Die israelische Offensive: eine neue Situation im Nahen Osten

23.09.2024, Lesezeit 10 Min.
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Symbolbild: Anas-Mohammed/shutterstock.com (Foto eines israelischen Bombenangriffs auf Rafah am 03.05.2024)

Die neusten Angriffe Israels auf den Libanon scheinen die Region kurz vor einem Flächenbrand zu setzen. Welche Strategie verfolgt Netanjahus Regierung in dieser „neuen Phase des Krieges“? Welche Szenarien könnten bevorstehen und was bedeutet es für den Genozid in Gaza?


Der Libanon erlebt Tage des Terrors, seit die Regierung Netanjahu beschlossen hat, eine neue Phase des fast einjäherigen Krieges einzuleiten und in der die Hisbollah und die Nordgrenze den neuen Schwerpunkt bilden. Obwohl dies umstritten ist, besteht das scheinbare Ziel dieser Verlagerung darin, die – aus israelischer Sicht – Trägheit der letzten elf Monate eines Abnutzungskrieges mit der libanesischen Miliz zu durchbrechen. Diese hatte das Ende ihrer Raketenangriffe auf die israelischen Grenzstädte, die sich in Geisterstädte verwandelt haben, an einem Waffenstillstand im Gazakrieg abhängig gemacht hat. Zudem kommt die Gelegenheit zu nutzen, die sich angesichts der Ungewissheit bei den US-Präsidentschaftswahlen bietet.

In der letzten Woche hat der israelische Staat eine Vielzahl ausgeklügelter Taktiken eingesetzt, um die Hisbollah anzugreifen, die aus dem üblichen terroristischen Arsenal des israelischen militärischen Geheimdienstes stammen und durch die großzügigen Mittel der USA und anderer imperialistischer Verbündeter finanziert werden. Die Serie begann am 17. September um 15.30 Uhr, als eine buchstäblich explosive Nachricht Hunderte, vielleicht Tausende von Piepser (die veralteten Geräte, mit denen die Hisbollah glaubte, ihre Kommunikation vor der Infiltration durch den Mossad zu schützen, der leicht auf Mobiltelefone zugreifen konnte) zur Explosion brachte. Am 18. September explodierten auch andere elektronische Geräte wie Handys und Solarzellen.

Obwohl der Zugangsmechanismus zu diesen von der Hisbollah importierten und vertriebenen Geräten unklar ist, verbreitete sich im Laufe der Tage die Erklärung, dass der israelische Geheimdienst zu irgendeinem Zeitpunkt in die Lieferkette eingriff. Dies sei offenbar durch die Gründung einer ungarischen Scheinfirma und der Einfügung von kleinen Ladungen Sprengstoff in die Geräte gelungen, bevor sie an ihre Käufer im Libanon geliefert wurden.

In den Händen und Taschen mutmaßlicher Hisbollah-Mitglieder, bei denen es sich sowohl um potenzielle Kämpfer:innen als auch um Ärzt:innen, Angestellte und Arbeiter:innen handeln könnte, da es sich um eine politische Organisation handelt, die eine wichtige Rolle im libanesischen Staat spielt, explodierten die Piepser-Bomben auf Straßen, Märkten, in Einkaufszentren, öffentlichen Verkehrsmitteln und auch in den eigenen vier Wänden. Dabei kamen Dutzende Menschen, darunter auch Kinder, ums Leben und mindestens 3.000 Menschen wurden verletzt und verstümmelt, indem sie obere Gliedmaßen, Hände oder Finger verloren oder erblindet sind.

Mit Luftangriffen auf mehrere dicht besiedelte Vororte von Beirut, bei denen zwei hochrangige Hisbollah-Befehlshaber, Ibrahim Akil (Nachfolger des im Juli von Israel getöteten Fuad Shukr) und Ahmed Wahbi, Befehlshaber der als Radwan bekannten Sondermiliz, getötet wurden, fand die Terrorsaga ihren vorläufigen Abschluss. Bei diesem jüngsten Angriff auf Wohnhäuser tötete Israel mindestens 30 weitere Zivilist:innen (darunter Kinder) und verwundete weitere 70 Menschen.

Dieser beispiellose israelische Angriff auf libanesischem Boden war in erster Linie ein Akt des Terrorismus in seiner allgemeinsten Definition: eine wahllose und massive Aktion, um die Zivilbevölkerung für ein politisch-militärisches Ziel in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Tatsache, dass alltägliche Gegenstände zu Bomben umfunktioniert wurden (so genannte „Sprengfallen“) und die Angriffe in mehreren Etappen erfolgten, verstärkte zweifellos die Wirkung des Terrors und erzeugte noch mehr Panik, Angst und Chaos. Trotz der Beweise für diese Kriegsverbrechen, die den anhaltenden Völkermord im Gazastreifen noch verstärken, hat der UN-Sicherheitsrat in seiner Dringlichkeitssitzung mit diplomatischer Rückendeckung durch die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich eine Verurteilung Israels vermieden.

Die israelische Offensive im Libanon hat eindeutig eine neue Situation im Nahen Osten geschaffen, deren Konturen noch nicht klar sind. Ist ein dritter Libanonkrieg unvermeidlich? Wird es eine Antwort des Iran geben? Hat Netanjahu eine Strategie oder ist dies nur ein weiterer taktischer Zug? Dies sind Fragen, auf die es bisher keine kategorischen Antworten gibt.

In einer lang erwarteten Botschaft machte Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah keine genauen Angaben dazu, wie die Organisation auf einen solchen Angriff reagieren wird. Nasrallah räumte die Auswirkungen des Schlags ein, als „der größte in Bezug auf Sicherheit und Menschlichkeit, beispiellos in der Geschichte des Widerstands im Libanon“. Er sagte jedoch, der Schlag habe die Entschlossenheit der Gruppe nicht geschwächt und bezeichnete den Krieg als einen „Zyklus“. Vorerst hat sich die Hisbollah, die sich zumindest von den Schäden erholen muss, darauf beschränkt, ihre routinemäßigen Raketenangriffe auf den Norden Israels aufrechtzuerhalten, auch wenn sie den Umfang des Bombardements intensiviert hat.

Für eine Zwischenbilanz ist es sinnvoll, die taktischen von den strategischen Aspekten zu trennen. Die Operation war ein taktischer Erfolg für Israel. Sie versetzte der Hisbollah einen demütigenden Schlag, einen Schlag gegen ihre Glaubwürdigkeit und ihre Moral als Miliz mit hohen Ansprüchen an ihre operativen und sicherheitspolitischen Fähigkeiten. Es wurde aufgedeckt, dass die Netzwerke der Hisbollah, selbst die, die der Führungsspitze am nähesten stehen, infiltriert waren. Es diente auch dazu, das Image des israelischen Geheimdienstes wiederherzustellen, das durch sein Versagen, den Hamas-Anschlag vom 7. Oktober zu verhindern, angeschlagen war.

Um jedoch eine treffende Definition des Militäranalysten der Zeitung Haaretz, Amos Harel, zu übernehmen, war die Operation auffällig und hatte einen Hauch von James Bond, aber es ist unklar, wohin sie führt und welchen strategischen Wert sie hat. Es gibt mehrere Faktoren, die diese Zweifel nähren. Das erste und offensichtlichste ist, dass einem Bericht der New York Times zufolge die Operation mindestens zwei Jahre vor dem Hamas-Angriff im Oktober 2023 geplant wurde. Aber die Entscheidung, sie durchzuführen, scheint nicht von einer klaren Strategie geleitet worden zu sein, sondern eher von dem Verdacht, dass die Hisbollah die Manipulation der Piepser entdecken würde.

Für J. Mearsheimer, der dem „realistischen“ Flügel des US-Establishments angehört, könnte der Angriff Teil von zwei Strategien sein, die sich entweder gegenseitig ausschließen oder ergänzen (bzw. eine logische Folge voneinander sind). Die eine wäre eine „Strategie der Nötigung“, die darin bestünde, einen extremen Druck auszuüben – Piepser-Bombe plus Androhung einer Invasion -, um eben keinen Krieg zu führen, d.h. die Hisbollah zu zwingen, sich zurückzuziehen und einen Waffenstillstand zu akzeptieren, der die Rückkehr der vertriebenen israelischen Bevölkerung ermöglichen würde. Die andere wäre eine Invasion, die faktisch ausgeschlossen ist, weil sie, um militärisch sinnvoll zu sein, unmittelbar nach dem Auslösen der Piepser erfolgen hätte müssen, um das entstandene Chaos auszunutzen. Das Paradoxe ist, dass die Strategie der Nötigung im Rahmen der Eskalation dazu führen kann, dass Krieg und Invasion unvermeidlich werden.

Bislang waren sich die meisten Analysten einig, dass der Krieg im Gazastreifen zwar das Potenzial hätte, zu einem regionalen Krieg im Nahen Osten zu eskalieren, dass aber derartige Tendenzen in erster Linie deshalb relativ eingedämmt wurden, weil weder die USA noch der Iran oder die Hisbollah (nach den traumatischen Erfahrungen des Krieges von 2006) bereit wären, einen Krieg zu führen. Doch dieser vermeintliche Rahmen der Eindämmung, in denen Israels Abnutzungskrieg geringer Intensität mit der Hisbollah oder die maßvollen Reaktionen des Irans auf israelische Angriffe bisher eingebettet waren, scheint ernsthaft geschwächt zu sein.

Die Eskalation, die immer noch in vollem Gange ist, eröffnet die Aussicht, dass sich Tendenzen zu einem regionalen Krieg im Nahen Osten, oder besser gesagt zu einem direkten Krieg zwischen Israel und dem Iran, in dem die Vereinigten Staaten unweigerlich hineingezogen werde würden, materialisieren. Denn im Nahen Osten ist bereits ein Krieg mit unterschiedlicher Intensität im Gange, an dem nicht nur Israel und die palästinensischen Gebiete, sondern auch der Libanon, Iran, Syrien und Jemen beteiligt sind.

Die Dynamik im Nahen Osten wirkt sich unmittelbar auf den US-Wahlkampf aus: Die Biden-Regierung hat Netanjahu alles gegeben, was er wollte, von hochentwickelten Waffen und Phosphorbomben bis hin zu diplomatischer Deckung bei den Vereinten Nationen für den Völkermord im Gazastreifen und dessen Ausweitung auf das Westjordanland. Dort haben das israelische Militär und die Siedler:innen seit Beginn des Gazakriegs mehr als 600 Palästinenser:innen getötet, darunter auch Ayşenur Ezgi Eygi, eine junge türkisch-amerikanische Aktivistin, die während einer Demonstration bei Nablus in den Kopf geschossen und ermordet wurde. Doch in diesen 11 Monaten war die Biden Regierung völlig machtlos bei dem Versuch, Netanjahu Grenzen zu setzen. Die israelischen Angriffe im Libanon fanden statt, während Außenminister Antony Blinken im Rahmen seiner x-ten gescheiterten Tour zur Aushandlung eines Waffenstillstands im Gazastreifen in Ägypten weilte.

Diese bedingungslose Unterstützung hat einen hohen politischen Preis für „Genocide Joe“ und die Demokraten, die riskieren, einen bedeutenden Teil ihrer Wähler:innenschaft in „Swing States“ wie Michigan zu verlieren, wo die „unengagierte“ (uncommitted) Bewegung stark ist und sich weigert, die Demokraten wegen ihrer pro-zionistischen Politik zu wählen. Hinzu kommt die Solidaritätsbewegung mit dem Befreiungskampf des palästinensischen Volkes an den Universitäten, die zwar durch polizeiliche Repressionen und Disziplinarmaßnahmen der Rektorate zurückgedrängt wurde, aber weiterhin ein Motiv für die Organisierung und politische Radikalisierung von Teilen der Avantgarde ist, wie in Großbritannien, wo die Mobilisierungen gegen die pro-israelische Politik der Labour-Regierung von K. Starmer weitergehen.

Netanjahu scheint sich unverdrossen für die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus einzusetzen, der seiner Meinung nach eher seinen Interessen entspricht. Die Eskalation des Konflikts kommt zum ungünstigsten Zeitpunkt für Bidens Regierung und für die demokratische Kandidatin Kamala Harris, die mit der Last zu kämpfen hat, die wichtigste Verbündete des Staates Israel zu sein und großzügig die Waffen zu liefern, mit denen Netanjahu das palästinensische Volk massakriert, und das zu einer Zeit, in der die Komplizenschaft der demokratischen Regierung mit dem Völkermord in Gaza von nicht unerheblichen Teilen ihrer Wähler:innenschaft abgelehnt wird. Das Letzte, was Kamala in ihrem engen Streit mit Trump braucht, ist, dass die USA in einen neuen Krieg im Nahen Osten hineingezogen wird.

Politisch hofft Netanjahu, dass die Offensive es ihm ermöglicht, seine Regierung wieder aufzubauen, die mit einer „Palastkrise“ konfrontiert ist – ausdrückliche Meinungsverschiedenheiten unter den militärischen Befehlshabern über die Ziele des Gaza-Krieges, Spaltungen im Kabinett, insbesondere mit Verteidigungsminister Y. Gallant -, die sich mit der „Straße“ verbindet, die seine Politik über die Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln nicht zu verhandeln, ablehnt und die sich in massiven, zeitweise auftretenden Mobilisierungswellen äußert. Die letzte Mobilisierung, bei der ein sofortiger Waffenstillstand gefordert wurde, fand am 2. September statt, als Hunderttausende auf die Straße gingen, um Netanjahu für die Hinrichtung von sechs Geiseln in Gaza zu verurteilen. Der Protest schloss einen achtstündigen Generalstreik ein, zu dem die Histadrut, der zionistische Gewerkschaftsbund, aufgerufen hatte. Die Grenzen dieser Proteste liegen darin, dass im Kontext eines Rechtsrucks in der israelischen Gesellschaft keine bedeutenden Sektoren aufgetaucht sind, die das koloniale Projekt des zionistischen Staates in Frage stellen.

Das Überleben der Regierung Netanjahus (und damit seine persönliche Freiheit) ist untrennbar mit seiner Partnerschaft mit den Parteien der extremen religiösen Rechten und den Siedler:innen verbunden, das heißt mit der Fortsetzung und eventuellen Ausweitung des Krieges. Da das Ziel der „Ausrottung der Hamas“ ein Hirngespinst ist, schwankt Bibi zwischen den extremsten Sektoren, die auf eine Art „Endlösung“ drängen, d.h. die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland, und einer gemäßigten Version derselben Strategie, die die militärische Wiederbesetzung einiger Gebiete des Gazastreifens vorsieht, wie er es jetzt offenbar im Norden der Enklave zu tun versucht.

Dieser Schlag im Libanon wird Israels wichtigstes strategisches Problem, das nicht nur militärischer Natur ist, wohl kaum lösen. Die gezielte Ermordung von politischen und militärischen Führern ist eine historische Praxis der israelischen Streitkräfte. Allein in diesem Jahr wurden die Köpfe der iranischen Revolutionsgarden, der militärische Flügel der Hisbollah und sogar der politische Flügel der Hamas ausgeschaltet, wobei Ismail Haniyeh im Iran, einer der Unterhändler des Waffenstillstands, durch den radikaleren Yahya Sinwar ersetzt wurde. Diese Schläge haben jedoch nie zu dauerhaften Siegen oder bedeutenden Veränderungen geführt, da sie die Widerstandsbewegungen, die koloniale Besatzung und das Apartheidregime vertiefen, dem die palästinensische Bevölkerung unterworfen ist, mit der Komplizenschaft ihrer imperialen Verbündeten in den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union wiederherstellen.

Dieser Artikel erschien erstmals am 22. September 2024 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.

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