„Die Kader einer Revolution entstehen nicht über Nacht“ – Mirek Vodslon erinnert sich an den Prager Frühling
Der Genosse Mirek Vodslon ist am 13. Dezember in Berlin verstorben. Als 20-jähriger war Mirek Teil der Massenbewegung, die 1968 das stalinistische System in der Tschechoslowakei erschütterte. Seit 1970 kämpfte Mirek in den Reihen der trotzkistischen Bewegung, zuerst in Frankreich, dann in England und schließlich in Deutschland. Bis zu seinem Tod blieb er ein Revolutionär, der genauso leidenschaftlich Arbeiter*innen organisierte, wie er philosophische Fragen diskutierte. Im Gedenken an Mirek spiegeln wir dieses Interview über seine Erinnerungen an 1968.
Was hast du 1968 in Prag gemacht?
Ich war Student der Mathematik-Physik-Fakultät der Karls-Universität. Mitglied der KPČ war ich nicht, nur formell Mitglied des Jugendverbandes, CSM. Aber ich war leidenschaftlich politisch interessiert. Alle waren es. Mein Vater war Mitglied des Zentralkomitees der KP. Er gehörte zu den Initiator*innen der „Reformbewegung“ von oben. Seine Meinung hatte ein gewisses Gewicht, weil er vor dsem Krieg Streikführer, dann Widerstandskämpfer gegen die Nazis war. Schon vor 1968 gehörte er einer informellen Oppositionsgruppe in der Partei an. 1969 wurde er ausgeschlossen.
Was erwarteten sich die Menschen vom Reformprozess?
Das Ende der Vormundschaft der Betonköpfe. Eine freie Debatte in der gesamten Gesellschaft um die Alternativen. Auch um die wirtschaftlichen. Die bürokratische Planwirtschaft steckte in der Krise. Die Partei hatte zwar schon 1960 den Sozialismus in der kleinen Tschechoslowakei für „aufgebaut“ erklärt. Wenig später musste Novotný (der erste Sekretär der Partei und Staatspräsident in einer Person) den „jubelnden Massen“ versprechen: „Fleisch wird es geben“. Denn in unserem „Sozialismus“ gab es öfters Fleisch nur unter dem Tisch. Volkswirtschaftler schätzten, dass die Industrie – dank der unsinnigen Planung – den Wert von zwei Jahresproduktionen auf Lager hatte, in Artikeln, die keinem Bedarf entsprachen.
Wir wollten auch Aufklärung der Verbrechen der Terrorherrschaft der 50er Jahre, und dass die Schergen zur Verantwortung gezogen werden. Die meisten Überlebenden des Massenterrors wurden nach 1956 zwar freigelassen. Die Täter*innen blieben aber an der Macht und veranstalteten die „Rehabilitation“ der Opfer so, dass an jedem Opfer ein wenig „Schuld“ kleben blieb. Die „Rehabilitationsfrage“ gab am Anfang den mächtigsten Antrieb der Bewegung. Nur ganz wenige wollten zurück zum Kapitalismus. Im Laufe des Frühlings 1968 konnten sich politische Organisationen bilden, und es gab auch pro-kapitalistische. Selbst sie konnten sich aber nicht die Wiederherstellung des Kapitalismus offen auf die Fahne schreiben. Damit hätten sie den Rest der Bewegung gegen sich gebracht, die eindeutig einen sozialistischen Charakter besaß.
In welcher Form wurden die Menschen politisch aktiv?
Der Kongress des Schriftsteller*innenverbandes am 2. Juni 1967 war der wahre Auftakt des „Frühlings“ 1968. Er bilanzierte die Jahre seit der bürokratisch durchgeführten sozialen Revolution von 1948. Ein sehr bekannter Schriftsteller und Journalist, Ludvík Vaculík, sagte: „In 20 Jahren wurde kein menschliches Problem gelöst.“ Dieser Paukenschlag hallte im ganzen Land wider. Am 30. Oktober fielen Licht und Heizung im Student*innenwohnheim von Strahov in Prag aus. Die Studierenden demonstrierten in der Innenstadt mit Kerzen in der Hand und riefen: „Wir wollen Licht.“ Nicht nur das elektrische Licht, versteht sich: Licht in die Verhältnisse! Die Polizei verfolgte sie prügelnd bis in ihre Zimmer.
Welche Ausmaße nahm die politische Aktivität der Bevölkerung an?
Die herrschende Kaste war gespalten in „Progressive“ und „Konserven“. Das ZK traf sich im Dezember zu einer Krisensitzung. Am 5.1.1968 wurde Novotný, der erzkonserve Parteichef, durch Dubček abgelöst. Mitglieder des ZKs sollten die neue Politik der Offenheit der Basis erklären. Die meisten Betriebe hatten aber schon keine Lust, sich die Konserven noch einmal anzuhören. Als Referent*innen waren „Progressive“ gefragt.
Die Bahn für eine Massenbewegung wurde frei. Viele traten in die KP ein, um die Erneuerung voranzutreiben. Das war alles mehr, als die „Reformer“ je vorausgesehen oder gar gewünscht hatten.
Wie organisierten sich die Menschen und spielte die nationale Frage eine Rolle?
Das große „regionale“ Problem und einer der Auslöser des „Frühlings“ war die Bevormundung der Slowakei durch die Parteispitze in Prag. Keine*r strebte aber eine getrennte Lösung an, sondern eine Föderation.
Die tschechische und slowakische Arbeiter*innenklasse machte die Erneuerung der „kommunistischen“ (stalinistischen) Partei zum Kanal der Mobilisierung. Bei örtlichen und Bezirkskonferenzen der Partei wurde lautstark abgerechnet. Bis Ende März waren die alten Bürokrat*innen überall abgewählt und durch neue Leute ersetzt. Wer sich nicht zur „neuen Politik“ bekannte, hatte wenig Chancen.Erst nach dem Einmarsch gelang es der Bürokratie, die „Föderalisierung“ zur teilweisen nationalen Spaltung der Bewegung auszunutzen.
Gab es Ansätze für Arbeiter*innenselbstverwaltung in Betrieben?
Es formierten sich tatsächlich Arbeiter*innenräte in etlichen Betrieben. Das ist wenig bekannt. Arbeiter*innen wollten vorerst Einfluss auf Entscheidungen am Arbeitsplatz erlangen und Druck auf die Staatsführung ausüben, damit sie beim Demokratisierungskurs bleibt. Die Idee einer Räterepublik hatten nur wenige. Die Bewegung wurde von der militärischen Intervention am 21.8. unterbrochen, bevor die Arbeiter*innenklasse Gelegenheit hatte, über die Schranken des Programms des „Reformflügels“ der Partei hinauszuwachsen. Die politische Revolution wurde dann durch die so genannte „Normalisierung“ gestoppt. Aber es war eine politische Revolution. Die Antwort der Bürokratie auf die Arbeiter*innenräte war die Vorbereitung eines Gesetzes zur Beschränkung ihrer Rolle auf Beratung innerhalb des Betriebs. Die Drohgebärden der Kremlbürokratie gegen den gesamten Prozess prägten aber den Sommer 1968 und überschatteten die Diskussionen über die Räte. Auch die Gewerkschaften wurden von Grund auf erneuert. Die Lokführer*innen gründeten sogar eine neue Gewerkschaft.
Welche Rolle spielten Studierende und Intellektuelle?
Die des Zünders, wie zur selben Zeit in Frankreich. Die revolutionäre Bewegung 1968-1974 war, bei einem Teil der Jugend sogar bewusst, ein internationales Aufbegehren der Arbeiter*innenklasse gegen die Heilige Allianz des Imperialismus und der stalinistischen Bürokratie. Deshalb hatte sie auch überall ähnliche Züge.
Wie wurde die Kritik der Sowjetunion in der Bevölkerung aufgenommen?
Mit Empörung und Unterstützung für Dubček – unter der Bedingung, dass er vom Kurs nicht abweicht. Moskaus Äußerungen kann man nicht als „Kritik“ bezeichnen. Es waren Drohungen und militärische Vorbereitungen (unter dem Vorwand von „Manövern“) auf den Einmarsch.
Wie reagierten die Menschen auf den Einmarsch?
Vor allem Jugendliche gingen auf die Straßen und diskutierten mit den sowjetischen Soldaten. Viele Soldaten erfuhren erst dadurch, dass dies eine Bewegung für den Sozialismus war. Es gab einige Insubordinationsfälle (Befehlsverweigerung, Anm.), einige Soldaten bezahlten sie mit ihrem Leben. Auch etwa 100 Demonstrant*innen wurden erschossen. Das tschechische Radio sendete weiter, von Sendern der Armee aus, und rief zum passiven Widerstand auf. Überall wurden die Straßenschilder abgeschraubt, manche Einheiten der Invasor*innen irrten orientierungslos herum.
Die Arbeiter*innenklasse wartete in den Betrieben auf das Signal ihrer Partei, der erneuerten KPČ, zum Generalstreik. Die internationale Lage war günstig für den Widerstand. Aber es kam nichts.
Delegierte des außerordentlichen 14. Parteitags der KPČ waren gewählt. Er kam am 22.8 zusammen, unter dem Schutz der Arbeiter*innen des großen metallverarbeitenden Betriebs ČKD in Prag-Vysočany. Er verurteilte die Invasion, verlangte den Rückzug der Truppen und die Rückkehr von Dubček und seinen Genoss*innen, die in der Nacht vom 20. auf den 21. nach Moskau zu „Verhandlungen“ verschleppt worden waren.
Die Mehrheit der Kommunist*innen brach mit der Kremlbürokratie. Von der alten kreml-treuen KPČ blieb nur ein kleiner, verhasster, und vorerst desorganisierter, Rest. Unter dem alten Namen „KPČ“ entstand de facto eine neue Massenpartei. Es war aber eine große historische Lektion: der Bruch mit der Bürokratie allein macht noch keine gültige Führung der Arbeiter*innenklasse. Diese Partei hatte Angst vor der Verantwortung, den Widerstand zu führen. Für so etwas wird eine revolutionäre, internationale Führung benötigt, und die entsteht nicht von einem Tag auf den anderen. Die Partei des 14. Parteitag konnte weder mit der stalinistischen Deformation des Marxismus abrechnen, noch die bürokratischen Gewohnheiten der alten KPČ und ihrer Kader ablegen.
Wie siehst du den 14. Parteitag?
Dieser Parteitag war nur die Spitze einer ungeheuren Bewegung der kommunistischen Basis, deren Erwartungen er teils erfüllte (Verurteilung der Invasion und Forderung der Rückkehr von Dubček und seinen Genoss*innen), teils enttäuschte (keine Organisierung des Widerstands, kein Generalstreik, Bereitschaft zur Kooperation mit den „Normalisatoren“ Dubček, Smrkovský und Husák nach ihrer Rückkehr aus Moskau, Selbstauflösung durch Kooptation von Teilen des neuen ZK in das „alte“).
Den tiefen Bruch mit der Kremlbürokratie machte die Basis und, über sie hinaus, die Arbeiter*innenklasse. Der Parteitag war nur ein relativ zahmer Ausdruck davon, aber eben doch Ausdruck. Der krasse Widerspruch zwischen der revolutionären Art und Weise, den Parteitag einzuberufen und zu organisieren einerseits, und seinem brav reformistischen Verlauf andererseits, ist bezeichnend für die sich entwickelnde Gegensätzlichkeit zwischen der Basis und der von ihr nur wenige Wochen zuvor gewählten Vertretung. Die Kader einer Revolution entstehen aber nicht über Nacht.
Wie charakterisierst Du die „Reformer“?
Die „Reformer“ waren ein Flügel der Bürokratie, sie waren Stalinist*innen in ihren ganzen Ansichten und Gewohnheiten. Sie blieben es, selbst nach dem die Ereignisse einen großen Teil von ihnen gezwungen hatten, „weiter [zu] gehen […], als ihnen selbst lieb“ war (wie das Übergangsprogramm von Leo Trotzki sagt) – bis zum Bruch mit Moskau.
Im Gegensatz dazu gab es unter den Student*innen (vor allem an der Fakultät der Philosophie) es sehr wohl eine beachtliche extreme Linke, die z.B. bewusst an die Bewegungen in Frankreich anknüpfte.
Wie schätzt du die Stimmung in der Bevölkerung nach Dubčeks Rückkehr aus Moskau ein?
Dubček und Smrkovský versprachen mit Tränen in den Augen, die „Politik nach Januar“ fortzusetzen. Sie hatten aber in Moskau ein geheimes Protokoll der „Normalisierung“ unterzeichnet. Der Schlüssel war die Rückgängig-Machung des 14. Parteitags.
Nach und nach wurde der Inhalt des Moskauer Diktats bekannt und damit auch die Rolle Dubčeks, der es ein Jahr lang ausführte.
Am ersten Jahrestag des 21.8. gab es spontane unorganisierte Demonstrationen von Jugendlichen. Danach gab es Repression, außerordentliche Gerichte. Das Dekret trug Dubčeks Unterschrift…
Wie hat sich das Bewusstsein der Menschen durch die „Normalisierung“ verändert?
Damit alles wieder stalinistisch „normal“ wird, mussten erst hunderttausende aus der Partei ausgeschlossen werden und mit Berufsverbot belegt werden, dutzende ins Gefängnis wandern. Das Verhältnis zum Sozialismus hat großen Schaden genommen. Die Kremlbürokratie erwies sich als die größte antisozialistische Kraft.
Welche Konsequenzen hast Du persönlich gezogen?
Ich ging nach Frankreich, wo ich noch die „Nachwehen“ des „Mai“ erlebte. Bald (1970) schloss ich mich dem Komitee der Kommunisten-Trotzkisten beim Internationalen Komitee für den Wiederaufbau der IV. Internationale an. Wir haben erkannt, dass nur die von Trotzki gegründete IV. Internationale fähig war, den Erfahrungen der realen politischen Revolution Rechnung zu tragen. Wir sahen aber sehr schnell, wie tief die Krise der IV. war.
Warum bist Du heute politisch aktiv?
Im Wesentlichen: Das Problem eines ganzen Jahrhunderts, die Krise (heute sogar das Fehlen) der Führung der Klasse, bleibt zu lösen.
Das Interview führte Nora Brandes von der Sozialistischen Linkspartei (SLP), österreichischer Sektion des CWI. Zuerst veröffentlicht in einer SLP-Broschüre vom Juli 2008.