Die IG Metall radikalisiert den Kampf um die Arbeitszeit: 24h-Streiks ab Mittwoch

29.01.2018, Lesezeit 7 Min.
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Der Tarifkonflikt im Metallsektor spitzt sich zu: In bis zu 250 Betrieben wird es ab Mittwoch zu ganztägigen Warnstreiks kommen. Der Kampf um die Arbeitszeit wird radikaler und könnte Ausgangspunkt für eine größere Bewegung zur Reduzierung des Arbeitstages werden.

Am Samstagvormittag war klar: Die IG Metall wird die Streiks im Metallsektor in dieser Woche massiv ausweiten. Nachdem in den vergangenen Wochen insgesamt 930.000 Arbeiter*innen in ganz Deutschland stundenweise ihre Arbeit niedergelegt hatten, wird die Gewerkschaft ab Mittwoch zu 24-Stunden-Streiks aufrufen. In über 250 Betrieben „querbeet durch alle Branchen und Betriebsgrößen“ soll heute und morgen über solche ganztägigen Warnstreiks abgestimmt werden.

In einer Pressemitteilung erklärte die Metallgewerkschaft:

Die Vorbereitungen hierfür laufen auf Hochtouren. Die Auswirkungen auf die ausgewählten Betriebe werden deutlich größer sein als bei den vorangegangenen Warnstreiks. Solange in der kommenden Woche die ganztägigen Warnstreiks stattfinden, werden keine Verhandlungen geführt. Die Arbeitgeber haben dann am kommenden Wochenende erneut die Chance, zu einer Einigung mit der IG Metall zu kommen. Sonst werden wir Urabstimmung und Erzwingungsstreiks einleiten.

Die Eskalation des Tarifkonflikts war nötig geworden, weil die Tarifverhandlungen im Pilotbezirk Baden-Württemberg, dessen Abschlüsse traditionell richtungsweisend für die Abschlüsse in den restlichen Tarifgebieten sind, am Samstag auch in der fünften Runde ergebnislos blieben. Wie die IG Metall berichtete, boten die Arbeitgeber*innen

lediglich knapp 3 Prozent mehr Lohn, trotz der sehr guten wirtschaftlichen Lage, und blockierten auch bei der Arbeitszeit Lösungen. […] Knackpunkt der Verhandlungen war zudem der von der IG Metall geforderte Zuschuss zur Reduzierung der Arbeitszeit für Beschäftigte mit Kindern, zu pflegenden Angehörigen und in Schichtarbeit.

Richtungweisende Streiks

Die anstehenden Massen-Warnstreiks sind aus verschiedenen Gründen richtungweisend:
Zum ersten Mal greift die IG Metall zu 24-stündigen Warnstreiks als Arbeitskampfmaßnahme. Das ist deshalb spannend, weil die Gewerkschaftsspitzen in der Vergangenheit immer wieder vor einer Eskalation der Tarifverhandlungen zurückgeschreckt hatten, da in ihrem traditionellen Verständnis nach dem Scheitern von kurzen Warnstreiks sofort Urabstimmungen zu Flächenstreiks im gesamten Tarifgebiet gefolgt wären. Mit der Einführung von 24-Stunden-Streiks als Mittel, welches auf Betriebsebene entschieden und gleich umgesetzt werden kann, wird der Druck massiv ausgeweitet, ohne dass sich die IG-Metall-Führung auf die Position zurückziehen kann, dass Flächenstreiks „nicht vermittelbar“ wären. Das gilt besonders deshalb, weil die in der Metallbranche inzwischen allgegenwärtigen „Just-in-time“-Produktionsketten selbst bei einem eintägigem Produktionsstopp in einem wichtigen Betrieb völlig zum Stillstand kommen können.

Zudem wird mit Abstimmungen auf Betriebsebene ein Stück der Machtkonzentration der IG-Metall-Spitze zurück an die Basis des Arbeitskampfes gegeben. Dies könnte gleichzeitig ein Sprungbrett für eine noch massivere Eskalation sein, falls die Bosse trotz den Streiks in dieser Woche weiterhin nicht einlenken. In der ausländischen Presse wird teilweise schon davon gesprochen, dass ein „harter und unbegrenzter Generalstreik im Metallsektor“ zu erwarten sei. Noch sind wir nicht soweit – auch ein Flächenstreik, den die IG-Metall-Führung für den Fall des weiteren Scheiterns der Verhandlungen angekündigt hat, würde sich nicht unbedingt auf die gesamte Branche oder einen unbegrenzten Zeitraum beziehen –, doch angesichts der sehr verhaltenden Tarifrunden der letzten Jahre wäre der Ausruf eines Flächenstreiks ein Dammbruch, der die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen in Deutschland merklich verschieben könnte.

Das gilt umso mehr, weil der Arbeitskampf im Metallsektor auch in seinen Forderungen eine Gegentendenz zu der allgegenwärtigen Politik der Prekarisierung steht, die in der Bundesrepublik seit der Agenda 2010 und besonders seit Beginn der Weltwirtschaftskrise vor zehn Jahren vorherrscht. Denn der IG Metall geht es diesmal nicht nur um eine Lohnforderung, sondern um die Frage der Arbeitszeit.

Mehr Zeit zum Leben statt zum Arbeiten!

In Antwort auf die zunehmende „Flexibilisierung“ – das Modewort der Bosse für „Entgrenzung“ – der Arbeitszeiten zu Lasten der Arbeiter*innen, hat die IG Metall in der aktuellen Tarifrunde die Forderung nach einer zeitweisen Arbeitszeitverkürzung auf den Tisch gelegt. Konkret fordert sie, dass Arbeiter*innen für eine Dauer von bis zu zwei Jahren ihre Arbeitszeit auf 28 Stunden pro Woche verkürzen und danach wieder in die Vollzeit zurückkehren können. Bisher gibt es dieses Rückkehrrecht nicht. Für den Fall, dass die Reduzierung aufgrund der Pflege von Kindern oder Angehörigen stattfindet, fordert die Gewerkschaft einen Teillohnausgleich von 200 Euro pro Monat, für die Reduzierung aufgrund von Schichtarbeit 750 Euro im Jahr.

Diese Forderung ist vor allem deshalb höchst progressiv, weil sie eine Diskussion über Arbeitszeit eröffnet, die in den vergangenen Jahrzehnten völlig verloren gegangen war. Sie ist eine Gegentendenz zur allgegenwärtigen Steigerung der Arbeitszeit: Obwohl die Tarifverträge der IG Metall von 35- bzw. 27-Stunden-Wochen (West bzw. Ost) ausgehen, beträgt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland aktuell über 43 Stunden. Selbst im Metallsektor sind diese Zahlen keine Seltenheit mehr.

Diese Dimension ist es, die diesen Tarifkampf zum potentiell „größten Arbeitskampf im Metallsektor seit 30 Jahren“ werden lässt. Nachdem in den vergangenen Jahren hauptsächlich prekäre Dienstleistungssektoren ihre Arbeit niedergelegt hatten, bewegt sich nun der wichtigste Industriesektor in Deutschland, der zentrale Pfeiler der deutschen Exportökonomie. Die Durchsetzung von Arbeitszeitforderungen in diesem Bereich könnte der Arbeiter*innenklasse nach Jahren der Abwehrkämpfe einen neuen Horizont eröffnen.

Das Rückkehrrecht in die Vollzeit ist dabei auf den ersten Blick eine relativ begrenzte Forderung – ihre Sprengkraft kommt einerseits daher, dass die Tendenz in den vergangenen Jahrzehnten zu immer mehr und immer prekärerer Arbeitszeit ging, und hier erstmals ein Schritt in die andere Richtung gemacht wird. Auch die feministische Dimension, dass vor allem Frauen von der sogenannten „Teilzeitfalle“ betroffen waren, die ihnen die Rückkehr in die Vollzeit verwehrte und sie zu einer ständigen Abhängigkeit verdammte, könnte diesen Kampf exemplarisch machen. Vor allem aber ergibt sich die scharfe Ablehnung der Unternehmer*innen aus der Forderung nach einem teilweisen Lohnausgleich für die Reduzierung der Stunden – eine noch vor einigen Jahren in Deutschland undenkbare Forderung.

Arbeitszeitverkürzung für alle!

Und so bietet dieser Streik die Möglichkeit, eine noch viel radikalere Diskusion zu beginnen: die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und die Verteilung der Arbeit auf viel mehr Schultern. Anstelle der immer mehr wachsenden Kluft zwischen Minijobs und Kurzzeitpraktika einerseits, die nicht zum Leben reichen, und überdurchschnittlicher Arbeitszeit, die zu Stress, Burnout und körperlichen Beschwerden führt, wäre eine Reduzierung der Arbeitszeit für alle auf 30 Stunden pro Woche absolut möglich. Die technologischen Möglichkeiten dafür existieren längst: Anstelle den Takt der Maschinen immer weiter zu erhöhen und die Arbeiter*innen zu Sklav*innen der Automatisierung und Robotisierung zu machen, könnten die technologischen Fortschritte genutzt werden, um die Arbeitszeit für alle zu verringern. Dies wäre auch eine Möglichkeit, um mit der Arbeitslosigkeit von mehr als drei Millionen Menschen und dem damit verbundenen Harz-IV-Elend Schluss zu machen und sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

In Argentinien hat die Front der Linken und der Arbeiter*innen (FIT) im vergangenen Jahr ihren Wahlkampf mit diesem zentralen Punkt durchgeführt: 6 Stunden Arbeit pro Tag an 5 Tagen pro Woche . Über eine Million Arbeiter*innen stimmten für diese Losung. Warum sollte das nicht in Deutschland möglich sein?

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