Die Kinderstadt auf dem Mars
Wir veröffentlichen das Kapitel „Die Kinderstadt“ aus Alexander A. Bogdanows 1907 veröffentlichten Roman „Der Rote Stern“. Darin schrieb der russische Revolutionär seine Vorstellung einer sozialistischen Gesellschaft auf dem Mars nieder.
Die „Kinderstadt“ war der schönste Stadtteil mit fünfzehn- bis zwanzigtausend Einwohnern. Es waren tatsächlich fast nur Kinder und ihre Erzieher. Solche Einrichtungen gibt es in allen großen Städten, und meist bilden sie auch selbstständige Bezirke. Lediglich in kleineren Siedlungen […] fehlen sie.
Große einstöckige Häuser liegen auf einem Gelände mit Bächen, Teichen, Spiel- und Sportplätzen, Blumen- und Kräuterbeeten, Freigehegen und Tierhäusern. Scharen von großäugigen Kindern unbekannten Geschlechts – Jungen und Mädchen tragen die gleiche Kleidung. Auch bei den Erwachsenen lassen sich Männer und Frauen schwer an der Kleidung unterscheiden – im Wesentlichen ist sie gleich, ein gewisser Unterschied besteht lediglich im Stil: Bei den Männern gibt der Anzug die Körperformen deutlicher wieder, bei den Frauen maskiert er sie. Jedenfalls war die ältere Person, die uns in der Tür eines großen Hauses empfing, zweifellos eine Frau, denn Netti umarmte sie und nannte sie „Mama“. In der weiteren Unterhaltung sprach er sie einfach mit dem Namen an, wie das auf dem Mars üblich ist. Sie hieß Nella.
Nella kannte unsere Absicht und führte uns gleich in ihr Kinderhaus. Sie selbst leitete die Abteilung für die Jüngsten; in dem Haus wohnten aber auch ältere Kinder, die beinahe erwachsen waren. Die kleinen Kobolde schlossen sich uns an und beobachteten mit ihren riesigen Augen den Menschen vom anderen Planeten – sie wussten sehr wohl, wer ich war. Als wir die letzten Räume besichtigten, umringte uns eine ganze Schar, obwohl sich die meisten Kinder seit dem Morgen im Gelände aufhielten.
Insgesamt lebten in dem Haus ungefähr 300 Kinder unterschiedlichen Alters. Ich fragte Nella, warum man alle Altersgruppen vereinige und nicht jede in einem eigenen Haus unterbringe, was die Arbeit der Erzieher erleichtern würde.
„Weil das keine wirkliche Erziehung wäre“, entgegnete Nella. „Um für die Gesellschaft erzogen zu werden, muss ein Kind in einer echten Gemeinschaft aufwachsen. Die meiste Lebenserfahrung und die größten Kenntnisse erwerben die Kinder durch den Umgang mit ihresgleichen. Wenn wir die älteren von den jüngeren Kindern isolierten, würden wir ein einseitiges und enges Milieu schaffen, und die Entwicklung des Kindes verliefe langsam, träge und eintönig. Kinder verschiedenen Alters können untereinander am besten aktiv werden. Die Älteren helfen uns bei der Betreuung der Kleinen. Nein, wir vereinen nicht nur alle Altersstufen, wir wählen auch für jedes Haus Erzieher unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher praktischer Kenntnisse aus.“
„Trotzdem sind die Kinder in den Abteilungen nach Altersgruppen untergebracht – das widerspricht doch dem, was Sie eben gesagt haben.“
„Die Kinder versammeln sich in den Abteilungen nur zum Schlafen und Essen. Hier besteht natürlich keine Notwendigkeit, die Altersgruppen zu vermischen. Aber für Spiele und Beschäftigungen gruppieren sie sich so, wie es ihnen gefällt. Selbst bei literarischen Lesungen und wissenschaftlichen Vorträgen, die für eine Altersgruppe veranstaltet werden, drängen sich im Auditorium stets viele Kinder aus anderen Gruppen. Die Kinder suchen sich selbst ihre Gesellschaft, sie verkehren gern mit älteren oder jüngeren Gefährten, auch mit Erwachsenen.“
Ein Knirps drängte sich durch die Menge und rief:
„Nella, Esta hat mir mein Schiff weggenommen, das ich selber gebaut habe! Nimm ihr das Schiff weg und gib es mir wieder!“
„Wo ist Esta?“ fragte Nella.
„Sie ist zum Teich gelaufen und lässt das Schiff schwimmen“, antwortete das Kind.
„Jetzt habe ich keine Zeit. Jemand von den älteren Kindern soll mit dir gehen und Esta erklären, dass sie dich nicht ärgern darf. Am besten, du gehst allein und ihr spielt zusammen. Kein Wunder, dass ihr das Schiff gefällt, wenn du es schön gebaut hast.“
Das Kind ging fort, und Nella wandte sich an die anderen: „Und ihr, Kinder, tätet gut daran, wenn ihr uns allein ließet. Dem Mann von der Erde wird es kaum angenehm sein, dass ihn Hunderte von Kinderaugen anstarren. Stell dir vor, Elwi, dich würde eine große Menge solcher fremden Menschen anschauen. Was würdest du da tun?“
„Ich würde wegrennen“, erklärte der Angesprochene tapfer. Alle Kinder liefen flugs auseinander. Wir gingen in den Park.
„Eben haben Sie die Macht der Vergangenheit gesehen“, sagte die Erzieherin lächelnd. „Anscheinend herrscht bei uns reiner Kommunismus, den Kindern wird fast nichts abgeschlagen – woher kommt dann das Bedürfnis nach Privateigentum? Ein Kind erklärt plötzlich: ›mein‹ Schiff, das ›ich selber‹ gebaut habe. So etwas geschieht sehr oft, manchmal kommt es deshalb zu einer Rauferei. Dagegen kann man nichts machen, das ist ein allgemeines Gesetz des Lebens: Die Ontogenese wiederholt die Phylogenese, und die Entwicklung des Individuums wiederholt auf die gleiche Weise die Entwicklung der Gesellschaft. Wenn ein Kind mittleren oder höheren Alters seinen Platz innerhalb der Gemeinschaft sucht, hat es in den meisten Fällen einen verschwommen-individualistischen Charakter. In der Pubertät verstärkt sich das noch. Erst bei Jugendlichen besiegt die soziale Umwelt der Gegenwart endgültig die Überreste der Vergangenheit.“
„Machen Sie die Kinder mit dieser Vergangenheit bekannt?“ fragte ich.
„Natürlich, sie lieben sogar Gespräche und Berichte über alte Zeiten. Anfangs sind das für sie nur Märchen, schöne, ein bisschen grausame Märchen über eine andere, eine ferne und seltsame Welt, die aber durch ihre Bilder von Kampf und Gewalt ein unklares Echo in der atavistischen Tiefe kindlicher Instinkte hervorruft. Erst später, wenn das Kind die Überreste der Vergangenheit in seiner Seele überwunden hat, lernt es, deutlich die Verbindung der Zeiten wahrzunehmen, und die Märchenbilder werden wirkliche Geschichte, verwandeln sich in lebendige Glieder einer lebendigen Kontinuität.“
Wir schlenderten durch die Alleen des weitläufigen Parks. Manchmal trafen wir auf Gruppen von Kindern, die spielten, Gräben aushoben, mit handwerklichen Instrumenten arbeiteten, Lauben bauten oder sich einfach unterhielten. Alle drehten sich neugierig nach mir um, aber niemand folgte uns. Offenbar hatte man sie unterwiesen. In den meisten Gruppen waren Kinder unterschiedlichen Alters, in vielen fanden sich auch ein oder zwei Erwachsene.
„In Ihrer Kinderstadt gibt es ziemlich viele Erzieher“, bemerkte ich.
„Ja, besonders, wenn man alle älteren Kinder dazu rechnet, was man gerechtigkeitshalber tun sollte. Erziehungsspezialisten gibt es aber nur drei in jedem Haus, die anderen Erwachsenen, die Sie hier sehen, sind Mütter und Väter, die zeitweilig bei ihren Kindern wohnen oder junge Leute, die Erziehung studieren wollen.“
„Dürfen denn alle Eltern, die das wünschen, hier bei ihren Kindern wohnen?“
„Ja, natürlich, manche Mütter leben mehrere Jahre hier. Aber die meisten kommen von Zeit zu Zeit für ein bis zwei Wochen, höchstens für einen Monat. Väter wohnen seltener hier. In unserem Haus gibt es 60 Zimmer für Eltern und für die Kinder, die allein sein möchten und das hat immer ausgereicht.“
„Das heißt, auch Kinder wollen manchmal nicht in den Gruppenräumen leben?“
„Ja, ältere Kinder wohnen oft lieber allein. Darin äußert sich bei manchen der unklare Individualismus, von dem ich vorhin gesprochen habe. Andere Kinder treiben gern wissenschaftliche Studien und möchten einfach alles ausschließen, was sie ablenkt. Immerhin lieben auch unter den Erwachsenen vornehmlich Wissenschaftler und Künstler die Abgeschiedenheit.“
Plötzlich erblickten wir auf einer Wiese ein Kind von schätzungsweise sechs Jahren, das mit einem Stecken in der Hand einem Tier nachjagte. Wir beschleunigten unsere Schritte, das Kind bemerkte uns nicht.
Er hatte inzwischen seine Beute eingeholt – einen großen Frosch – und schlug mit dem Stecken kräftig zu. Das Tier kroch mit einem gebrochenen Bein langsam durch das Gras.
„Warum hast du das getan, Aldo?“ fragte Nella ruhig.
„Ich konnte ihn nicht fangen, er ist immer weggesprungen“, antwortete der Junge.
„Weißt du, was du getan hast? Du hast dem Frosch weh getan und ihm ein Bein gebrochen. Gib den Stecken her, ich erkläre es dir.“
Der Junge reichte Nella den Stecken und sie schlug ihn mit einer schnellen Bewegung auf die Hand. Der Junge schrie auf.
„Tut das weh, Aldo?“ fragte die Erzieherin, ebenso ruhig wie bisher.
„Sehr weh, du böse Nella!“
„Aber den Frosch hast du noch stärker geschlagen. Ich habe nur auf deine Hand gehauen, doch du hast ihm ein Bein gebrochen. Das tut ihm viel mehr weh als dir. Der Frosch kann jetzt nicht mehr laufen und springen, er wird keine Nahrung finden und vor Hunger sterben oder er wird von anderen Tieren gefressen werden, vor denen er nicht fliehen kann. Was denkst du darüber, Aldo?“
Der Junge stand schweigend da, Tränen in den Augen, und hielt seine schmerzende Hand. Nach einer Weile sagte er: „Wir müssen sein Bein heilen.“
„Richtig“, bestätigte Netti. „Komm her, ich zeige dir, wie man das macht.“
Sie ergriffen das verletzte Tier, das nur wenige Schritte weiter gekrochen war. Netti nahm sein Taschentuch und riss es in Streifen, Aldo musste Holzsplitter suchen. Dann begannen beide mit der Ernsthaftigkeit wahrer Kinder, die mit einer sehr wichtigen Sache beschäftigt sind, einen festen Verband um das gebrochene Bein zu wickeln.
Bald drängte Netti zur Umkehr.
„Übrigens können Sie heute Abend bei uns Ihren Freund Enno wiedersehen“, sagte Nella. „Er wird den älteren Kindern einen Vortrag über die Venus halten.“
„Lebt denn Enno in dieser Stadt?“ fragte ich.
„Nein, sein Observatorium liegt drei Stunden von hier entfernt. Aber er liebt Kinder und vergisst seine alte Erzieherin nicht. Deshalb kommt er oft her und jedes Mal erzählt er den Kindern etwas Interessantes.“
Abends erschienen wir natürlich zur angegebenen Stunde im Kinderhaus. Außer den Jüngsten hatten sich alle Kinder in einem großen Hörsaal versammelt, auch viele Erwachsene waren gekommen. Enno begrüßte mich erfreut.
„Ich habe dieses Thema sozusagen für Sie ausgewählt“, scherzte er. „Sie grämen sich über die Rückständigkeit Ihres Planeten und die üblen Sitten Ihrer Menschheit. Ich werde über einen Planeten berichten, auf dem Dinosaurier und Flugechsen vorläufig die höchsten Vertreter des Lebens sind und deren Bräuche sind schlimmer als die Gepflogenheiten Ihrer Bourgeoisie. Die Steinkohle brennt dort nicht in den Öfen des Kapitalismus, sondern wächst noch in Form gewaltiger Wälder. Wollen wir einmal zusammen zur Jagd auf Ichthyosaurier hinfliegen? Das sind die dortigen Rothschilds und Rockefellers, allerdings viel gemäßigter als Ihre irdischen, dafür weniger kultiviert.
Dort ist das Reich der ursprünglichen Akkumulation, die im „Kapital“ Ihres Karl Marx vergessen wurde. Nella macht schon ein böses Gesicht, weil ich hier schwatze. Ich fange gleich an.“
Er sprach über den fernen Planeten, beschrieb die tiefen stürmischen Ozeane und gewaltigen Gebirge, die sengende Sonne und die dichten weißen Wolken, die schrecklichen Stürme und Gewitter, die unförmigen Tiere und majestätischen Pflanzen. Alles wurde mit Filmbildern an einer Saalwand illustriert. Nur Ennos Stimme war zu vernehmen, im Saal herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Als Enno von den Abenteuern der ersten Venusfahrer berichtete, schilderte er, dass ein Mann eine riesige Echse mit einer Handgranate getötet hatte. Aldo, der die ganze Zeit neben Nella saß, begann plötzlich leise zu weinen.
Nella beugte sich zu ihm und fragte: „Was hast du?“
„Das Tier tut mir leid. Er hat ihm sehr weh getan, und es ist gestorben.“
Nella umarmte den Jungen und erklärte ihm etwas mit leiser Stimme, doch er konnte sich lange nicht beruhigen.
Enno erzählte indessen von den unerschöpflichen natürlichen Reichtümern des herrlichen Planeten, von seinen gigantischen Wasserfällen, von Edelmetallen, die direkt an der Oberfläche der Berge lagern, von reichhaltigen Radiumvorkommen in einer Tiefe von wenigen Hundert Metern, von Energievorräten für viele Hunderttausend Jahre. Ich beherrschte die Sprache noch nicht so gut, um die Schönheit des Vortrags zu empfinden, aber schon die Filmbilder fesselten meine Aufmerksamkeit. Als Enno geendet hatte und im Saal das Licht anging, wurde ich sogar ein wenig traurig wie ein Kind, wenn ein schönes Märchen zu Ende ist.
Nach dem Vortrag wurden von den Zuhörern Fragen gestellt und Einwände vorgebracht. Die Fragen waren so verschiedenartig wie die Zuhörer, sie betrafen teils Einzelheiten der Filmbilder, teils die Art und Weise, wie man diese Natur bezwingen könnte. Es wurde auch gefragt: Wann würden auf der Venus Menschen entstehen und wie würden sie aussehen?
Die größtenteils naiven, manchmal jedoch recht scharfsinnigen Einwände richteten sich hauptsächlich gegen Ennos Schlussfolgerung, gegenwärtig sei die Venus für den Menschen ungeeignet und es würde in nächster Zeit kaum gelingen, ihre Reichtümer in nennenswertem Maße zu nutzen. Die jungen Optimisten wandten sich energisch gegen diese Ansicht, die unter den Forschern vorherrschte. Enno wies darauf hin, dass die sengende Sonne und die feuchte, bakterienhaltige Luft äußerst ungesund seien, was alle Forscher auf der Venus gespürt hätten, dass die Stürme und Gewitter die Arbeit erschwerten und das Leben der Menschen bedrohten. Die Kinder fanden, man dürfe vor solchen Hindernissen nicht zurückschrecken, wenn man einen so wunderbaren Planeten beherrschen wolle. Um Bakterien und Krankheiten zu bekämpfen, müsste man möglichst bald tausend Ärzte hinschicken und gegen die Stürme und Gewitter müssten hunderttausende Bauarbeiter hohe Wände aufrichten und Blitzableiter anbringen. „Selbst wenn von zehn Mann neun umkommen, lohnt es sich“, sagte ein eifriger Junge von zwölf Jahren. „Sie wissen wenigstens, wofür sie sterben!“ An seinen glänzenden Augen war zu erkennen, dass er selbst gern unter den Neun wäre.
Enno zerstörte behutsam und gelassen die Kartenhäuschen der kindlichen Enthusiasten, aber es war zu merken, dass er ihnen im tiefsten Innern beipflichtete und dass sich in seinem Hirn ebensolche Pläne verbargen, die zwar mehr durchdacht, jedoch nicht weniger opferreich waren. Er selbst war noch nicht auf der Venus gewesen, und ich spürte, dass ihn die Schönheit und die Gefahren des Planeten lockten.
Nach dem Vortrag gingen Enno, Netti und ich zusammen weg. Enno wollte noch einen Tag in der Stadt bleiben und schlug mir vor, am nächsten Morgen mit ihm zusammen das Kunstmuseum zu besuchen. Netti musste in eine andere Stadt zu einem Ärztekongress fliegen.
Quelle: Bodanow, Alexander (2013): Der Rote Stern. Bremen: Leseklassiker, S. 71-80.