Die Kooperation als Macht der Arbeiter:innenklasse und der Kampf für den Sozialismus

08.09.2024, Lesezeit 30 Min.
Übersetzung:
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Foto: Artem Podrez.

Welche Rolle spielt Kooperation im Kapitalismus? Und wie kann die Macht der Kooperation den Weg zum Sozialismus ebnen?

Der Diskurs von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus ist ein Bindeglied zwischen Liberalismus und Peronismus. Auf der einen Seite hält der extrem rechte argentinische Präsident Milei den Markt für unfehlbar, erklärt Kapitalist:innen zu „Held:innen“ und behauptet, dass die Zukunft des Landes in der bedingungslosen Einreihung hinter dem Finanzkapital bestünde. Auf der anderen Seite argumentiert die ehemalige Präsidentin und Anführerin des Peronismus, Cristina Fernández de Kirchner, dass der Kapitalismus „die effizienteste Produktionsweise“ sei, und besteht auf dem gescheiterten Projekt, die Großkonzerne durch den Staat zu „regulieren“. Die antikapitalistische und sozialistische Linke wirft gegenüber dieser Sackgasse eine Alternative auf: ein eigenes Programm der arbeitenden Massen, um die Kapitalist:innen für die Krise zahlen zu lassen und die Gesellschaft auf einer neuen Grundlage zu reorganisieren. Die offizielle Ideologie hält das für unmöglich. Das würde stimmen, wäre die Arbeiter:innenklasse nur Ausdruck eines weiteren korporativen Interesses, eine bloße Ansammlung von Lohnabhängigen oder Konsument:innen. Aber als produzierende Klasse der Gesellschaft ist sie die potenzielle Trägerin neuer Beziehungen der Kooperation, eine gesellschaftliche und produktive Kraft mit einem schöpferischen Potenzial sowohl auf ökonomischer als auch auf politischer Ebene, welche den Weg zu einer neuen Gesellschaft ebnen kann. Was meinen wir damit?

Die Arbeiter:innenklasse als produzierende Klasse

Ein tief verwurzelter common sense in unseren Gesellschaften besteht darin, dass die Unternehmer:innen Arbeit schaffen. Aber seit Marx wissen wir, dass die Kapitalist:innen keine „Arbeit schaffen“, sondern sie „legal“ stehlen. Ein:e Kapitalist:in kauft Arbeitskraft, die Fähigkeit der Arbeiter:innen zu produzieren, für eine bestimmte Zeit, den Arbeitstag. Jedoch ist der Wert, den diese Arbeitskraft in, sagen wir, acht Stunden produziert, höher als der Wert, der sich im Arbeitslohn ausdrückt. In der Aneignung dieser unbezahlten Arbeit, die Marx „Mehrwert“ nannte, liegt das Geheimnis des kapitalistischen Profits. Das sorgt dafür, dass der:die Kapitalist:in die Waren auf dem Markt für einen höheren Wert verkaufen kann, als das In-Bewegung-Setzen der Produktionsmittel, die Rohstoffe und die Arbeitskraft, gekostet haben. Nicht das Kapital schafft Arbeit, sondern die Arbeitskraft ermöglicht dem Kapital, sich in erweitertem Maß zu reproduzieren.

Das Ausmaß der unbezahlten Arbeitskraft, welche sich die Kapitalist:innen aneignen, ist keine Abstraktion, sondern kann zumindest näherungsweise berechnet werden. Zum Beispiel legen die makroökonomischen Zahlen des Privatsektors in Argentinien für das Jahr 2021 nahe, dass die bezahlte Lohnarbeit nach Abzug aller anderen Produktionskosten durchschnittlich 39 Prozent des Arbeitstages ausmachte und die unbezahlte Arbeit (die der:die Kapitalist:in einbehält) die restlichen 61 Prozent.1 Damit dieser Mechanismus funktioniert, muss das Kapital die Arbeitskraft wie jede andere Ware behandeln, wie einen Produktionsfaktor wie Rohstoffe, Gebäude, Maschinen und Werkzeuge. Der:die Arbeiter:in wäre dann „Humankapital“. Aber die Arbeitskraft ist keine Ware wie jede andere, sondern die einzige, die neuen Wert schaffen kann. Sie ist die einzige Ware, die die ganze „tote Arbeit“ – also die vergangene, in den Maschinen und im technisch-wissenschaftlichen System akkumulierte Arbeit – „zum Leben erwecken“, in Bewegung setzen kann. 

Die Konzeption der Gesellschaft als eine Ansammlung isolierter Individuen, die sich im Wettbewerb miteinander befinden, geht auf die Ursprünge der Bourgeoisie zurück, der Neoliberalismus hat sie nur radikalisiert. Unter diesem Prisma wird das Individuum zu einem rationalen Subjekt, wenn es die Möglichkeit anerkennt, seine Fähigkeiten zu maximieren und sein Verhalten so zu steuern, dass es bei den geringsten Kosten den größtmöglichen Nutzen erhält. Diese Idee ist für das Kapital höchst funktional, da sie den Wettbewerb unter den Arbeiter:innen antreibt und die Infragestellung der Privilegien der Kapitalist:innen verhindert. Jedoch ist diese Art bürgerlicher Individualismus die elementarste ideologische Repräsentation einer kollektiven Grundlage, die nicht bewusst anerkannt wird, ohne die aber weder der Kapitalismus noch die Gesellschaft, wie wir sie kennen, existieren könnte. Ihre grundlegende Kraft ist die Kooperation, welche heute ein nie dagewesenes Niveau erreicht hat.

Die produzierende und schöpferische Kraft der Kooperation

Der Kapitalismus musste und muss sich die Kooperation der Arbeiter:innen als essentielle Produktivkraft aneignen. Kooperation in ihrer elementarsten Bedeutung ist, wie Marx im Kapital definiert: „[d]ie Form der Arbeit vieler, die in demselben Produktionsprozeß oder in verschiednen, aber zusammenhängenden Produktionsprozessen planmäßig neben- und miteinander arbeiten“2. Die Kooperation tendiert nicht nur dahin, die individuelle Arbeitskraft zu erhöhen, sondern sie schöpft neue Produktivkraft. Es ist die gesellschaftliche Arbeit, durch welche die:der Arbeiter:in ihre individuellen Beschränkungen überwinden und eine größere schöpferische Kraft entfalten.

Die Kooperation in ihrer einfachen Form geht mit der Produktion in großem Maßstab einher. Historisch entsteht die Kooperation mit der Entwicklung der Manufaktur aus der Arbeitsteilung und der Kombination aufgeteilter Arbeiten. Mit der Großindustrie entsteht die Großmaschinerie als objektiver Faktor, der die Kooperation unumgänglich macht, sie funktioniert nur durch unmittelbar kollektive Arbeit. Diesbezüglich bemerkt Marx:

In der einfachen und selbst in der durch Teilung der Arbeit spezifizierten Kooperation erscheint die Verdrängung des vereinzelten Arbeiters durch den vergesellschafteten immer noch mehr oder minder zufällig. Die Maschinerie […] funktioniert nur in der Hand unmittelbar vergesellschafteter oder gemeinsamer Arbeit. Der kooperative Charakter des Arbeitsprozesses wird jetzt also durch die Natur des Arbeitsmittels selbst diktierte technische Notwendigkeit.3

Verallgemeinert gesagt produziert diese gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit, die aus der Kooperation entspringt, größere Gebrauchswerte bei geringerer Arbeitszeit als jeder einzelne individuelle Arbeitstag, der an dem Prozess mitwirkt. Auf diese Weise reduziert die Kooperation die notwendige Arbeitszeit zur Schaffung eines bestimmten Produkts. Das heißt, sie beinhaltet das Potential zur Freisetzung von Lebenszeit, die zuvor als Arbeitszeit für die Subsistenz nötig war, und zur Umwandlung dieser Zeit in Freizeit für die Arbeiter:innen.

Jedoch ist die Bedingung für die Kooperation lohnabhängiger Arbeiter:innen in unserer Gesellschaft die Konzentration großer Massen an Produktionsmitteln (Fabriken; Maschinerie, Boden usw.) in den Händen der Kapitalist:innen. Da die Kapitalist:innen über das Eigentum an diesen gesellschaftlichen Produktionsmitteln verfügen, sammeln sie die Arbeiter:innen und drücken ihnen despotisch ihre Produktionsmethoden und ihren Produktionsplan auf, um ihren Profit zu maximieren. Wie Marx sagt: „Der Oberbefehl in der Industrie wird Attribut des Kapitals, wie zur Feudalzeit der Oberbefehl in Krieg und Gericht Attribut des Grundeigentums war.“4

Ausgehend von diesem Schema haben sich die Formen der Kooperation historisch je nach den unterschiedlichen Modi der Arbeitsorganisation, welche die Kapitalist:innen durchgesetzt haben, gewandelt. Im Modell des Fordismus (Fließbandfertigung, Serienproduktion, Standardisierung, rigide Kontrolle der Arbeitsrhythmen usw.), das seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchgesetzt wurde, war die:der Arbeiter:in als eine Art mechanisches Objekt konzipiert, das dem Rhythmus des Fließbands gedankenlos folgen muss. Danach kam das Modell des Toyotismus, welches sich seit den 1970er Jahren ausbreitete und die Idee des:der flexiblen Arbeiter:in und der „Polyvalenz“ [in etwa „Mehrwertigkeit“ oder „Multifunktionalität“, A.d.Ü.] durchsetzte. Es nahm sich vor, die Fähigkeiten der Arbeiter:innen auszunutzen, Probleme zu lösen, im Team zu arbeiten (durch „Gruppenarbeit“), sowie ihr Wissen zu nutzen. Auf diese Weise integrierte der Toyotismus auch die Subjektivität der Arbeiter:innen, um das Niveau der Ausbeutung zu erhöhen. Mit diversen Methoden haben die Kapitalist:innen so immer weiter und ausgeklügelter die Macht der Kooperation der Arbeiter:innenklasse enteignet und ausgepresst.

Die kapitalistische Umstrukturierung der letzten Jahrzehnte drückte sich als Prozess der Dezentralisierung durch Outsourcing und die Zunahme prekärer Arbeit aus. Aber in Wirklichkeit gingen diese Phänomene Hand in Hand mit einer größeren Konzentration und Zentralisation des Kapitals in fast allen Bereichen der Produktion von Gütern und Dienstleistungen.5 In der Hitze der sogenannten Globalisierung fand ein astronomischer Sprung in der Kooperation auf lokaler, regionaler und globaler Ebene statt. Weit entfernt davon, eine „postindustrielle“ Gesellschaft zu schaffen, hat die Globalisierung etwas geschaffen, das wir in Anlehnung an Corsino Vela einen „verstreuten Fordismus“ nennen können.6 Immer größere Aspekte der Produktion sind in Just-in-Time-Lieferketten miteinander verflochten. Damit verbunden fand eine „Revolution in der Logistik“ statt, mit enormen Transportzentren, großen Lagerhallen und Verteilungszentren, Flughafenstädten, Häfen auf immer größerem Maßstab und intermodale Transportnetzwerken, die zehntausende Arbeiter:innen an geographischen Orten angrenzend an die großen Metropolen konzentrieren.

Je komplexer die Produktion, desto effektiver ist die Kooperation. Nie zuvor hing die Gesellschaft auf globaler Ebene so sehr von der Produktivkraft der Kooperation ab oder hatte das Ausmaß erreicht, das sie heute hat. Dennoch verwandelt sich diese enorme Macht der Kooperation der:des kollektiven Arbeiter:in unter der despotischen Leitung der Kapitalist:innen in einen äußerlichen Zwang für die Arbeiter:innen, dessen Hauptziel der kapitalistische Profit ist. Die Grundlage dafür besteht darin, dass die Kooperation im selben Moment entsteht, wie die:der Arbeiter:in mit dem Verkauf der Arbeitskraft an die:den Kapitalist:in für die Dauer des Arbeitstages seine Freiheit verliert. So präsentiert sich die Kooperation dem:der Arbeiter:in als fremde Eigenschaft einer Macht, die sie:ihn dominiert. Aber das ist nicht der Fall.

Etwas ähnliches geschieht mit der Produktivkraft des general intellect oder des allgemeinen gesellschaftlichen Wissens, das sich in der wissenschaftlich-technischen Entwicklung ausdrückt, die die Menschheit angehäuft hat. Mitte des 19. Jahrhunderts hob Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie schon hervor, wie weit die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses bereits der Kontrolle des general intellect unterworfen und ihm angepasst worden sind. Die Entwicklung der Maschinen, Lokomotiven, Eisenbahnen, der elektrischen Telegraphen usw. waren, so Marx, „von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft“, die sich in Organe des menschlichen Willens verwandeln und aufzeigen, wie weit das allgemeine gesellschaftliche Wissen sich in Produktivkraft verwandelt hat.7 Bis heute wurden diesen „Organen des menschlichen Hirns“ zahllose Entwicklungen hinzugefügt, von Microchips, Satelliten und Internet bis hin zur Genetik, Robotik und künstlicher Intelligenz. Der general intellect hat Ausmaße angenommen, die die frühere Geschichte um ein Weites übertreffen.

Gleichwohl ist, wie Marx ebenfalls hervorhob, „[d]ie Akkumulation des Wissens und des Geschicks, der allgemeinen Produktivkräfte des gesellschaftlichen Hirns, […] so der Arbeit gegenüber absorbiert in dem Kapital und erscheint daher als Eigenschaft des Kapitals, und bestimmter des capital fixe.“8 Im Kapitalismus verwandelt sich das allgemeine gesellschaftliche Wissen schon bei seiner Entstehung in Privateigentum. Legionen an Wissenschaftler:innen und Techniker:innen bevölkern die „Research & Development“-Abteilungen der Großkonzerne. Ihre Produkte werden zum Eigentum der:des – individuellen oder kollektiven – Kapitalist:in, der sie in das elendige Korsett des Profits zwängt und so ihre potenziell freie Zirkulation mit juristischen Mitteln (Patenten, Lizenzen usw.) beschränkt. Danach bleiben sie in dieser Eigentumsform eingezwängt, wenn sie in fixes Kapital zur Anwendung für die Produktion objektifiziert werden. Es ist sogar üblich, dass dieses Wissen zu militärischen Zwecken eingesetzt, wodurch Produktivkräfte zu Zerstörungskräften werden. In jedem Fall steht dieses Wissen dem kollektiven Arbeiter als etwas Fremdes gegenüber. 

Entgegen des hegemonialen Diskurses über die Unmöglichkeit der Überwindung des Kapitalismus, der Liberale und Peronist:innen vereint und diese Enteignung naturalisiert, basiert die Möglichkeit des Sozialismus gerade darauf, die Macht der Kooperation und des general intellect bewusst anzunehmen und sie aus den Händen der Kapitalist:innen für die Arbeiter:innenklasse zurückzuerobern. Auf diese Weise wäre es möglich, sich kollektiv und demokratisch die technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten anzueignen und sie gleichzeitig umzufunktionieren9, um die Arbeitszeit zu senken und die repetitiven und einseitigen Tätigkeiten auf ein Minimum zu verringern. Dasselbe gilt für die Vergesellschaftung der reproduktiven Arbeit, indem sie aus dem privaten Raum herausgezogen wird, welcher die unbezahlte weibliche Arbeit aufrechterhält, und für die Schaffung einer ausgeglichenen Beziehung mit der Natur.

Hier liegt die Grundlage für den Aufbau einer Gesellschaft, in der sich die Produzent:innen frei zusammenschließen, mit kollektiven Produktionsmitteln arbeiten und ihre individuellen Kräfte in einer großen gesellschaftlichen Arbeitskraft vereinen. Niemals zuvor in der Geschichte war – vom Standpunkt der Entwicklung der Kooperation und des general intellect aus betrachtet – die Möglichkeit des Voranschreitens zu einem solchen sozialistischen Projekt so sehr auf der Tagesordnung wie heute.

Kooperation, konstituierende Macht und Revolution

Die Macht der Kooperation betrifft nicht nur die ökonomische Produktion und Reproduktion der Gesellschaft, sie ist ebenfalls das politische Substrat der konstituierenden Macht der Arbeiter:innenklasse – jene Vorstellung im Kommunistischen Manifest, dass die Arbeiter:innenklasse sich in die führende Klasse der Gesellschaft verwandeln kann. Der springende Punkt ist hier, wie die Arbeiter:innenklasse jene ihr eigene Macht der Kooperation freisetzen kann, um sie als konstituierende Macht einer neuen Gesellschaft zu entfalten.

Eine der systematischsten Forschungen über dieses Problem führte der italienische autonomistische Intellektuelle und Politiker Toni Negri in seinem Buch Il potere constituente (dt. Konstituierende Macht, Mandelbaum Verlag, noch unveröffentlicht)10 durch. In einem Kapitel analysiert er Marx‘ Kapital, indem er die Mechanismen untersucht, mittels derer die produktive Kooperation zum politischen Subjekt wird, und wie aus produktiver Macht konstituierende Macht wird. Einen Ausgangspunkt findet er auf den Seiten, wo Marx die Kämpfe für die Verringerung der Arbeitszeit studiert. Dort stehen sich die Kommandogewalt der:des Kapitalist:in und die Kooperation der:des kollektiven Arbeiter:in direkt gegenüber und drücken „ihr“ jeweiliges Recht aus. Das „Recht“ der:des Kapitalist:in besteht darin, die Arbeitskraft, die sie:er erworben hat, für die längstmögliche Zeit auszunutzen. Aber was ist das Recht der Arbeiter:innen, wenn sie für die Verkürzung des Arbeitstages kämpfen? Negri antwortet darauf:

Es handelt sich um einen Versuch der Wiederaneignung gegen die Enteignung, es ist der Anspruch, dass die Organisation der Produktion ausgehend von der Kooperation, der Gleichheit, der Intelligenz stattfinden kann. Es ist die Idee, dass die produktive Macht nicht entfremdet sein muss, sondern sich im Gegenteil in konstituierende Macht verwandeln muss, die sich immer weiter öffnet und entwickelt.11

Von diesem Blickwinkel aus sieht Negri in Marx‘ Herangehensweise an die Kämpfe um die Länge des Arbeitstages einen Hinweis auf einen neuen konstitutiven Prozess, der in der Macht der Kooperation, in der Subjektivität der Arbeiter:innenklasse eingeschlossen ist. In diesen Kämpfen können wir spüren, wie eine konstituierende Macht, die auf der Kooperation beruht, zu einer materiellen Kraft wird, da laut Marx „die allmählich anschwellende Empörung der Arbeiterklasse den Staat zwang, die Arbeitszeit gewaltsam zu verkürzen“. Für Negri erklärt das, dass wir in Marx‘ Kapital die Skizze einer neuen Theorie der konstituierenden Macht und die Definition der formalen Bedingungen des antagonistischen Prozesses, der aus der Kooperation hervorgeht, finden können. Auf eine gewisse Weise hat er damit Recht.

Als Marx und Engels sagten, dass der Kommunismus „die wirkliche Bewegung [ist], welche den jetzigen Zustand aufhebt“, hatte ihr Ausgangspunkt viel damit zu tun. Diese wirkliche Bewegung geht vom konstanten Kampf der Arbeiter:innenklasse aus, sich das Joch der Arbeit abzuschütteln, welcher sich im stumpfen alltäglichen Widerstand spontan manifestiert: der Versuch, dem Boss und der Maschine einige Minuten zu stehlen, oder das Fernbleiben von der Arbeit. Dieselbe Tendenz drückte und drückt sich auf höherer Ebene in den historischen Kämpfen um die Verkürzung des Arbeitstages und der Arbeitswoche, für bezahlte Urlaube, für die Verringerung der Produktionsrhythmen, für die Organisierung am Arbeitsplatz gegen die Diktatur der Bosse, für die Arbeiter:innenkontrolle der Produktion aus. Es sind Ausdrücke einer tiefgründigen Tendenz, das Kommando des Kapitals zurückzuweisen und die Kooperation als Macht der Arbeiter:innenklasse zu bekräftigen.

Dies ist selbstverständlich nur der Anfang, denn jene Tendenzen untergraben nicht die Enteignung der Kooperation durch das Kapital, auch wenn sie das Potenzial dafür aufzeigen. Anders als Negri behauptet, ist die produktive Kraft der Kooperation weder frei noch unmittelbar konstituierend, insofern sie, wie Marx hervorhob, vom Kapital dominiert wird. Die Macht der Kooperation kann sich nur als Bruch entfalten, als revolutionäre Macht gegen das Kapital, das die Produktionsmittel hortet, ohne die die heutige Kooperation unmöglich wäre. Was viele Theoretiker:innen, darunter auch Negri12, als das Kommen einer postindustriellen Gesellschaft präsentiert haben, in der die Arbeit „immateriell“ geworden und das Eigentum an den Produktionsmitteln mehr oder weniger überflüssig sei, ist in Wahrheit Ausdruck einer völlig anderen Realität.

Der Kapitalismus kämpft seit Jahrzehnten mit der wachsenden Unmöglichkeit, rentable Akkumulationsräume in der Produktion zu finden, was sich in immer größere Finanzspekulation und „Akkumulation durch Enteignung“, also Ausplünderung, übersetzt. Die kapitalistische Akkumulation, die auf der Aneignung der Mehrarbeit als Mehrwert beruht, wird immer schwieriger und ist eine permanente Quelle von Krisen.13 Hierin drückt sich die wachsende Unfähigkeit des Systems aus, die enormen Produktivkräfte der Kooperation und des general intellect, welche sich in der Gesellschaft entwickelt haben, innerhalb der engen Grenzen der Produktion für den Profit zu halten. Wenn so etwas in der Geschichte passierte, brachte der Kapitalismus katastrophale Krisen oder Kriege hervor, die massenhaft Produktivkräfte zerstörten. Daher hat die heutige Lage des Weltkapitalismus keinen progressiven Ausweg, außer der Perspektive neuer revolutionärer Brüche, die die Arbeiter:innenklasse an die Macht bringen, um sich die Produktionsmittel anzueignen und die Kooperation der Gewalt der Kapitalist:innen zu entreißen.

In diesem Kampf ist die erste und wichtigste autonome Handlung der Arbeiter:innenklasse die Befreiung vom politischen und ideologischen Einfluss der Bourgeoisie und der Aufbau ihrer eigenen politischen, revolutionären Organisation, um die Macht zurückzuerobern, derer die enteignet wurde. Es wäre natürlich illusorisch zu glauben, dass sich unter den kapitalistischen Beziehungen, die wir beschrieben haben, die gesamte Klasse als Block von einem Einfluss lösen könnte. Daher gruppiert der Aufbau einer Partei, die für die sozialistische Revolution kämpft, zuallererst die bewusstesten und entschiedensten Sektoren der Klasse. Erst in revolutionären Situationen, wenn das Bewusstsein der Massen schwindelerregend schwankt, kann eine solche Partei einen Einfluss über die Mehrheit der Klasse und der unterdrückten Sektoren erlangen. Es sind gerade solche Momente, in denen die konstituierende Macht der Ausgebeuteten ausbricht.

Rätedemokratie, Planwirtschaft und Hegemonie

Im 20. Jahrhundert entstanden Räte – russisch Sowjets – als neuartige Form jener konstituierenden Macht. Sie waren ein eigenständiges Produkt der politischen Kreativität der Arbeiter:innenklasse. Sie drückten eine neue, potentiell antagonistische Praxis zur bürgerlichen Praxis der Politik aus. Ihre flexible und elastische Struktur mit abwählbaren Delegierten, die ausgehend von den gesellschaftlichen Verflechtungen der Produktion und Reproduktion gewählt wurden – heute würden wir Fabriken, Betriebe, Büros, Ländereien, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und andere dazu zählen –, erlaubte die verschiedenen Forderungen und Kampfformen für die Schaffung einer alternativen Macht zu artikulieren.

Organe diesen Typs entwickelten sich nicht nur in Russland (1905 und 1917), sondern auch mit den Räten in Deutschland (1918), den Fabrikräten in Italien (1919-1920), in der ungarischen Revolution (1956) mit den Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräten, in der portugiesischen Revolution (1974) mit den Fabrikkomitees, Mieter:innenkomitees und Soldatenkomitees, ebenso wie mit den Shoras der iranischen Revolution (1979), den Industriekordons in Chile (1972-1973) und vielen anderen. Die fabrikübergreifenden Koordinationen in Argentinien 1975 drückten in geringerem Maße dieselbe Tendenz aus. Natürlich waren diese Ausdrücke der konstituierenden Macht stets einem enormen Druck ausgesetzt – nicht nur der Repression, sondern auch dem Druck der Assimilation in die bürgerlichen Regime. Es erwies sich als unabdingbar, dass eine revolutionäre Partei sie über sich selbst hinaustreibt und sie in wirklich revolutionäre Institutionen verwandelt.

Im Unterschied zur kapitalistischen Demokratie, die eine Trennung zwischen einem formalen Konzept politischer Demokratie einerseits und einer Wirtschaft, die dem despotischen Kommando des Kapitals unterworfen ist, andererseits etabliert, verbindet die Rätedemokratie die politische Demokratie mit der ökonomisch-sozialen Emanzipation. In Il potere constituente argumentiert Negri richtigerweise: „Nach Marx und Lenin ist es unmöglich, von politischer Freiheit zu sprechen, ohne von ökonomischer Freiheit, von der freien Produktion, von der lebendigen Arbeit als Grundlage der Politik zu sprechen. Die Freiheit verwandelt sich in Befreiung, die Befreiung ist konstituierende Macht.“14 Es kann keine politische Demokratie mehr geben, die keine wirtschaftliche Demokratie ist, die nicht die Wiederaneignung der konstituierenden Macht durch die Massen in den Mechanismen der Produktion und der gesellschaftlichen Reproduktion ist. Die Frage ist, wie diese Wiederaneignung geschehen kann, die politische und ökonomische Demokratie in Einklang bringt.

Der Sozialismus entsteht nicht vorgefertigt aus den Trümmern des Kapitalismus. Jede siegreiche sozialistische Revolution in einem Land oder einer Gruppe von Ländern wird mit bestimmten zeitlichen Bedingungen – einer vererbten ökonomischen, politischen und sozialen Situation – und räumlichen Bedingungen – umgeben von einer kapitalistischen Welt – geboren. Daher ist eine Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus notwendig, um das wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Leben zu transformieren und um sich international auszudehnen. Während dieses Übergangs, insbesondere in rückständigen Ländern, insofern es keine revolutionären Siege in zentralen Ländern gibt, braucht ein Arbeiter:innenstaat eine wirtschaftliche Planung, die die Produktivkräfte über eine gewisse Schwelle hinaus entwickelt, um die grundlegenden gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen und die Arbeitslast bedeutend zu reduzieren.

Diese Problematik wirft eine bestimmte Beziehung zwischen den Sowjets als praktische Form der proletarischen Demokratie und der revolutionären Partei als strategische Führung in Richtung sozialistischer Ziele auf. Bezüglich Lenins Herangehensweise an dieses Problem während der russischen Revolution schlägt Negri die Idee eines „leninistischen Kompromisses“ zwischen Sowjet und Partei vor, die es sich aufzugreifen lohnt. „Der Kompromiss zwischen dem Sowjet und der Partei“, so Negri, „ist ein Kompromiss zwischen der lebendigen Arbeit und der Perspektive einer neuen ursprünglichen Akkumulation, die in die Bestimmung der Bedingungen für den Kommunismus münden müsste.“15 Seiner Meinung nach verwandelte sich dieser Kompromiss aufgrund der Institutionalisierung der Sowjets als Organisatoren der Produktion schnell in einen Kurzschluss. Die „Betriebsnormen“, welche mit dem Kommando „von oben“ über die Arbeitskooperation assoziiert waren, seien unter neuen Formen reproduziert worden, um die Bedürfnisse dieser „ursprünglichen Akkumulation“ zu befriedigen. Auch wenn Negri darauf nicht eingeht, war dies eine der zentralen Debatten in der UdSSR nach Lenins Tod und betraf noch viel breitere Themen, die als kritisches Element auch die Beziehung zwischen der Bäuer:innenschaft und der Arbeiter:innenklasse betrafen.

Auf das aufgeworfene Problem gibt es drei Antworten, die sich in der sowjetischen Debatte der 1920er Jahre ausdrückten. Die Grundlagen jeder einzelnen können wir jeweils in den Arbeiten Bucharins, Preobraschenskis und Trotzkis entdecken. Die russische Revolution war nach der Niederlage des revolutionären Zyklus in Westeuropa (1918-1923) isoliert. Sie musste nicht nur das Gewicht der wirtschaftlichen Rückständigkeit und feudaler Überreste überwinden, sondern auch die Folgen von vier Jahren Weltkrieg und drei Jahren Bürger:innenkrieg. In diesem Rahmen wurde ab 1921 die Neue Ökonomische Politik (NÖP) angenommen. Von Lenin als „erzwungener Rückzug“ konzipiert, stellte die NÖP teilweise den freien Handel und die Geldwirtschaft wieder her. Das Ziel war, die Produktion und den Austausch zwischen Land und Stadt anzukurbeln, um der schwierigen wirtschaftlichen Lage Herr zu werden. Aber ihre Auswirkungen waren widersprüchlich, da sie die Akkumulation der bessergestellten Bäuer:innen ermöglichte und einen Keil in das Bündnis zwischen Bäuer:innenschaft und Arbeiter:innenklasse trieb.16

Für Bucharin reichte die bloße Zerstörung des bürgerlichen Staats aus, um die Überlegenheit der „sozialistischen“ Industrie im Wettbewerb mit dem Privatsektor sicherzustellen. In diesem Rahmen würde die Einführung von Marktmechanismen im Innern der UdSSR die Kooperation verbessern und dem Übergang zum Sozialismus einen Impuls geben. Er behauptete: „Wir werden den Sozialismus nicht direkt durch den Produktionsprozess erreichen; wir werden ihn durch den Austausch, durch die Kooperation erreichen.“17 Er appellierte an die spontane Kooperation, unabhängig von ihrer Beziehung zum Kapital. Bucharin lehnte ab, dass der neue Staat sich die Priorität setzen sollte, die Produktivität der Industrie zu erhöhen. Sein Slogan war „Industrialisierung im Schneckentempo“. Zusammen damit warb er unter dem Slogan „Bauern, bereichert euch“ – ermöglicht durch die NÖP – für spontane Anreize für die Akkumulation.

Für Preobraschenski, Autor von Die neue Ökonomik (1925), lag die Priorität darin, eine „ursprüngliche sozialistische Akkumulation“ zu entwickeln, um den rückständigen wirtschaftlichen Grundlagen entgegenzuwirken, als Vorbedingung für den Übergang zum Sozialismus. Er meinte richtigerweise, wie sich später zeigte, dass die spontane Handlung der Ökonomie durch die Entwicklung von Marktbeziehungen unweigerlich zu einer wachsenden gesellschaftlichen Differenzierung auf dem Land führen und sich die Minderheit der durch die NÖP reich gewordenen Bäuer:innen gegen den Staat wenden würde. Um das zu verhindern, schlug er einen starken Prozess der staatlich vorangetriebenen Industrialisierung vor, der die Arbeitsproduktivität erhöht und dafür die Ressourcen der reichen Bäuer:innen nutzt, im Tausch für Maschinen, Elektrifizierung, Transportnetzwerken usw., die gebraucht wurden. Das übersetzte sich in größere Steuern für diejenigen Bäuer:innen, die Überschüsse produzieren konnten, und staatliche Unterstützung für arme Bäuer:innen.

Natürlich waren weder Bucharin noch Preobraschenski reine Theoretiker. Erster stand zwischen 1925 und 1928 im Bündnis mit Stalin an der Spitze der UdSSR. Seine Politik war die, die in dieser Zeit tatsächlich angewandt wurde. Sie ging mit einer jahrelangen Konsolidierung der Bürokratie – im Staat und in der Partei – einher, nachdem die Sowjetdemokratie liquidiert und mit ihr die internationalistische Perspektive zugunsten der Idee des Sozialismus in einem Land aufgegeben worden war. Preobraschenski seinerseits war ein herausragender Anführer der Linken Opposition, Internationalist und Verteidiger der Sowjetdemokratie. Als jedoch 1928 seine Vorhersage wahr wurde und die reichen Bäuer:innen kein Korn mehr an die Städte verkauften, sah er in der Wende von Stalins Politik, die von der Parole „Bauern, bereichert euch“ zu einer Zwangskollektivierung des Bodens mittels Repression umschwenkte, eine notwendige Politik, die man trotz der angewandten Methoden unterstützen musste. Mit diesem Argument der Notwendigkeit brach er mit Trotzki und kapitulierte vor seinem früheren Verfolger.

Wie erwähnt, gab es eine dritte Antwort, diejenige Trotzkis. Er befand sich in Totalopposition zu Bucharins Politik und teilte zum Großteil die Diagnose Preobraschenskis. Der Staat musste durch Planung in die wirtschaftliche Situation eingreifen und durch irgendeinen Ressourcentransfer aus den bessergestellten Sektoren der Bäuer:innenschaft die Industrie und das Proletariat stärken. „Die Arbeiterklasse“, so Trotzki, „kann ihre führende Lage in letzter Linie nicht durch den Staatsapparat, nicht durch die Armee, sondern durch die Industrie, die das Proletariat selbst reproduziert, behalten und befestigen.“18 Jedoch – und das war der zentrale Punkt, der Trotzki von den beiden anderen Alternativen unterschied – konzipierte er die Planung als auf engste Weise mit der Entwicklung der demokratischen Tendenzen und der Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse verbunden. Das war die einzige Grundlage, auf der eine Planung etabliert werden konnte, die die Hegemonie der Arbeiter:innenklasse aufrecht erhalten würde. Wie er in Verratene Revolution argumentierte: „Das bürokratische Selbstherrschertum muss der Sowjetdemokratie Platz machen. Wiederherstellung des Rechts auf Kritik und einer wirklichen Wahlfreiheit ist notwendige Vorbedingung für die weitere Entwicklung des Landes.“19

Trotzki verteidigte auf diese Weise – unter den besonders feindlichen Bedingungen der Isolation der UdSSR – jenen „leninistischen Kompromiss“ zwischen Sowjet und Partei. Auch wenn letztere einen konstanten Kampf für die strategischen Ziele der sozialistischen Revolution führen musste, was die Stärkung des Proletariats und das Vorantreiben der Akkumulation erforderte, um den Übergang materiell möglich zu machen, konnte sie dies nicht mit beliebigen Methoden tun. Die nötigen Maßnahmen dafür mussten mittels politischer Konfrontation, Überzeugung und Verhandlung gegenüber den Massen in den Sowjets als demokratischen Organen des Staates durchgeführt werden, immer verbunden mit der Perspektive der internationalen Entwicklung der Revolution. Daher bevorzugte er schon früh, nach den ersten Erfolgen der NÖP, die Erhöhung der Investitionen in der Industrie durch progressive Steuern auf reiche Bäuer:innen, um dem scharfen Konflikt, der sich am Horizont andeutete, vorzugreifen. Als Stalin Jahre später die reichen Bäuer:innen angriff, um die Entwicklung der Industrie voranzutreiben, prangerte Trotzki diese Politik als abenteuerlich und bürokratisch an.

Toni Negri kritisierte, dass unter dem „leninistischen Kompromiss“ „der Sowjet dazu tendierte, sich auf ein demokratisches Instrument der ‚Organisation des Konsenses‘ zu reduzieren“, anstatt sich als Moment des Prozesses des Absterbens des Staates zu konfigurieren. Jedoch gehen diese beiden Aspekte in Lenins und Trotzkis Denken Hand in Hand. Ohne die Organisation des Konsenses, um die nötigen Maßnahmen durchzuführen, um zum Sozialismus voranzuschreiten, gibt es keinen Weg zum Absterben des Staates.

Eine Zukunft jenseits des Kapitalismus

Im Gegensatz zu den mystischen Erzählungen über das isolierte unternehmerische Individuum als treibende gesellschaftliche Kraft zeigt sich in unseren Ausführungen, dass der Individualismus, der sich in der individuellen Aneignung des Reichtums manifestiert, in demselben Maße anachronistisch geworden ist, wie die Produktion des Reichtums immer mehr vergesellschaftet worden ist. Das stellte schon Antonio Gramsci fest.20 Seine Gedanken aufnehmend können wir sagen, dass ein neuer Individualismus eine andere Spannung des Willens hervorbringt, vom selben Wesen wie diejenige, die die Wiedergeburt des Individuums innerhalb der „Kollektivität“ bestimmt. Das heißt, er entwickelt sich ausgehend von der Selbstverwaltung des kollektiven Lebens, wo das Individuum nicht auf die passive Akzeptanz dessen beschränkt ist, was ihm von außen durch unbewusst angenommene gesellschaftliche Beziehungen aufgedrückt wird, sondern zu einem bewussten Protagonisten der Regierung und Planung des Kollektiven wird.

In Begriffen der Entwicklung der Kooperation und des general intellect sind unsere heutigen Bedingungen Lichtjahre von denen entfernt, die vor einem Jahrhundert existierten. Die von Marx entworfene Perspektive, nach der „keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time [freie/verfügbare Zeit] das Maß des Reichtums“21 ist, ist aktueller denn je. Doch dafür gilt es, damals wie heute, die Arbeit von den Fesseln des Kapitals zu befreien.

Die Arbeitszeit als einziges Maß des Reichtums ist nichts weiter als ein elendiger Zwang, der – in immer problematischerer Weise, durch ökonomische und politische Krisen, Umweltzerstörung und Kriege wachsenden Ausmaßes – auf der anhaltenden kapitalistischen Herrschaft beruht. An der Aneignung der freien Zeit durch das Kapital in Form von Mehrwert gibt es nichts „Unausweichliches“. Ebensowenig „natürlich“ ist die Schaffung einer Überschussbevölkerung (Arbeitslose, Unterbeschäftigte usw.), deren verfügbare Arbeitszeit als Hebel für die kapitalfreundliche Sicherung von Angebot und Nachfrage von Arbeitskraft genutzt wird. Die Alternative besteht darin, dass die Arbeiter:innenklasse sich ihre überschüssige Arbeit selbst aneignet, um sie in Freizeit zu verwandeln – ein Wort, das die „Ethik“ des Kapitalismus aus offensichtlichen Gründen immer abzuwerten versucht hat. Doch gerade die Freizeit beinhaltet für die Arbeiter:innen unter anderem die Entwicklung der Kultur, der Wissenschaft und der Kunst und selbst die demokratische Ausübung der Politik – und macht sie für sie tatsächlich erst möglich.

Aus diesem Grund ist die internationalistische Perspektive der sozialistischen Revolution so aktuell: der Aufbau einer eigenen Macht der Arbeiter:innen, die die Produktions- und Tauschmittel den Händen der Kapitalist:innen entreißt und sie in den Dienst der Bedürfnisse der großen Mehrheiten und der Verringerung der Arbeit auf ein Minimum stellt. Gegen den aus der Zeit gefallenen und reaktionären Individualismus der kapitalistischen Eigentümer:innen gilt es, die Geschwisterlichkeit, Genossenschaftlichkeit und menschliche Solidarität zu entfalten, deren letzte Grundlage in der Macht der Kooperation liegt. Das Ziel ist, für immer die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen, die persönlichen Beziehungen, die Wissenschaft, die Kunst von allen Hürden, Beschränkungen oder erniedrigenden Abhängigkeiten zu befreien, und eine harmonischere Beziehung zur Natur zu erlangen. Darin besteht das sozialistische Projekt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Spanisch bei Ideas de Izquierda am 14. Juli 2024.

Fußnoten

  1. 1. Diese Rechnung wird ausgeführt in: Pablo Anino: El tiempo de trabajo divino tesoro, Ideas de Izqiuerda, 24. April 2022, https://www.laizquierdadiario.com/El-tiempo-de-trabajo-divino-tesoro [5. September 2024]. Seit 2016 haben die Kapitalist:innen dieses Verhältnis in ihrem Sinne immer weiter verbessert, mit einem ersten Sprung seit der Übereinkunft mit dem IWF 2018 unter Macri und einem zweiten Sprung 2021 unter der Regierung von Alberto und Cristina Fernández. Eines der Hauptziele von Mileis Plan ist es, den Anteil der unbezahlten Arbeit, die sich das Kapital aneignet, qualitativ auszuweiten.
  2. 2. Karl Marx: Das Kapital. Band I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Band 23, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 344.
  3. 3. Ebd., S. 407.
  4. 4. Ebd., S. 352.
  5. 5. Vgl. Kim Moody: On new terrain, Haymarket Books, Chicago 2017.
  6. 6. Vgl. Corsino Vela: Capitalismo terminal. Anotaciones a la sociedad implosiva, Traficantes de Sueños, Madrid 2018.
  7. 7. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke Band 42, Dietz Verlag, Berlin 1983, S. 602.
  8. 8. Ebd., S. 594.
  9. 9. Für eine Ausarbeitung über diese Frage vgl.: Facundo Nahuel Martín: Ilustración sensible, IPS, Buenos Aires 2023. Vgl. ebenfalls: Esteban Mercatante: La ecología de la emancipación del trabajo, Ideas de Izquierda, 19. November 2023, https://www.laizquierdadiario.com/La-ecologia-de-la-emancipacion-del-trabajo [5. September 2024].
  10. 10. Für eine ausführlichere Debatte über dieses Buch vgl. Christian Castillo: Una crítica marxista a Toni Negri y los autonomistas, Estrategia Internacional Nr. 14, 9. November 1999, https://www.ft-ci.org/Una-critica-marxista-a-Toni-Negri-y-los-autonomistas [5. September 2024].
  11. 11. Toni Negri: Il potere costituente, SugarCo, Carnago, Varese 1992. Zitiert nach der spanischen Übersetzung in: Ders.: El poder constituyente, Traficantes de Sueños, Madrid 2015, S. 338. Eigene Übersetzung.
  12. 12. Empire, gemeinsam mit Michael Hardt geschrieben, war eines seiner erfolgreichsten Bücher, in dem er diese These ausgeführt hat. Für eine Gesamtkritik an Negris Argumenten vgl. Christian Castillo: Estado, poder y comunismo, Imago Mundi, Buenos Aires 2003.
  13. 13. Für eine Polemik mit Toni Negri in Bezug auf diesen Punkt, vgl. Paula Bach: Valor, forma y contenido de la riqueza en Marx y en Antonio Negri. Una diferencia sutil pero esencial, Estrategia Internacional Nr. 17, 1. März 2001, , [5. September 2024].
  14. 14. Toni Negri: Il potere costituente, a.a.O., S. 383. Eigene Übersetzung.
  15. 15. Ebd., S. 372. Eigene Übersetzung.
  16. 16. Das bedeutete die Bereicherung einer Minderheit an der immensen Mehrheit der Bevölkerung. Zugleich verteuerte die niedrige industrielle Produktivität die Produkte, was die Anreize des Landes verringerte, mit der Stadt zu handeln. Dieses Phänomen wurde als „Schere“ bezeichnet und beschrieb eine wachsende und potenziell explosive Ungleichheit zwischen dem Land und der Industrie.
  17. 17. Zitiert nach: Catherine Samary: Planificación, mercado y democracia, in: Cuadernos de estudio e investigación Nr. 7/8 (1989). Eigene Übersetzung.
  18. 18. Leo Trotzki: Thesen über die Organisierung der Industrie, in: Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 74 (1923), S. 636-641. Abrufbar unter: https://www.sozialistischeklassiker2punkt0.de/sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1923/leo-trotzki-thesen-ueber-die-organisierung-der-industrie.html [5. September 2024].
  19. 19. Leo Trotzki: Verratene Revolution, Lee, Antwerpen-Zürich-Prag 1936. Abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/verrev/kap11.htm [5. September 2024].
  20. 20. Vgl. Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Band 7, H. 15 § 29, „Einführung ins Studium der Philosophie“, hg. von Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug und Peter Jehle, Argument-Verlag, Hamburg und Berlin 1996, S. 1742 f.
  21. 21. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 604.

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