, die sich gegen jede legale Tätigkeit aussprach, einschließlich der Beteiligung an Gewerkschaften. Auf der Seite der Menschewiki entwickelte sich eine oppositionelle Tendenz, die dafür eintrat, die klandestine Tätigkeit aufzugeben und sich grundsätzlich nicht an illegalen Aktionen zu beteiligen. Gegen diese „Liquidatoren“-Tendenz versucht Lenin, eine innere Front im Bündnis mit dem Plechanow-Flügel der Menschewiki zu organisieren.

Die Liquidator:innen starteten ihre Offensive auf dem Kongress im Dezember 1908. Lenin beschrieb sie als Versuch einiger Intellektueller der Partei, die bestehende illegale SDAPR zu liquidieren und „sie durch eine formlose legale Organisation zu ersetzen, unsere revolutionären Losungen zu beschneiden usw.“67

So wurde die SDAPR von 1908 bis 1912 nicht nur zahlenmäßig geschwächt, sondern auch von mehreren internen Kämpfen zermürbt. Der reaktionäre Charakter der politischen Ereignisse drängte in den Reihen der Partei jedoch zur Einheit. In einem Text von 1910 mit dem Titel „Notizen eines Publizisten“ stellte Lenin eine „Einigungskrise“ fest, beschrieb „zwei prinzipiell verschiedenen, einander grundlegend zuwiderlaufenden Anschauungen über das Wesen und die Bedeutung unserer Parteivereinigung“68 und bekämpfte die versöhnlerischen Tendenzen, die sowohl auf bolschewistischer als auch auf menschewistischer Seite bestanden.

Eine Anschauung über die Vereinigung rückt die ‚Versöhnung‘ der ‚gegebenen Personen, Gruppen und Institutionen‘ in den Vordergrund. Die Einheit ihrer Anschauungen über die Parteiarbeit, über die Linie dieser Arbeit, ist dabei eine zweitrangige Sache. Die Meinungsverschiedenheiten sollen verschwiegen und ihre Wurzeln, ihre Bedeutung und ihre objektiven Ursachen nicht aufgedeckt werden. […] Es besteht noch eine andere Anschauung über diese Vereinigung. Diese andere Anschauung besteht darin, daß eine ganze Reihe tief verwurzelter, objektiver Ursachen […] schon längst begonnen hat bzw. nach wie vor unentwegt fortfährt, in den zwei seit langem vorhandenen, zwei hauptsächlichen russischen Fraktionen der Sozialdemokratie solche Veränderungen hervorzurufen, die – manchmal gegen den Willen der einen oder anderen der ‚gegebenen Personen, Gruppen und Institutionen‘ und sogar unbewußt für sie – die ideologischen und organisatorischen Grundlagen der Vereinigung schaffen.69

Mit anderen Worten: Für Lenin konnte die Einheit und der Zusammenhalt der Partei nicht erreicht werden, ohne sich den programmatischen und politischen Diskussionen zu stellen, die die russische Sozialdemokratie durchzogen, und ohne einen „Kampf an zwei Fronten“70 gegen die beiden entgegengesetzten Bedrohungen durch den Liquidationismus (Opportunismus) und den Otsowismus (Ultralinke) zu führen. Die Wiederaufstieg des Klassenkampfes ab 1910 und vor allem in den Jahren 1911 und 1912 sowie seine Überzeugung, dass neue revolutionäre Ereignisse bevorstünden, veranlassten Lenin, seine Vorstellungen zu radikalisieren. Revolutionär:innen müssten sich auf den nächsten revolutionären Aufschwung vorbereiten – was nicht ohne eine solide strukturierte Organisation möglich sei. Mit dieser Einsicht ausgestattet, nutzte Lenin die Prager Konferenz vom Januar 1912, um den Ausschluss der Liquidator:innen zu verkünden und mit der Schaffung eines illegalen sozialdemokratischen Kerns zu beginnen, der von einem möglichst großen Netz legaler Arbeiter:innengesellschaften umgeben war. Die Bolschewiki waren endgültig eine unabhängige Partei. Le Blanc merkt an:

Diese Perspektive der Spaltung bedeutete eine Abkehr vom klassischen Vorbild der deutschen Sozialdemokratie, und zwar in einer tiefgreifenden Weise als in jeder der Formulierungen in ‚Was tun?‘ oder ‚Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück‘.71

Die Entscheidung rief in der internationalen Sozialdemokratie heftige Reaktionen hervor und führte zu Kritik von Luxemburg und Kautsky, der den Bolschewiki vorwarf, eine Partei mit einem anderen Inhalt aufzubauen.

1917: Die Partei der Revolution

Seit seiner Gründung entwickelte sich der Bolschewismus innerhalb verschiedener organisatorischer Formen. Dies galt umso mehr während der ereignisreichsten acht Monaten seiner Geschichte, von Februar bis Oktober 1917.

Anfang März 1917, nach den Tagen des Aufstands, die zum Zusammenbruch des zaristischen Regimes geführt hatten, ließ die Aufregung nicht nach. Neue Streiks brachen aus und die Provisorische Regierung war nicht in der Lage, die Situation zu kontrollieren. Von Beginn an sah sie sich mit dem Sowjet konfrontiert, der nach dem Vorbild von 1905 aufgelebt war und zu jener Zeit von den reformistischen Strömungen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre angeführt wurde. In vielerlei Hinsicht hatte der Petrograder Sowjet (und alle Sowjets, die sich im übrigen Land entwickelten) potenziell mehr Macht, weigerte sich aber, diese auszuüben. Stattdessen beschränkte er sich darauf, die bürgerliche Regierung zu beraten und unter Druck zu setzen.

Wie die Revolution 1905 überraschte auch die Revolution vom Februar 1917 die Revolutionär:innen. In Petrograd wurde die bolschewistische Partei von einem „russischen Büro des Zentralkomitees“ angeführt, das um den Metallarbeiter Alexander Schljapnikow organisiert war. Es war eine Führung, die den Ereignissen nachlief und sich schwer tat, sich daran zu orientieren, was geschah. Als zwei Mitglieder der Zentralkomitees, Stalin und Kamenew, am 12. März aus der sibirischen Verbannung zurückkehrten, nahm die Partei eine Position der nationalen Verteidigung sowie der bedingten Unterstützung und des „Drucks“ auf die Provisorische Regierung an.72 Diese Positionen standen dem, was Lenin aus der Schweiz in seinen „Briefen aus der Ferne“ vom 7. bis zum 12. März schrieb, diametral gegenüber.73

Als er am 3. April nach Petrograd zurückkehrte, nahm er sofort den Kampf gegen seine eigene „menschewisierte“ Partei auf. Seine erste Rede hielt er, als er aus seinem „plombierten Zug“ ausstieg. Darin stellte er fest, dass die Februarrevolution die grundlegenden Probleme des Proletariats nicht gelöst habe, dass die Dinge nicht auf halbem Wege stehen bleiben könnten und dass die Arbeiter:innenklasse – im Bündnis mit der Mehrheit der Soldaten – begonnen hatte, die demokratische in eine proletarisch-sozialistische Revolution zu verwandeln. Er schloss:

Von einem Augenblick zum nächsten können wir jeden Tag den Zusammenbruch des gesamten europäischen Imperialismus erwarten. Die russische Revolution, die ihr vollbracht habt, hat dessen Anfang markiert und den Grundstein für eine neue Epoche gelegt. Es lebe die sozialistische Weltrevolution!74

Am folgenden Tag veröffentlichte Lenin die „Aprilthesen“.75 Darin entwickelte er seine vorgeschlagene Orientierung für die Partei und die Revolution: keine Unterstützung für die Provisorische Regierung, sondern entschiedener Kampf gegen sie; Opposition zu jeder „revolutionären Vaterlandsverteidigung“, d.h. die Fortsetzung des Kriegs im Namen der Verteidigung der Revolution; keine Annäherung an die Menschewiki; „Republik der Sowjets“76; Schaffung einer revolutionären Regierung, die aus den Sowjets hervorgeht und das Land auf den Weg zum Sozialismus führt. Diese Positionen standen in Opposition zur Mehrheit des Zentralkomitees, wurden jedoch von den meisten der Kader und der kämpfenden Basis, die von Tag zu Tag anwuchs, geteilt.

Lenin siegte erstaunlich rasch. Seine Positionen wurden auf der ersten Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki (14. bis 22. April) und dann auf der siebten Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR(B) (24. bis 29. April) angenommen.

Nachdem er sich auf die radikale Basis der Partei gestützt hatte, musste Lenin den Lauf der Dinge verlangsamen und das Momentum zu kontrollieren versuchen. Die politische und soziale Krise verschlimmerte sich weiter und die Demonstrationen wurden zu Aufständen (zum ersten Mal in den Tagen vom 20. und 21. April). Innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Petrograder Garnison gab es eine bedeutsame Masse, die die Provisorische Regierung so bald wie möglich stürzen wollte. Die halb-aufständischen Tage vom 3. bis zum 5. Juli waren der höchste Ausdruck dieser Welle die sich entwickelte, obwohl die Situation noch nicht reif war für eine Machtergreifung mit hinreichender Erfolgsaussicht.

Während dieser Periode war die bolschewistische Partei das genaue Gegenteil des Bilds eines monolithischen Blocks mit allmächtiger Leitung und Anführer. Wie die Sowjets und die Fabrikkomitees funktionierte sie hyperdemokratisch, mit rechten, linken und mittleren Tendenzen, die sich andauernd konstituierten und rekonstituierten. Gleichzeitig gab es starke Elemente des Föderalismus und der Autonomie. Lokale oder sektorale Organisationen verteidigten ihre Vorrechte und Entscheidungen, gelegentlich sogar gegen das Zentralkomitee. Die wichtigsten Entscheidungen, die in der Hauptstadt getroffen wurden, waren oftmals Ergebnis langwieriger Diskussionen und letztlich von Kompromissen zwischen der nationalen Leitung und dessen halbautonomen Strukturen.

In Petrograd ging es um zwei Organisationen. Das Petrograder Komitee leitete die Partei und organisierte ihre tägliche Arbeit in den Stadtvierteln und Fabriken der Hauptstadt. Die Führung der Militärorganisation leitete die politische und organisatorische Arbeit in einer Garnison, die über die Zeit hinweg und nach verschiedenen Schätzungen von Historiker:innen zwischen 215.000 und 300.000 Mann umfasste. Diese beiden Strukturen, insbesondere die Militärorganisation, waren in hohem Maße für die Initiative der Julitage verantwortlich – ein Ausdruck und eine Kombination aus massenrevolutionärer Spontaneität einerseits und andererseits Entscheidungen, die von revolutionären Sektoren, hauptsächlich von Bolschewiki, teilweise gegen die Meinung von Lenin und Trotzki, getroffen wurden. Jene schalteten sich dann in die Ereignisse ein, die sie weder organisiert noch wirklich gewollt hatten.77

Von Februar bis Oktober durchlief die Partei zwei gleichzeitige Veränderungen. Erstens nahm sie zehntausende Arbeiter:innen der Avantgarde auf, die frisches Blut in die Partei brachten und sie auf gewisse Weise revolutionierten. Ihre Mitgliedschaft betrug am Vorabend der Februarrevolution nur etwa 20.000, unmittelbar vor dem Oktoberaufstand betrug sie mehr als 100.000. Zweitens fusionierte sie auf dem als Vereinigungskongress bekannten Sechsten Parteitag (26. Juli bis 3. August 1917) mit einer Reihe von Gruppen und Einzelpersonen, die aus ehemaligen bolschewistischen und menschewistischen Organisationen kamen oder von beiden unabhängig geblieben waren. Der wichtigste Sektor unter ihnen waren die Meschrajonzy („Zwischengruppe“), die rund 4.000 Mitglieder zählte, unter ihnen auch Leo Trotzki.78 Der Mann, über den Lenin bis dahin immer wieder mit Sarkasmus gesprochen hatte, mit dem nach seiner wiederholten Aussage gemeinsam niemals etwas möglich sein würde, wurde somit quasi sein Alter Ego an der Spitze der Partei und bald darauf auch der Revolution und des neugeborenen Arbeiter:innenstaats.

Für Lenin war das entscheidende Kriterium die Revolution: Es ging nicht abstrakt um das Programm, sondern in seiner praktischen Anwendung, inmitten des Feuers der revolutionären Ereignisse. In dieser Hinsicht wurde oft behauptet, dass Trotzki 1917 Lenins Position zur Partei zustimmte, während Lenin die Schlussfolgerungen Trotzkis zur sozialistischen Dynamik der Revolution anerkannte. Darin liegt sicherlich eine gewisse Wahrheit, doch muss betont werden, dass die trotzkistische und die leninistische Konzeption der Revolution keineswegs so weit voneinander entfernt waren, wie es manchmal schien. Schon 1905 schrieb er: „[V]on der demokratischen Revolution werden wir sofort, und zwar nach Maßgabe unserer Kraft, der Kraft des klassenbewußten und organisierten Proletariats, den Übergang zur sozialistischen Revolution beginnen. Wir sind für die ununterbrochene Revolution. Wir werden nicht auf halbem Wege stehenbleiben.“79

Auf die Julitage folgte eine Periode der Reaktion und der Repression, die die Bolschewiki in den Untergrund zwang. Diese Bedingungen jedoch schwanden nach wenigen Wochen wieder. Bis Ende August waren sie völlig umgekehrt, als ein versuchter Putsch von General Kornilow die offiziellen Autoritäten diskreditierte und sie gemeinsam mit ihren Unterstützer:innen in den reformistischen Strömungen in der Luft hängen ließ. Kornilow war erst kurz zuvor von Kerenski, dem Präsidenten der Provisorischen Regierung, zum Oberbefehlshaber der Truppen gemacht worden.

Im September war der Aufstieg der Bolschewiki bereits unaufhaltsam. Sie wurden in den Sowjets zur Mehrheit, zuerst in Petrograd, wo Trotzki den Vorsitz wiedererlangte, den er schon 1905 innegehabt hatte, dann in Moskau und in vielen weiteren Provinzen. Lenin erkannte die neue Lage und begrüßte sie freudig, während er gleichzeitig die führenden Bolschewiki dazu drängte, umgehend Vorbereitungen für den Aufstand einzuleiten. Der Pfad zum Sieg der Revolution war offen und die offizielle Übernahme der Macht durch den Gesamtrussischen Sowjetkongress fand am 24. und 25. Oktober statt.

Dies war eine allzu knappe Skizze der Ereignisse vom Februar bis zum Oktober 1917; sie verdiente eine viel umfassendere Ausarbeitung. Jene Ereignisse erlauben uns die Revolution konkret zu begreifen und sie praktisch als einen Prozess zu verstehen, der aus der Verbindung zwischen Partei und Führung hervorgeht, die auf die Revolution und die Selbstorganisierung der Massen vorbereitet und orientiert ist – eben ganz wie in der berühmten Metapher vom Kolben und dem Dampf.80 Wie Liebman schrieb:

Wenn der Leninismus und die leninistische Organisation für einen beträchtlichen Teil der Arbeiterbewegung zur Richtschnur, zum Ideal und zum Vorbild wurden, so ist dies zweifellos auf die Tatsache ihres Triumphes im Jahre 1917 zurückzuführen. Es war der Triumph des Bolschewismus, der dazu führte, dass er überall in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte, sei es im Geiste des Hasses oder der Begeisterung, der Abscheu oder der Ergebenheit.81

Lenins Partei: Eine „Partei neuen Typus“?

Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: In welchem Maße ist Lenin dafür verantwortlich, die Konzeption der revolutionären Organisation erneuert zu haben? Wie der Artikel gezeigt hat, gibt es weder eine systematische Theorie der „leninistischen Partei“, noch besitzt diese eine monolithische Form. Im Gegenteil war Lenins Werk eine andauernde Neuausarbeitung, besonders im Kontext einer sich verändernden politischen Situation. Entgegen des interpretativen Schemas, mit dem der Stalinismus „Was tun?“ in eine abgeschlossene Anleitung für die leninistische Partei verwandelt hat, haben wir gesehen, dass Lenin überhaupt erst 1914 erklärt hat, dass er einen „neuen Typus“ von Partei aufbauen wollte. Selbst dann noch bezog er sich theoretisch auf die deutsche Sozialdemokratie als fortgeschrittenste Sektion der internationalen Sozialdemokratie.

Dies hielt Lenin jedoch nicht davon ab, eine einzigartige Position zu entwickeln, die oft mit den damaligen Ansichten der breiten Mehrheit der internationalen Arbeiter:innenbewegung im Widerspruch stand (zum Verhältnis zwischen Klasse, Partei und Führung; zur Spontaneität der Massen; zur Frage der Einheit der Partei). Ebensowenig bewahrte es seine Positionen vor scharfen Kritiken innerhalb der Zweiten Internationale, wie die oben erwähnten von Luxemburg oder von Kautsky. Jener beklagte die Position der Bolschewiki auf der Prager Konferenz 1912, eine unabhängige Partei aufzubauen. Doch Lenin blieb in jenen Jahren davon überzeugt, dass seine Orientierung mit derjenigen der internationalen Sozialdemokratie übereinstimmte und dass seine Konzeptionen bezüglich der Organisation nicht über den Rahmen des zaristischen Russlands hinaus zu verallgemeinern waren. Wie Bensaïd richtig erklärt hat:

Bis 1914 handelte es sich eher um einen halben Bruch mit der dominanten Orthodoxie, der auf russischen Besonderheiten beruhte, ohne die verallgemeinerbaren Elemente des Ansatzes zu entwickeln. […] Die Problematik systematisierte sich ab 1914.82

Es war der Weltkrieg, der die tiefen Widersprüche der Zweiten Internationale offenbarte und der eine vollständige Umgestaltung der internationalen Arbeiter:innenbewegung beförderte. Im Sommer 1914 stellte die Kriegserklärung der großen europäischen Mächte die Arbeiter:innenparteien vor ein brennendes Dilemma: den Burgfrieden brechen und ein Verbot und den Gang in die Klandestinität riskieren oder sich den Interessen der eigenen Bourgeoisie unterordnen. Mit wenigen Ausnahmen reihten sich die Anführer:innen der Zweiten Internationale hinter dem Banner des „Sozialchauvinismus“ ein. Sie stimmten für die Kriegskredite und brachen mit den Prinzipien des proletarischen Internationalismus, die 1907 auf dem Kongress in Stuttgart bekräftigt worden waren.

Lenin konnte es nicht glauben, als ihn diese Neuigkeit erreichte. Er hielt es für eine Verleumdung, die Zwist in der revolutionären Bewegung säen sollte. Als es klar wurde, dass die Arbeiter:innenorganisationen und besonders ihre Führungen die Interessen der sozialistischen Revolution und der Klassensolidarität verraten hatten, machte Lenin es zu seiner obersten Priorität, die Situation zu verstehen. Es war dringend und unbedingt geboten, die historische Bedeutung dieses Verrats zu begreifen und in praktischer und insbesondere in organisatorischer Hinsicht Schlussfolgerungen zu ziehen. Er schrieb,

daß sich die meisten sozialdemokratischen Parteien und an ihrer Spitze vor allem die größte und einflußreichste Partei der II. Internationale, die deutsche, auf die Seite ihres Generalstabs, ihrer Regierung und ihrer Bourgeoisie gegen das Proletariat gestellt haben. Das ist ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, und man kann nicht umhin, bei einer möglichst allseitigen Analyse dieses Ereignisses zu verweilen.83

Diese Tragödie bot Lenin den Anlass zu einer tiefgreifenden politischen Wiederbewaffnung. Um das Ausmaß dieser Wiederbewaffnung auf theoretischer Ebene zu verstehen, muss erwähnt werden, dass Lenin in den Jahren 1914/15 auch eine detaillierte Studie und kritische Aneignung des Werks von Carl Clausewitz unternahm, dem preußischen General und Theoretiker der Kriegskunst, sowie eine sorgfältige Lektüre von Hegel und eine erneute Untersuchung seiner Dialektik.84 Eine der zentralen Ideen, bei denen Lenin angelangte, war, dass der imperialistische Krieg einen Bruchpunkt mit der vorangegangenen Periode der „friedlichen Entwicklung“ markierte, der eine Neukonzeption des weltweiten historischen und strategischen Rahmens bedeutete. Dazu schrieb er:

Der europäische Krieg bedeutet eine gewaltige historische Krise, den Beginn einer neuen Epoche. Wie jede Krise hat der Krieg die tief verborgenen Widersprüche verschärft und ans Tageslicht gebracht […]. Die II. Internationale, die in den 25 bis 45 Jahren ihres Bestehens (je nachdem, ob man von 1870 oder 1889 an rechnet) mit der weiten Verbreitung des Sozialismus und mit der vorbereitenden, ersten, einfachsten Organisierung seiner Kräfte außerordentlich wichtige und nützliche Arbeit leistete, hat ihre historische Rolle ausgespielt und ist nun tot.85

Die imperialistische Epoche und die 1914 eröffnete Krise führten Lenin zu einer Neubewertung der Rolle des Opportunismus in der Arbeiter:innenbewegung. Bereits vor dem Krieg hatte sich Lenin einige Male dem Kampf gegen den Opportunismus zugewandt. Beispielsweise gab er im Vorwort zum Sammelband „12 Jahre“86, erschienen 1907, einen Abriss der politischen Kämpfe innerhalb der SDAPR seit ihrer Gründung. Es war derselbe Kampf gegen den Opportunismus, der ihn schließlich zum Bruch mit der SDAPR und der Gründung einer unabhängigen Organisation führte. Lenin war zudem wohl bewusst, dass es in den verschiedenen Sektionen der Zweiten Internationale ähnliche Tendenzen gab. Mit der Tragödie von 1914 veränderte sich die Bedeutung dieser opportunistischen Strömungen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung. Er schrieb:

Die durch den großen Krieg herbeigeführte Krise hat alle Hüllen heruntergerissen, alles Konventionelle hinweggefegt, das längst ausgereifte Geschwür aufbrechen lassen und den Opportunismus in seiner wahren Rolle als Verbündeten der Bourgeoisie gezeigt.87

Anders gesagt hatte der Opportunismus für Lenin seine historisch konterrevolutionäre Rolle offenbart. Die Theorie vom Opportunismus als einer, wie er schrieb, „‚berechtigten Schattierung‘ der einheitlichen […] Partei“88, wie sie bis dato existiert hatte, war überkommen. Das Wesen des Kampfes gegen den Opportunismus veränderte sich und Lenin zog politische und organisatorische Schlussfolgerungen. Es ging nicht länger nur um eine Frage der Auseinandersetzung zwischen Tendenzen innerhalb derselben Organisation: „Die völlige, organisatorische Trennung dieses Elements von den Arbeiterparteien ist zur Notwendigkeit geworden.“89 Deshalb rief Lenin ab August 1914 zu einem Bruch mit der Zweiten Internationale auf und betrieb eine internationale Umgruppierung gegen den Opportunismus (oder den „Sozialchauvinismus“ und den Klassenfrieden). Dies führte zu den Konferenzen von Zimmerwald (1915), Kiental (1916) und schließlich zur Gründung der Dritten Internationale (1919).

Diese neue politische Bruchlinie und die Notwendigkeit, national und international vom Opportunismus politisch und strategisch getrennte Organisationen aufzubauen, war die grundlegende Lektion, die Lenin aus dem Verrat von 1914 zog. Wer auch immer sich weigerte, dieser neuen Situation entsprechend zu handeln und dachte, man könnte den Kampf gegen den Sozialchauvinismus innerhalb einer gemeinsamen Partei ausfechten – wie die „Zentrist:innen“ (und besonders Kautsky, der Lenin als größter „Renegat“ galt) – wurde für Lenin zu einem Hindernis auf dem Pfad zum Wiederaufbau revolutionärer Organisationen. Er musste als solches bekämpft werden. Er schrieb:

[D]ie zwischen dem Opportunismus und der revolutionären Sozialdemokratie hin und her schwankenden Elemente (wie das ‚Zentrum‘ in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands), die den Zusammenbruch der II. Internationale zu verschweigen oder mit diplomatischen Phrasen zu bemänteln suchen, [erweisen] dem Proletariat den allerschlimmsten Dienst.90

Auf einer theoretischen und praktischen Ebene stellt 1914 einen vollzogenen Bruch mit dem „Marxismus der Zweiten Internationale“91 und seiner Leitfigur Karl Kautsky dar. Dieser vertrat die Auffassung von der Revolution als einem graduellen und fast natürlichen Prozess, den vorbereiten oder anstiften zu wollen, in Kautskys Worten, ihm gar nicht einfalle.92 Dies führte die Sozialdemokratie zu einem „passivem Radikalismus“93. Diesen Ideen zufolge entsteht die Organisation nur als Ergebnis einer passiven und geduldigen Anhäufung von Kräften. Lenins Rolle in der Neukonzeption durch die junge Dritte Internationale (vor ihrer Bürokratisierung) war hier theoretisch und politisch entscheidend. Er betrachtete den imperialistischen Krieg als Anzeichen, dass eine neue Epoche angebrochen war, die er imperialistische Epoche nannte. Darin gab es keine „homogene und leere Zeit“94 mehr, wie es Walter Benjamin auf den Begriff brachte. Sie war vielmehr von Diskontinuitäten, Brüchen und Krisen durchzogen. (In jenen Jahren erlangte seine Vorstellung einer „revolutionären Krise“, die seit 1905 herangereift war, seine volle Bedeutung an.) In dieser Epoche muss die Partei eingreifen wissen, um aus der Situation einen Vorteil zu ziehen und die Energie der Massen in die Konfrontation mit dem Staat zu lenken.

In dieser Frage des Staates war nebenbei bemerkt Lenins Beitrag entscheidend und seine Gegnerschaft zu Kautsky unbestreitbar.95 In diesem Kontext ist die Partei nicht mehr einfach nur ein Ausdruck des Klassenbewusstseins, eine passive Anhäufung von Kräften, sondern ein wahrhaft strategischer Operator, ein entscheidendes Element, um jedwede Situation zu bearbeiten, ein Arsenal an Taktiken zu artikulieren, ohne das strategische Ziel aus den Augen zu verlieren – die sozialistische Revolution. Auch nach 1914 bezog sich Lenin noch auf den Kautsky prä 1914, wie Lih angemerkt hat96, was zu dem Bruch, der stattgefunden hatte, keinen Widerspruch darstellt. Ebensowenig rechtfertigt es eine „Wiederentdeckung“ der leninistischen Parteikonzeption allein anhand seiner Texte von 1902, wie Emilio Albamonte und Matías Maiello richtigerweise schreiben:

Es geht nicht um die Frage eines „Modells“ der Partei, sondern um die notwendige strategische Arbeit, um es in die Tat umzusetzen, was […] eine seine verschiedene Angelegenheit ist. Die Genese von Lenins Parteikonzeption kann nicht ohne die Schlachten und Kämpfe gegen den ‚Sozialchauvinismus‘ verstanden werden.97

Heute sind die sozialdemokratischen und stalinisierten kommunistischen Apparate in Folge ihrer Anpassung an den „Sozialliberalismus“ und des Zusammenbruchs des Stalinismus und der Sowjetunion weitgehend zurückgedrängt worden. Die Verwandlung dieser Arbeiter:innenorganisationen in Werkzeuge zur Zähmung der Arbeiter:innenbewegung durch die Handlungen ihrer zunehmend in den bürgerlichen Staat eingebundenen Führungen hatte dramatische Konsequenzen für die Arbeiter:innenbewegung. Letztere hat eine Reihe von Niederlagen hinnehmen müssen, besonders nach der Niederlage des revolutionären Aufschwungs von 1968 und der imperialistischen und bürgerlichen Gegenoffensive der neoliberalen Periode. Dies hat zu einem Bruch in der revolutionären Kontinuität geführt. All das hat langanhaltende Auswirkungen auf die Fähigkeit des Proletariats, sich zu organisieren, und auf sein Klassenbewusstsein, obwohl es auf „objektiver“ Ebene ein beispielloses Wachstum der Weltarbeiter:innenklasse gegeben hat.

In jüngerer Zeit scheinen jedoch verschiedene Symptome auf einen Prozess der subjektiven Neuzusammensetzung innerhalb bestimmter Sektoren des Proletariats und der Massen im Allgemeinen hinzuweisen. Eine solche Hypothese ist angesichts des Aufschwungs im internationalen Klassenkampf seit 2019 möglich. Darin verbanden sich Aufstände und Revolten, die manchmal zu Massenstreiks wurden, mit einem Massenradikalismus, der die Grenzen der bürgerlichen Legalität herausfordert, und einer wachsenden Politisierung wichtiger Sektoren der Jugend gegen den systemischen Rassismus und die Zerstörung des Planeten. Diese Elemente bleiben bruchstückhaft, sind jedoch von größter Bedeutung. Sie sind ein echter Trumpf für all diejenigen, die die Perspektive der Revolution nicht aufgegeben haben, denn das Entstehen echter Kampforganisationen hängt zu einem großen Teil von der Fähigkeit ab, sich mit solchen Avantgarde-Sektoren zusammenzuschließen.

In diesem Zusammenhang ist das Aufgreifen des Leninismus zum Aufbau revolutionärer Organisationen das Gegenteil einer elitären Organisationskonzeption oder einer, die eine Art selbstbezogener Minderheit kultivieren würde. Im Gegenteil haben wir gesehen, dass die leninistische Konzeption zusammengefasst werden kann als die Umgruppierung der fortgeschrittensten und bewusstesten Sektoren des Proletariats in einer zentralisierten Partei, deren Ziel es ist, die Revolution vorzubereiten. Was die Partei tut, muss aus einer permanenten Beziehung mit der Aktivität der Massen im Kampf hervorgehen. Konkret beginnt dies damit, den kämpfenden Sektoren, die sich erhoben haben, eine politische und organisatorische Perspektive zu bieten. Diese Perspektive muss unabhängig von den bürokratischen Führungen der Arbeiter:innenbewegung sein, die von Jahrzehnten der versöhnlerischen Politik und des „sozialen Dialogs“ mit der herrschenden Klasse gefesselt ist. (Eine weitere Lektion des Leninismus könnte sein: Mit dem Feind sucht man nicht den Dialog; man organisiert sich, um den Feind zu bekämpfen!)

In Frankreich haben wir, die Aktivist:innen von Révolution Permanente, mithilfe dieses Kompasses in die vielen Klassenkampfphänomene eingreifen versucht, die sich in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Sei es im großen „Kampf um die Schiene“ 2018 mit der Entwicklung von Treffen zwischen den Beschäftigten verschiedener Bahnhöfe, in der Gelbwestenbewegung, der Bewegung gegen die Rentenreform durch die RATP-SNCF-Koordination oder im Streik von Grandpuits: Überall haben wir eingegriffen, indem wir in jeder Schlacht ein strategisches und programmatisches Arsenal zum Einsatz gebracht haben, das uns erlaubt hat, diese Erfahrungen so weit wie möglich voranzutreiben, sie aus dem von der gewerkschaftlichen Routine vorgegebenen Rahmen zu befreien und sie Selbstorganisierung voranzutreiben. Ein solcher Kampf ist nicht widersprüchlich, vielmehr geht es Hand in Hand mit dem Kampf darum, einer neuen Generation kämpferischer Arbeiter:innen eine revolutionäre Organisation zu geben, die ihre Energie in eine Perspektive über den kapitalistischen Horizont hinaus lenkt. Von diesen Erfahrungen bestärkt führen wir gemeinsam mit einigen der Aktivist:innen aus eben jenen Kämpfen heute trotz unseres Ausschlusses aus der NPA die Kampagne zum Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei.

Der Artikel erschien erstmals am 12. Juni 2021 bei RP Dimanche. Die Kampagne zum Aufbau einer neuen revolutionären Organisation in Frankreich mündete Ende 2022 in der Neugründung von Révolution Permanente als Sektion der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale (FT-CI). Die deutschsprachige Fassung des Artikels folgt der englischsprachigen Übersetzung von Scott Cooper, die gegenüber dem französischen Original leicht gekürzt wurde. Jene wurde am 3. Oktober 2021 im Magazin von Left Voice veröffentlicht.

Fußnoten

1. Lars Lih: Lenin Rediscovered. What Is to Be Done? in Context, Brill, Leiden 2005.
2. Siehe z.B. Historical Materialism 18/3 (2010) sowie Marcel Bois: Rezension zu: Lih, Lars T.: Lenin Rediscovered. What Is to Be Done? in Context. Leiden 2006, in: H-Soz-Kult, 06.05.2008.
3. Lih spricht von Lenin als einem „Erfurtianer“, womit er sich auf den Parteitag der SPD 1891 in Erfurt und das dort beschlossene Programm bezog, das innerhalb der Zweiten Internationale als maßgeblich galt.
4. Stéphane Courtois: Lénine, l’inventeur du totalitarisme, Perrin, Paris 2017.
5. Paul Le Blanc: Lenin and the Revolutionary Party, Haymarket Books, Chicago 2016, eigene Übersetzung.
6. Dies geschieht unter dem Namen des „Marxismus-Leninismus“. Ein lehrreiches Beispiel dafür ist Stalins Schrift „Über die Grundlagen des Leninismus“. Darin beschreibt Stalin neben vielen ähnlichen Aussagen „[d]ie Partei als eine mit der Existenz von Fraktionen unvereinbare Einheit des Willens“, und stellt fest: „Die Partei wird dadurch gestärkt, dass sie sich von opportunistischen Elementen säubert.“ J. W. Stalin: Über die Grundlagen des Leninismus. Vorlesungen an der Swerdlow-Universität, in: Ders.: Werke, Band 6, Dietz-Verlag, Berlin 1952, S. 39-101, hier S. 97f.
7. Daniel Bensaïd: Stratégie et parti, Les Prairies ordinaires, Paris 1986, eigene Übersetzung. „Bolschewisierung“ ist die Bezeichnung für eine Wende, die 1924 in der Kommunistischen Internationale stattfand, um Stalins Diktate durchzusetzen und das Recht auf Kritik innerhalb der Kommunistischen Parteien drastisch zu beschränken.
8. Le Blanc: Lenin and the Revolutionary Party, S. 5, eigene Übersetzung.
9. Pierre Broué: Le parti bolchevique. histoire du P.C. de l’U.R.S.S. [Die Bolschewistische Partei. Geschichte der KPdSU], Editions de Minuit, Paris 1963, S. 44, eigene Übersetzung.
10. Der Platz reicht nicht aus, um auf Einzelheiten einzugehen. Es genügt zu sagen, dass diese Entwicklung vor allem durch das langsame Tempo gekennzeichnet war, mit dem sie auf ungleiche und kombinierte Weise einige der fortschrittlichsten Merkmale westlicher kapitalistischer Gesellschaften aufnahm, sowie durch das Fehlen selbst minimaler politischer Freiheiten unter der zaristischen Autokratie. Diese besonderen Merkmale der kapitalistischen Entwicklung in Russland sind von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung des Leninismus und – allgemeiner – der Debatten, die die russische Sozialdemokratie durchzogen. Für weitere Details zu diesen Fragen siehe Broué: Le parti bolchevique; siehe auch Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution (1930).
11. Die russische Bourgeoisie entwickelte sich langsam und mühsam, gefangen zwischen der antiliberalen Autokratie, den russischen Großgrundbesitzer:innen und den westlichen Bourgeoisien auf der einen Seite und den armen Massen der Bauernschaft und der entstehenden, aber bereits recht konzentrierten Arbeiter:innenbewegung auf der anderen Seite. Diese Angst vor einer Radikalisierung der Arbeiter:innenbewegung veranlasste die Bourgeoisie, nach Wegen zu suchen, um mit der Autokratie zu verhandeln.
12. Wie Broué schreibt, sahen sich die Revolutionär:innen „mit einem Regime konfrontiert, das – wie Alexander II. sagte, und was keiner seiner Nachfolger je zu leugnen wagte – zugab, sich nur deshalb von oben her zu verändern, um eine Revolution von unten zu vermeiden. Es hatte erkannt, dass es selbstmörderisch war, irgendeine Form der Opposition zuzulassen, wie friedlich sie auch sein mochte – so jedoch blieb kein anderer Weg als die gewaltsame Revolution.“ Broué: Le parti bolchevique, S. 25, eigene Übersetzung.
13. Broué: Le parti bolchevique, S. 28, eigene Übersetzung.
14. W.I. Lenin: Unsere nächste Aufgabe, in: Ders.: Werke, Band 4, Dietz-Verlag, Berlin 1955, S. 209-214, hier S. 209.
15. Ebd., S. 210. Lenin weiter: „Diesen Zusammenschluß zu verwirklichen, die passende Form für ihn auszuarbeiten, sich endgültig von der engen lokalen Zersplitterung frei zu machen — das ist die nächste und dringendste Aufgabe der russischen Sozialdemokraten.“ Ebd., S. 209. An anderer Stelle schrieb er: „Die Frage besteht also darin, ob die Arbeit, die bereits geleistet wird, auf ‚handwerklerische‘ Weise fortgesetzt werden oder ob sie organisatorisch zur Arbeit einer Partei zusammengefaßt und so gestaltet werden soll, daß sie sich ganz in einem gemeinsamen Organ widerspiegelt.“ Ders.: Eine dringende Frage, in: Ders.: Werke, Band 4, S. 215-220, hier S. 215, Hervorhebung im Original.
16. Ebd., S. 216.
17. Lenin: Unsere nächste Aufgabe, S. 210-213, Hervorhebung im Original.
18. Ders.: Über Streiks, in: Ders.: Werke, Band 4, S. 305-315, hier S. 313.
19. W.I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: Ders.: Werke, Band 5, Dietz-Verlag, Berlin 1955, S. 355-551. Der belgische marxistische Historiker Marcel Liebman nannte das Buch „die kohärentes Darstellung der Ideen einer marxistischen Unternehmung, ein Werkzeug für die Durchführung einer Revolution zu schaffen.“ Marcel Liebman: Leninism under Lenin, Haymarket Books, Chicago 2016, S. 29, eigene Übersetzung. Die französische Erstausgabe erschien 1973.
20. Lih schreibt, Lenin habe die Bezeichnung „Ökonomismus“ als diskursives Mittel benutzt, um einen politischen Kampf zu führen. „Die Polemik in ‚Was tun?‘ richtet sich nicht gegen den Ökonomismus – es ist vielmehr eine Polemik, die den Ökonomismus als Waffe benutzt, um damit die hauptsächlichen Rivalen in der Führung der Iskra zu bekämpfen (die Gruppe Rabotscheje Delo). Lenin nahm richtigerweise an, dass seine Rivalen diskreditiert sein würden, wenn er ihnen das Label ‚Ökonomist‘ anhängen könnte.“ Lih: Lenin Rediscovered, S. 11, eigene Übersetzung.
21. Lenin: Was tun?, S. 389.
22. Ebd., S. 393, Hervorhebung im Original.
23. Ebd., S. 397. Es scheint, als begegnete uns hier eine Idee, die Marx bereits in der „deutschen Ideologie“ formuliert hat: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“ Karl Marx und Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Dies.: Werke, Band 3, S. 9-530, Dietz-Verlag, Berlin 1958, hier S. 46.
24. A.d.Ü.: Die Formulierung „Bending the Stick“ stammt aus Tony Cliffs „Building the Party„: „Auf jeder Ebene des Kampfes suchte Lenin, was er als das entscheidende Glied in der Kette der Entwicklung betrachtete. Er betonte dann wiederholt die Bedeutung dieses Glieds, worunter alle anderen unterzuordnen waren. Hinterher sagte er dann: ‚Wir haben es übertrieben. Wir haben den Stock zu weit gebogen‘, womit er aber nicht meinte, dass er damit einen Fehler gemacht hätte.“ (eigene Übersetzung). Bei Lenin selbst findet sich die Formulierung „den Bogen nach der andern Seite überspannen“, als er 1905 über die praktische Verwirklichung der Wiedervereinigung der SDAPR schrieb: „Wir haben so lange in der Emigrantenatmosphäre ‚theoretisiert‘ (manchmal, gestehen wir’s nur, ins Leere hinein), daß es wahrhaftig nichts schadet, wenn wir jetzt ein klein wenig, ein ganz klein bißchen ‚den Bogen nach der andern Seite überspannen‘ und die Praxis etwas mehr in den Vordergrund rücken.“ W.I. Lenin: Über die Reorganisation der Partei, in: Ders.: Werke, Band 10, S. 13-23, hier S. 23.
25. Lenin: Was tun?, S. 396.
26. Liebman merkte an: „Lenins Kritik richtet sich jedoch nicht so sehr gegen die spontane Aktivität der Arbeiter:innenklasse als gegen sein urwüchsiges, instinktives und folgerichtig mangelhaftes Bewusstsein.“ Liebman: Leninism under Lenin, S. 30, eigene Übersetzung, Hervorhebung im Original.
27. Lenins Konzeption eines Berufsrevolutionärs sollte nicht mit der Praxis eines Vollzeitfunktionärs, also eines Mitglieds, das von der Partei selbst bezahlt wird. Lenin geht es vielmehr darum, Mitglieder anzuwerben und auszubilden, die es als ihren „Beruf“ ansehen, die Revolution zu machen.
28. Lenin: Was tun?, S. 415.
29. Lenin: Was tun?, S. 436, Hervorhebungen im Original. Die Formulierung „nur von außen“, die Lenin tatsächlich Kautsky entlehnt hat, hat zu vielen Interpretationen und Debatten geführt (der Platz erlaubt keine detaillierte Ausführung). Belassen wir es bei der Bemerkung, dass Lenin Kautskys Formulierung eine andere Bedeutung gegeben hat. Für Lenin ging es nicht darum auf die Rolle von kleinbürgerlichen Intellektuellen innerhalb der revolutionären Bewegung zu beharren, sondern um die Notwendigkeit eines politischen Kampfes für die Entwicklung des Klassenbewusstseins. Siehe Hal Draper: The Myth of Lenin’s ‘Concept of the Party’ or What They Did to What Is to Be Done? und Daniel Bensaïd: Strategy and Politics. From Marx to the Third International, Historical Materialism 28/3 (2020), S. 230-266.
30. Lenin: Was tun?, S. 437, Hervorhebungen im Original.
31. Gramsci entwickelte einige Jahrzehnte später diese Konzeption der Hegemonie der Arbeiter:innen weiter.
32. Ironischerweise wurden beide Anträge von Mitgliedern derselben Tendenz der Iskra vorgebracht.
33. Martows Entwurf lautet: „Als zugehörig zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands gilt jeder, der ihr Programm anerkennt und für die Verwirklichung ihrer Aufgaben unter der Kontrolle und Leitung der Organe (sic!) der Partei aktiv arbeitet.“ Lenins Entwurf: „Als Mitglied der Partei gilt jeder, der ihr Programm anerkennt und die Partei sowohl in materieller Hinsicht als auch durch die persönliche Betätigung in einer der Parteiorganisationen unterstützt.“ W.I. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück (Die Krise in unserer Partei), in: Ders.: Werke, Band 7, Dietz-Verlag, Berlin 1956, S. 197-430, hier S. 239f.
34. Die zukünftigen Bolschewiki waren zu Beginn des Kongresses in der Minderheit und wurden am Ende des Kongresses aufgrund eines unerwarteten Ereignisses zur Mehrheit („Bolschewiki“). Vor Ende des Kongresses verließen sieben Delegierte den Kongress. Darunter befanden sich auch die fünf Delegierten des Bundes (der Organisation der jüdischen Sozialisten), die unzufrieden darüber waren, dass eine Mehrheit (darunter die Mehrzahl sowohl der zukünftigen Bolschewiki als auch der Menschewiki ) es abgelehnt hatte, ihnen im Rahmen einer „Föderation“ mit der russischen Partei völlige Autonomie zu gewähren. Ihnen folgten, aus anderen Gründen, die beiden Vertreter der „Ökonomisten“. So wurde aus der Mehrheit zu Beginn des Kongresses eine Minderheit (Menschewiki) und umgekehrt.
35. In den Wochen nach dem Zweiten Kongress weigerten sich die Menschewiki unter der Führung von Martow trotz Lenins Vorschlägen, mit der Iskra zusammenzuarbeiten, es sei denn, man einigte sich darauf, die Zusammensetzung der Redaktion zu überdenken und mehr Menschewiki aufzunehmen. Plechanow, der zunächst mit Lenin verbündet war, gab schließlich den Wünschen von Martows Flügel nach und kooptierte die alte (den Menschewiki genehme) Redaktion. Lenin beschloss, die Redaktion der Iskra zu verlassen, und schrieb mehrere öffentliche Briefe zu diesem Thema, darunter „Brief an die Redaktion der ‚Iskra'“, in: W.I. Lenin: Werke, Band 7, S. 105-109, und „Warum bin ich aus der Redaktion der „Iskra“ ausgetreten? Brief an die Redaktion der ‚Iskra'“, in: ebd., S. 110-117.
36. Mit diesen Worten beschreibt Lenin in „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ die Vorwürfe gegen ihn. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, S. 253f.
37. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, S. 255. Lenin zitiert Axelrod: „Wir schaffen natürlich vor allem eine Organisation der aktivsten Elemente der Partei, eine Organisation von Revolutionären, doch müssen wir, da wir die Partei der Klasse sind, darauf bedacht sein, daß nicht Leute außerhalb der Partei bleiben, die sich bewußt, wenn auch vielleicht nicht ganz aktiv, dieser Partei anschließen.“ Lenin antwortete darauf: „Aus welchem Grunde, kraft welcher Logik soll sich aus der Tatsache, daß wir die Partei der Klasse sind, die Schlußfolgerung ergeben, daß eine Unterscheidung zwischen denen, die der Partei angehören, und denen, die sich der Partei anschließen, überflüssig sei? Ganz im Gegenteil: Gerade weil ein Unterschied im Grad der Bewußtheit und im Grad der Aktivität besteht, muß auch ein Unterschied im Grad der Nähe zur Partei gemacht werden. Wir sind die Partei der Klasse, und deshalb muß fast die gesamte Klasse (und in Kriegszeiten, in der Epoche des Bürgerkriegs, restlos die gesamte Klasse) unter der Leitung unserer Partei handeln, sie muß sich unserer Partei so eng wie möglich anschließen, doch wäre es
Manilowerei und ‚Nachtrabpolitik‘, wollte man glauben, daß irgendwann unter der Herrschaft des Kapitalismus fast die gesamte Klasse oder die gesamte Klasse imstande wäre, sich bis zu der Bewußtheit und der Aktivität zu erheben, auf der ihr Vortrupp, ihre sozialdemokratische Partei, steht. Kein vernünftiger Sozialdemokrat hat je daran gezweifelt, daß unter dem Kapitalismus selbst die Gewerkschaftsorganisation (die primitiver, dem Bewußtsein der unentwickelten Schichten zugänglicher ist) außerstande ist, fast die gesamte oder die gesamte Arbeiterklasse zu erfassen. Es würde bedeuten, nur sich selbst zu betrügen, die Augen vor der gewaltigen Größe unserer Aufgaben zu verschließen, diese Aufgaben einzuengen, wollte man den Unterschied zwischen dem Vortrupp und all den Massen, die sich zu ihm hingezogen fühlen, vergessen, wollte man die ständige Pflicht des Vortrupps vergessen, immer breitere Schichten auf das Niveau dieses Vortrupps zu heben. Ja, es bedeutet, die Augen zu verschließen und all dies zu vergessen, wenn man den Unterschied verwischt zwischen denen, die der Partei angehören, und denen, die sich ihr anschließen, zwischen den bewußten und aktiven Mitgliedern und den Helfern.“ Ebd., S. 257f., Hervorhebung im Original.
38. Ebd., S. 254f.
39. Ebd., S. 257-260.
40. Luxemburgs berühmte Polemik in ihrem Artikel „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ forderte vonseiten Lenins eine Erwiderung heraus, die sich Kautsky in der Neuen Zeit, dem theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie, zu veröffentlichen weigerte. Rosa Luxemburg: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: Dies: Gesammelte Werke, Band 1, 2. Halbband, Berlin 1979, S. 422–446; W.I. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Eine Antwort N. Lenins an Rosa Luxemburg, in: Ders.: Werke, Band 7, S. 480-491. Für mehr Details über diese Debatten siehe Daniel Guérin: Anarchismus und Marxismus, Verlag Freie Gesellschaft, Frankfurt am Main 1979; sowie Le Blanc: Lenin and the Revolutionary Party.
41. Lenin unternahm es auch, diese Debatte zwischen Menschewiki und Bolschewiki innerhalb der internationale Sozialdemokratie neu zu verorten. Er schrieb: „Es ist höchst interessant, festzustellen, daß die von mir aufgezeigten prinzipiellen Züge des Opportunismus in organisatorischen Fragen (Autonomismus, Edel- oder Intellektuellenanarchismus, Nachtrabpolitik und Girondismus) mutatis mutandis (mit entsprechenden Änderungen) in allen sozialdemokratischen Parteien der Welt, wo es überhaupt eine Teilung in einen revolutionären und einen opportunistischen Flügel gibt (und wo gibt es die nicht?), zu beobachten sind.“ Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, S. 401.
42. Le Blanc: Lenin and the Revolutionary Party, S. 95, eigene Übersetzung.
43. Hal Draper: The Myth of Lenin’s ‘Concept of the Party’ or What They Did to What Is to Be Done?, eigene Übersetzung.
44. Wie Lenin 1905 schrieb: „Die Erfahrungen des Kampfes klären rascher und gründlicher auf, als unter anderen Verhältnissen Jahre der Propaganda tun könnten.“ W.I. Lenin: Politischer Streik und Straßenkampf in Moskau, in: Ders.: Werke, Band 9, Dietz-Verlag, Berlin 1957, S. 345-353, hier S. 350.
45. Nach der Revolution von 1905 blieb Lenin dabei, dass die kommende Revolution „nach dem Inhalt der vor sich gehenden sozial-ökonomischen Umwälzung“ bürgerlich-demokratisch sein würde. Die Bourgeoisie sei unfähig, diese bürgerlich-demokratische Revolution zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, weil, so Lenin, ein völliger Sieg die Bourgeoisie in Gefahr brächte. W.I. Lenin: Die Agrarfrage und die Kräfte der Revolution, in: Ders.: Werke, Band 12, Dietz-Verlag, Berlin 1959, S. 329-333, hier S. 330f. Deshalb müsse das Proletariat eine „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ errichten, wie er im Sommer 1905 formulierte. Ders.: Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, in: Ders.: Werke, Band 9, S. 1-130, hier S. 44. Er nahm damit eine Zwischenposition zwischen der Konzeption der Menschewiki und derjenigen Trotzkis, der seinerseits schon 1906 in „Ergebnisse und Perspektiven“ eine erste Version seiner Theorie der permanenten Revolution vertrat. Leo Trotzki: Ergebnisse und Perspektiven. Die treibenden Kräfte der Revolution. Erst Anfang 1917 und insbesondere in seinen „Aprilthesen“ bekräftigte Lenin, dass die Doppelherrschaft einen Übergang zwischen der ersten bürgerlichen und der zweiten Etappe der Revolution markierte, widerspiegelt, „die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muß.“ Fortan stimmte er mit den früheren Ansichten Trotzkis überein. W.I. Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, in: Ders.: Werke, Band 24, Dietz-Verlag, Berlin 1959, S. 1-8, hier S. 4.
46. Der Dritte Kongress der SDAPR fand im April 1905 unter der alleinigen Teilnahme des bolschewistischen Flügels statt. Die Menschewiki versammelten sich im selben Jahr und nannten ihr Treffen eine Konferenz.
47. W.I. Lenin: Die Revolution lehrt, in: Ders.: Werke, Band 9, S. 137-147, hier S. 139, Hervorhebung im Original.
48. 1905 schrieb Lenin: „Die Konferenz der sozialdemokratischen Parteien und Organisationen (SDAPR — ZK, ‚Bund‘, Lettische SDAP, Polnische SD und revolutionäre Ukrainische Partei) hat hinsichtlich der Reichsduma einstimmig die Taktik des aktiven Boykotts gutgeheißen. […] Die Grundlage jener Taktik, die das ZK der SDAPR beschloß und die wir im „Proletari“ von Nr. 12 an, d. h. schon seit zweieinhalb Monaten, vertraten, ist jetzt zur Grundlage der Taktik fast der ganzen Sozialdemokratie in Rußland geworden — mit einer einzigen traurigen Ausnahme. Diese Ausnahme bilden, wie der Leser weiß, die ‚Iskra‘ und die ‚Minderheit‘, die sich von der SDAPR abgespalten hat.“ W.I. Lenin: Die ersten Ergebnisse der politischen Gruppierung, in: Ders.: Werke, Band 9, S. 396-404, hier S. 396.
49. Diese politische Unentschlossenheit bestätigte Lenin seine Ansicht, dass die Menschewiki der opportunistische Flügel der Sozialdemokratie seien.
50. Lenin hob auch die Studierenden hervor. Er schrieb: „Die radikale Studentenschaft, die in. Petersburg und in Moskau die Losungen der revolutionären Sozialdemokratie aufgegriffen hat, ist die Avantgarde aller demokratischen Kräfte“. Er beschrieb sie als Teil der Kräfte „die die Niedertracht der in die Reichsduma gehenden ‚konstitutionell-demokratischen‘ Reformer verabscheuen“. Lenin: Politischer Streik und Straßenkampf in Moskau, S. 351.
51. Trotzki, damals ein unabhängiger Menschewik, wurde während der Revolution von 1905 zum Präsident des Petersburger Sowjet gewählt.
52. Broué, Le parti bolchevique, S. 35, eigene Übersetzung.
53. W.I. Lenin: Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten (Brief an die Redaktion), in: Ders.: Werke, Band 10, Dietz-Verlag, Berlin 1958, S. 1-12, hier S. 3, Hervorhebungen im Original. In Lenins Konzeption waren die Sowjets mit der Partei verbunden, um die Entwicklung des revolutionären Prozesses voranzutreiben: „Der Sowjet der Arbeiterdeputierten ging aus dem Generalstreik hervor, er entstand auf Grund des Streiks und für die Ziele des Streiks. […] Mir scheinen für die Führung des politischen Kampfes gegenwärtig sowohl der Sowjet (umgebildet in einer Richtung, über die gleich gesprochen werden soll) als auch die Partei gleichermaßen unbedingt notwendig zu sein.“ Ebd., S. 4f. „Je mehr sich die Volksbewegung ausbreitet, um so mehr offenbart sich die wahre Natur der verschiedenen Klassen, um so dringlicher wird die Aufgabe der Partei, die Klasse zu führen, ihr Organisator zu sein, statt hinter den Ereignissen einherzutrotten. […] Je breiter die neuen, an Zahl ständig zunehmenden Ströme der gesellschaftlichen Bewegung werden, um so wichtiger wird eine starke sozialdemokratische Organisation, die es versteht, für diese Ströme ein neues Flußbett zu schaffen.“ Ders.: Neue Aufgaben und neue Kräfte, ebd., Band 8, S. 201-211, hier S. 206f., eigene Übersetzung.
54. Lenin: Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten, S. 7.
55. Die legale Arbeit war noch für längere Zeit ein Ursprung von Debatten und Zwietracht in der russischen Sozialdemokratie.
56. Lenin machte sich über jene lustig, die Formeln auswendig gelernt hatten, um sie andauernd zu wiederholen.
57. Den bolschewistischen Kadern, die über die Öffnung der Tore der Partei besorgt waren, antwortete Lenin: „Nein, Genossen, wir wollen diese Gefahr nicht übertreiben. Die Sozialdemokratie hat sich einen Namen gemacht, hat eine Richtung geschaffen, hat Kader proletarischer Sozialdemokraten geschaffen. Und im gegenwärtigen Zeitpunkt, da das heroische Proletariat seine Kampfbereitschaft und seine Fähigkeit, solidarisch und standhaft für klar erkannte Ziele zu kämpfen, in rein sozialdemokratischem Geist zu kämpfen, durch die Tat bewiesen hat – in einem solchen Zeitpunkt wäre es direkt lächerlich; daran zu zweifeln, daß die Arbeiter, die unserer Partei angehören oder die morgen, der Aufforderung des ZK folgend, in sie eintreten werden, in 99 von 100 Fällen Sozialdemokraten sind. Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch, und die mehr als zehnjährige Arbeit der Sozialdemokratie hat schon sehr, sehr viel dazu beigetragen, diese spontane in eine bewußte Einstellung zu verwandeln. Malt keine Schreckbilder an die Wand, Genossen! Vergeßt nicht, daß es in jeder lebendigen und sich entwickelnden Partei stets unbeständige, wankelmütige und schwankende Elemente geben wird. Aber diese Elemente lassen sich von dem erprobten und fest zusammengeschweißten sozialdemokratischen Kern beeinflussen und werden sich weiterhin von ihm beeinflussen lassen.“ Lenin: Über die Reorganisation der Partei, S. 16.
58. Ebd., S. 13.
59. Ders.: Freiheit der Kritik und Einheit der Aktionen, in: Ders.: Werke, Band 10, S. 446-448, hier S. 447.
60. W.I. Lenin: Die Lehren des Moskauer Aufstands, in: Ders.: Werke, Band 11, Dietz-Verlag, Berlin 1958, S. 157-165, hier S. 159.
61. Georg Lukács: Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken, Arbeiterbuchhandlung, Wien 1924, Hervorhebung im Original.
62. 1906 schrieb Lenin: „Unser rechter Flügel glaubt nicht an einen vollen Sieg der gegenwärtigen, d. h. der bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußland, er fürchtet diesen Sieg und stellt die Losung dieses Sieges nicht entschieden und eindeutig vor dem Volke auf. Er irrt ständig zu dem grundfalschen und den Marxismus verflchenden Gedanken ab, daß nur die Bourgeoisie die bürgerliche Revolution selbständig ‚machen‘ könne oder daß nur die Bourgeoisie berufen sei, die bürgerliche Revolution- zu führen. Die Rolle des Proletariats als des Vorkämpfers für einen vollen und entscheidenden Sieg der bürgerlichen Revolution ist dem rechten Flügel der Sozialdemokratie nicht klar. […] Daher auch die (milde ausgedrückt) skeptische Haltung unserer Sozialdemokraten des rechten Flügels zum Aufstand, daher das Bestreben, die Erfahrungen des Oktober und Dezember, die damals herausgebildeten Kampfformen mit einer Handbewegung abzutun. Daher ihre Unentschlossenheit und Passivität im Kampf gegen die konstitutionellen Illusionen – ein Kampf, den jede wirklich revolutionäre Situation in den Vordergrund rückt.“ W.I. Lenin: Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR (Brief an die Petersburger Arbeiter), in: Ders.: Werke, Band 10, S. 317-386, hier S. 391f.
63. Ebd., S. 383f.
64. Lenins regelrechte Besessenheit, die Partei auf revolutionäre Gelegenheiten vorzubereiten, hebt sich mit der deterministischen/naturalistischen Interpretation des Marxismus in der Zweiten Internationale und insbesondere bei Kautsky. Dieser schrieb bekanntermaßen: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, dass es ebensowenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen. Und da die Revolution nicht von uns willkürlich gemacht werden kann, können wir auch nicht das Mindeste darüber sagen, wann, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sie eintreten wird.“ Karl Kautsky: Der Weg zur Macht, Vorwärts, Berlin 1909, S. 44.
65. W.I. Lenin: Die Lehren der Moskauer Ereignisse, in: Ders.: Werke, Band 9, S. 375-384, hier S. 384.
66. Broué: Le parti bolchevique, S. 37, eigene Übersetzung.
67. W.I. Lenin: Zur Einheit, in: Ders.: Werke, Band 16, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 141-150, hier S. 142.
68. Ders.: Notizen eines Publizisten, in: Ebd., S. 193-261, hier S. 214.
69. Ebd., S. 210-213.
70. Ebd., S. 214.
71. Le Blanc: Lenin and the Revolutionary Party, S. 168, eigene Übersetzung.
72. Siehe Alexander Rabinowitch: Prelude to Revolution. The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising, Indiana University Press, Bloomington 1968 [Neuauflage 1991]; Broué: Le parti bolchevique; E. H. Carr: A History of Soviet Russia, Band 1: The Bolshevik Revolution, 1917-1923, Macmillan Press, London 1950.
73. W.I. Lenin: Briefe aus der Ferne, in: Ders.: Werke, Band 23, Dietz-Verlag, Berlin 1957, S. 309-357.
74. zit. nach Nicolas Soukhanov: La Révolution russe, Éditions Stock, Paris 1965, S. 156-172, eigene Übersetzung.
75. Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, siehe Fußnote 45.
76. Ebd., S. 5.
77. Siehe Trotzki: Geschichte der Russischen Revolution.
78. Es waren daran aber auch weitere bolschewistische Führungsfiguren ersten Ranges beteiligt: Moissei Urizki, Adolf Joffe, Anatoli Lunatscharski und Dawid Rjasanow.
79. W.I. Lenin: Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung, in: Ders.: Werke, Band 9, S. 225-234, hier S. 232.
80. Wie Trotzki in „Geschichte der Russischen Revolution“ schrieb: „Nur auf Grund des Studiums der politischen Prozesse in den Massen selbst kann man die Rolle der Parteien und Führer begreifen, die zu ignorieren wir am allerwenigsten geneigt sind. Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf.“
81. Liebman: Leninism under Lenin, S. 147.
82. Bensaïd: Stratégie et parti.
83. W.I. Lenin: Der Zusammenbruch der II. Internationale, in: Ders.: Werke, Band 21, Dietz-Verlag, Berlin 1960, S. 197-256, hier S. 200.
84. Siehe hierzu Emilio Albamonte und Matías Maiello: Estrategia socialista y arte militar, Ediciones IPS, Buenos Aires 2017; auch Stathis Kouvelakis: Lenin as Reader of Hegel. Hypotheses for a Reading of Lenin’s Notebooks on Hegel’s The Science of Logic, in: Sebastian Budgen, Stathis Kouvelakis und Slavoj Žižek (Hg.): Lenin Reloaded. Toward a Politic of Truth, Duke University Press, Durham, NC 2007, S. 164.
85. W.I. Lenin: Der tote Chauvinismus und der lebendige Sozialismus (Wie soll die Internationale wiederhergestellt werden?), in: Ders.: Werke, Band 21, S. 83-90, hier. S. 87f.
86. Ders.: Vorwort zum Sammelband „12 Jahre“, in: Ders.: Werke, Band 13, Dietz-Verlag, Berlin 1963, S. 86-105.
87. Ders.: Der Zusammenbruch der II. Internationale, S. 253.
88. Ebd.
89. Ebd.
90. Ders.: Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, in: Ders.: Werke, Band 21, S. 11-21, hier S. 17.
91. Zur Vertiefung dieser Fragen siehe insbesondere Karl Korsch: Der gegenwärtige Stand des Problems „Marxismus und Philosophie“. Zugleich eine Antikritik, Leipzig 1930, Lukács: Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken, Ders.: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Malik-Verlag, Berlin 1923 sowie die Ausarbeitungen Antonio Gramscis.
92. Kautsky: Der Weg zur Macht, S. 44.
93. Unter anderem um diesen Begriff drehte sich eine Polemik zwischen Karl Kautsky und Anton Pannekoek, die von 1911 bis 1913 in den Spalten der Neuen Zeit ausgetragen wurde. Daraus u.a.: Karl Kautsky: Die neue Taktik, in: Die Neue Zeit 30/1 (1912), S. 654-664, 688-698 und 723-733; Anton Pannekoek: Marxistische Theorie und revolutionäre Taktik, in: Die Neue Zeit 31/1 (1913), S. 272-281, 365-373 und 611-612.
94. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte.
95. Siehe W.I. Lenin: Staat und Revolution, in: Ders.: Werke, Band 25, S. 393-507 und Ders.: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, in: ebd., Band 28, S. 225-327.
96. Lars T. Lih: „Kautsky as Marxist“ Data Base.

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