Die katalanische Frage – Teil I: 1714-1936

02.11.2017, Lesezeit 10 Min.
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Katalonien, ein reiches Land wie Bayern, das nichts abgeben wolle? Es könnte kaum falscher sein. Im ersten Teil unserer Reihe beschäftigen wir uns mit der Zeit von der Unterwerfung Kataloniens 1714 bis hin zum Ausbruch der Spanischen Revolution 1936.

Die Geschichte der nationalen Unterdrückung in Katalonien steht in enger Verbindung mit dem Prozess des langsamen Niedergangs des spanischen Kolonialismus. Zunächst führte dieser Niedergang zu einer Zentralisierung Spaniens im Gefolge des sogenannten „Spanischen Erbfolgekriegs“, und später zu einer immer größeren Krisenhaftigkeit des neu entstandenen Zentralstaats. Die damalige Unterwerfung Kataloniens unter eine spanische Zentralregierung bildete die Grundlage für die spätere nationale Unterdrückung seit dem Ausgang des spanischen Feudalismus.

Der „Spanische Erbfolgekrieg“ war ein Kampf zwischen verschiedenen europäischen Adelshäusern um den Thron in Madrid, der 1700 nach dem Tode des kinderlosen Karl II. entbrannte. Dabei positionierte sich der katalanische Adel an der Seite der britischen Monarchie gegen Frankreich. 1714 setzte sich Frankreich durch und installierte Philipp V. als König von Spanien. Die Katalan*innen mussten sehr scharfe Konsequenzen erdulden: Der neue König hob die traditionellen regionalen und politischen Institutionen auf, verbot die katalanische Sprache und annektierte die Region. Seitdem gilt der 11. September 1714 – der Tag des Falls der Stadt Barcelona – in Katalonien als Trauertag.

Der Hintergrund des langjährigen Krieges war jedoch nicht nur eine Frage der Erbfolge, auch wenn sein Name in den Geschichtsbüchern das nahelegen würde. Er steht viel mehr im direkten Zusammenhang mit dem allgemeinen Niedergang des spanischen Kolonialismus seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert. Währenddessen wurde Großbritannien mehr und mehr zur Weltmacht, vorangetrieben durch immer größere Kontrolle über die Meere und die industrielle Revolution. In diesem Prozess der Veränderung der Kräfteverhältnisse verschärften sich in Spanien die ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse. Die Folge waren die wirtschaftliche Ausplünderung von Katalonien, die Schwächung der spanischen Monarchie und repressive Maßnahmen gegen die zunehmende Unzufriedenheit.

Im 19. Jahrhundert sah sich das spanische Kapital gezwungen, in Folge verlorener Unabhängigkeitskriege auf dem amerikanischen Kontinent und des voranschreitenden britischen, französischen und holländischen Einflusses in die „Heimat“ zurückzukehren. Das trieb im Innern Spaniens eine verspätete Industrialisierung voran und das moderne Proletariat entstand. Die geschwächte Monarchie reagierte auf große soziale Unruhen und Proteste, besonders seitens der katalanischen und baskischen Bevölkerungen, außerordentlich repressiv. Zugleich hinterfragten die immer stärkeren Bourgeoisien in Katalonien und im Baskenland die Unterordnung unter die geschwächte spanische Monarchie.

Gegen den zurückgebliebenen spanischen Kapitalismus und das damit verbundene zentralisierte System, das schon längst verfault, korrupt und degeneriert war, erhob die katalanische Bourgeoisie die Fahne des Katalanismus: Sie forderte regionale Autonomie und begann, sich in katalanischer Sprache zu institutionalisieren.

Leo Trotzki analysierte diese Entwicklung folgendermaßen:

Die Verspätung der ökonomischen Entwicklung Spaniens hat unvermeidlich die dem Kapitalismus innewohnende zentralistische Tendenz geschwächt. Der Niedergang des Industrie- und Handelswesens der Städte und ihrer gegenseitigen ökonomischen Verbindungen führte unumgänglich zur Abschwächung der wechselseitigen Abhängigkeit gewisser Provinzen. Dies ist der Hauptgrund, aus welchem es dem bürgerlichen Spanien bis heute nicht möglich war, der Zentrifugal-Tendenzen seiner historischen Provinzen Herr zu werden. Die ärmlichen Hilfsquellen der nationalen Wirtschaft und das Gefühl der Beschwerde in allen Teilen des Landes bot den separatistischen Tendenzen nahrhaften Boden.

So entstand also der katalanische Nationalismus: Seine Grundlage ist die ökonomische und politische Krise des Zentralstaates im Übergang vom Feudalismus zur imperialistischen Epoche.

Klassenkampf und nationale Frage zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen vermehrt Proteste und Aufstände gegen die Monarchie, angeführt von Anarchist*innen katalanischen Ursprungs. Die Innenpolitik begann sich zu verändern: König, Monarchie, Landbesitzer*innen, Kirche und Aristokratie auf der einen Seite — Anarchist*innen, moderne Bourgeoisie und die Linke auf der anderen Seite. Allerdings spielte die katalanische Bourgeoisie – wie jede andere Bourgeoisie im 20. Jahrhundert – keine fortschrittliche Rolle mehr, sondern schwankte immer wieder zwischen „revolutionärer“ Rhetorik und Pakten mit dem feudalistischen Regime. So versuchte die katalanische Bourgeoisie die Streiks der katalanischen Arbeiter*innen mit der Hilfe der spanischen Monarchie zu unterdrücken: Eindrückliche Beispiele sind die Generalstreiks von Barcelona vom 17. bis zum 23. Februar 1902 und im Jahre 1917.

Der antimilitaristische und antikolonialistische Aufstand der Arbeiter*innen in Barcelona gegen den Krieg gegen Marokko zwischen dem 25. Juli und dem 2. August 1909 war ein Höhepunkt der Unzufriedenheit der katalanischen Massen. Die Arbeiter*innen übernahmen sogar für kurze Zeit die Kontrolle über Barcelona, als sie mit Generalstreiks, Barrikaden und Besetzungen in die Schlacht gegen die Monarchie und Kirche gingen. Der Aufstand wurde angeführt von Anarchist*innen und Radikalrepublikaner*innen. Aufgrund der blutigen Niederschlagung seitens der spanischen Armee wird diese Woche als „Tragische Woche“ bezeichnet.

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Außerhalb der Industrieregionen Katalonien und Baskenland blieb Spanien bis weit ins 20. Jahrhundert größtenteils rückständig: Die geschwächte Monarchie und ihre katholische Kirche herrschten über eine riesige Bauernschaft, die in ökonomischer Hinsicht ihre existenzielle Bedrohung immer stärker spürte. Ein zentraler Stützpfeiler der Monarchie war das Militär.

Vor allem in den 1920ern begann das Militär mit der Errichtung der Militärdiktatur von General Miguel Primo de Rivera im Jahr 1923 eine entscheidende Rolle zu spielen. Die Monarchie suchte diese Intervention enthusiastisch, da weder die rückständige spanische Bourgeoisie in der Lage war, eigenständig zu handeln, noch die geschwächte Monarchie sich den in Aufständen geformten Unruhen der Bäuer*innen und Arbeiter*innen widersetzen konnte. Eine bonapartistische Intervention, die dennoch nicht erfolgreich war, die Bauernschaft, ländliches und städtisches Proletariat unter Kontrolle zu bringen. Hingegen unterstützte die katalanische Bourgeoisie den Militärputsch aus Angst vor der Radikalisierung der arbeitenden Massen in Katalonien. Dennoch schränkte das Militärregime die institutionellen Rechte Kataloniens ein und unterdrückte die katalanische Sprache.

Die Zweite Republik (1931-1933): Scheitern der bürgerlich-republikanischen Kräfte

Der Militärputsch von General Miguel Primo de Rivera war jedoch nicht das Ende der sozialen und politischen Polarisierung, sondern verschärfte die soziale und ökonomische Krise. Es war gleichzeitig die Phase der Großen Depression, der Weltwirtschaftskrise. Die Macht von Primo de Rivera stand unter großem Druck der Kämpfe der städtischen und ländlichen Arbeiter*innen und der Bauernschaft. Trotzki beschrieb diese Phase treffend:

Der Erfolg der Industrialisierung hat die inneren Widersprüche keineswegs vermindert. Im Gegenteil, die Tatsache, dass Spanien, als neutrales Land, unter dem Goldregen des Krieges seiner Industrie einen neuen Aufschwung geben konnte, ist nach dem Kriege, als die große Nachfrage des Auslandes verschwand, die Quelle neuer Schwierigkeiten geworden. Der Auslandsmarkt ist nicht nur verschwunden – die Beteiligung Spaniens am Welthandel ist jetzt noch geringer als vor dem Krieg (1,1% gegen 1,2%) – sondern die Diktatur war gezwungen, mit Hilfe der erheblichsten Zollsperre Europas, den Innenmarkt gegen den Zustrom ausländischer Waren zu verteidigen. Die zu hohen Zölle haben eine Preiserhöhung hervorgerufen, welche die schon ziemlich geringe Kaufkraft des Volkes vermindert haben. Aus diesen Gründen ist die Industrie seit dem Kriege in einem Versumpfungszustand, der sich einerseits durch chronische Arbeitslosigkeit und andererseits durch Ausbrüche von Klassenkämpfen bekundet.

Der Sturz der Monarchie und die ausgerufene spanische Republik im Jahr 1931 erfolgten aus dieser Krise. Zunächst erklärte Primo de Rivera 1930 seinen Rücktritt. König Alfons XIII. rief demokratische Wahlen aus mit der Hoffnung, den Übergang in die Zweite Republik ohne den eigenen Sturz zu überleben. Bei den Kommunalwahlen vom 12. April 1931 gewannen die Republikaner*innen die Mehrheit und einige Tage später floh der König aus dem Land. Bei den Parlamentswahlen am 28. Juni 1931 gewannen ebenfalls die Republikaner*innen die Mehrheit.

Es wurde eine Regierung aus bürgerlichen Republikaner*innen und sozialdemokratischer PSOE gebildet. Es gab abseits von der republikanischen Regierung die anarchosyndikalistische CNT, die eine mächtige Rolle innerhalb der Arbeiter*innenbewegung spielte. Sie hat sich gegen jegliche Beteiligung an den Wahlen ausgesprochen.

Unter den Bedingungen der verschärften weltweiten Klassenkampfsituation ergriff die republikanische Bourgeoisie die Initiative, den spanischen Staat mit bürgerlich-demokratischen Forderungen zu modernisieren. Katalonien, das Baskenland sowie Galizien bekamen Autonomien. Hinter diesem Kurs stand die Zielsetzung, sich des verfaulten Zentralismus zu befreien und die Regionen mit den jeweiligen separatistischen Tendenzen mithilfe demokratischer Reformen zu integrieren. Die katalanische Autonomieregierung stand unter der Führung der bürgerlich-nationalistischen Esquerra Republicana und ihrem Vorsitzenden Francesc Macià i Llussà, der zunächst die unabhängige Republik ausrief, sich aber sehr schnellmit dem Autonomiestatus begnügte. Die Trennung von Kirche und Staat und die Abschaffung der kirchlichen Kontrolle über die Bildung und das Erziehungswesen waren zentrale Forderungen der Republikaner*innen. Sie kamen aus der Tradition der antiklerikalen Proteste, die teilweise derart radikalen Charakter hatten, dass sogar Kirchen in Brand gesteckt wurden.

Die 1931 ausgerufene spanische Republik konnte aber die dringenden Probleme der Massen nicht lösen. Im Gegenteil: Sie versuchte, die Arbeiter*innenklasse zum Friedenspakt mit der Bourgeoisie zu drängen, um sie zu demobilisieren und sie unterzuordnen. Denn ihre Angst vor den Massen war stärker als ihr Hass gegen die Monarchie. Die Landarbeiter*innen forderten die Enteignung des Großgrundbesitzes und die Kollektivierung des Bodens. Die Regierung hingegen versprach Reformen, aber zögerte deren Umsetzung hinaus. Die Industriearbeiter*innen forderten Lohnerhöhungen, Arbeitszeitkürzungen und die Entlassung der alten Manager aus ihren Ämtern.

Immer mehr Arbeiter*innen stellten sich die Frage der sozialistischen Revolution, die Volksfront stand unter großem Druck der Arbeiter*innenbewegung und der Unruhe des Militärs. Während die bürgerliche Regierung das Militär einsetzte, um die Streiks und Besetzungen der Arbeiter*innen zu unterdrücken, verstärkte sie auch dessen Interventionsfähigkeit. Die PSOE war in den Augen der Arbeiter*innen aufgrund ihrer Beteiligung an der Regierung diskreditiert. Der Premierminister der republikanischen Regierung, Azaña, musste zurücktreten, da die Regierung die Krisensituation nicht verwalten konnte. Bei den Wahlen im November 1933 gewannen die reaktionär-klerikalen Rechten die Mehrheit. Unter Führung von Alejandro Lerroux von der Radikal-Republikanischen Partei (PRR) bildete sich die Regierung. Doch die stärkste Kraft war CEDA, das Bündnis Autonomer Rechter – ein Bündnis von klerikalen, monarchistischen, bürgerlichen und faschistischen Gruppen unter der Führung von José María Gil-Robles. CEDA tolerierte die Lerroux-Regierung.

Seine ersten Maßnahmen im Jahr 1934 beinhalteten, die bürgerlich-demokratischen Reformen rückgängig zu machen, die Löhne zu drücken und die Macht der Kirche wiederherzustellen. Wieder war Katalonien eine Zielscheibe der Unterdrückung, ausgehend von der politischen Krise im Spanischen Staat. Währenddessen wartete Gil-Robles auf den richtigen Moment, um die Macht zu übernehmen und verbreitete in die Öffentlichkeit die Forderung der Abschaffung der Republik.

Die zehnstündige katalanische Republik

Die Führungen der PSOE und der ihr nahestehenden Gewerkschaft UGT waren unter großem Druck der sich radikalisierenden Basis. Die anarchosyndikalistische CNT war zwar die stärkste Kraft innerhalb der Arbeiter*innenbewegung, aber auch die sozialdemokratische UGT gewann aufgrund ihrer Linkswende neue Arbeiter*innen. In der Folge gründeten die Arbeiter*innenorganisationen UGT und CNT die Front der Arbeiter*innen (Alianza Obrera): eine Einheitsfront, um sowohl den rechten Vormarsch zu stoppen als auch die Frage der Machteroberung aufzuwerfen.

1934 hatten die Arbeiter*innen in den Bergbauzentren von Asturien den Generalstreik ausgerufen und sich bewaffnet: Denn als CEDA in das Kabinett einzog, herrschte massive Unruhe innerhalb der Arbeiter*innen. Eine revolutionäre Situation begann, in der die Arbeiter*innenmilizen der Einheitsfront die Guardia Civil entwaffneten und ihre Kontrolle über die regionale Hauptstadt Oviedo und weitere Städte erklärten. Doch die Armee unter General Franco massakrierte die Arbeiter*innen: 3000 Menschen wurden ermordet und Zehntausende wurden verhaftet.

Auch die Katalan*innen reagierten auf den Eintritt der CEDA in die spanische Regierung: Am 6. Oktober 1934 rief Lluís Companys, Anführer der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC, Republikanische Linke Kataloniens) und Regierungspräsident Kataloniens, die Republik Katalonien aus. Die rechte Regierung verhaftete in Zusammenarbeit mit der Armee die gesamte katalanische Regierung. Die Republik hatte nur zehn Stunden gedauert, wurde danach militärisch unterdrückt – mit dem Ergebnis, dass 80 Menschen getötet wurden. Denn während sich in Asturien die Arbeiter*innen bewaffneten, verweigerte die bürgerliche Regierung um Companys aus Angst vor der unabhängigen Rolle der Arbeiter*innen die Bewaffnung von Arbeiter*innenmilizen zur Verteidigung der Republik. Ohne bewaffnete Verteidigung hatte die katalanische Republik jedoch keine Chance.

Im zweiten Teil der Artikelreihe geht es um die spanische Revolution und die Rolle der nationalen Frage in Katalonien.

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