Die Homosexuellenbewegung und der erste Weltkrieg: Antiimperialismus ist notwendig für Befreiung von Unterdrückung

14.06.2024, Lesezeit 20 Min.
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Ein "gay contingent" bei einem Protest gegen den Vietnamkrieg, 1971. (Diana Davies / New York Public Library)

Wir können die Erfahrungen und die Geschichte der deutschen Homosexuellenbewegung in Kriegszeiten zu nutzen, um aktuelle Debatten über Militarisierung und queere Befreiung zu bereichern. Warum sich queere Menschen unbedingt gegen Krieg und Imperialismus stellen müssen.

„Die Sexualreform, wie sie heute an uns herantritt, ist keine eigenbrötlerische Utopie mehr, sie ist eine von der Menschheit zu lösende und daher auch lösbare Aufgabe.“1

So heißt es prägnant in der 1930 erschienen „Sittengeschichte des Weltkriegs“ von Magnus Hirschfeld. Der Erste Weltkrieg hat die Geschlechterbilder und Rollen, die Sichtweisen und Erkenntnisse zur Sexualität sowie das familiäre Zusammenleben entschieden beeinflusst. In den Jahren vor dem Krieg entwickelte sich eine durchaus einflussreiche Homosexuellenbewegung, die sich die Erforschung und Legalisierung der Homosexualität auf die Fahne schrieb. Es dauerte jedoch bis zum Jahr 1994, um den Paragraph 175, der Homosexuelle mehr als ein Jahrhundert lang kriminalisierte, durch den Deutschen Bundestag zu streichen. Erst in den letzten Jahren begann eine verstärkte Untersuchung der Geschichte von homosexuellen und queeren Identitäten. Die Zeit des Ersten Weltkriegs muss hierbei als eine zentrale Umbruchszeit betrachtet werden.

Im gegenwärtigen Kontext, des Aufstiegs der Rechten in Deutschland, verzeichnen staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen einen Anstieg von Diskriminierung gegen Homosexuelle und queere Personen. Dies geschieht auch im Kontext einer erneuten Militarisierung Deutschlands. Im Kriegsfall sollen auch trans Frauen in die Bundeswehr eingezogen werden können. Bereits im Ersten Weltkrieg war die Beteiligung von homosexuellen und queeren Soldat:innen Normalität. Homosexuelle Beziehungen wurden zunehmend sichtbar und schwule Männer fühlten sich in gewisser Weise toleriert durch die Fronterfahrung, die sie mit ihren heterosexuellen Kameraden teilten.2 Die Regierung und Heeresführung beschworen eigentlich ein extrem männliches Idealbild, um die Moral der Truppe in ihrem Sinne zu festigen. In dieser Hinsicht erscheint es verblüffend, dass etwa in der Front-Zeitschrift „Der Flieger“ ein Gedicht mit dem Titel: „Wir armen Männer!“3 erschien, in welchem über geschlechtliche Transition fantasiert wurde und der Wunsch geäußert wurde, kein Mann zu sein.

In dieser Zeit, die reich war an Umbrüchen und Krisen, setzten sich unterschiedliche Akteur:innen das Ziel, den Homosexuellen Anerkennung zu verschaffen. Neben führenden sozialdemokratischen Kreisen gab es auch konservative Akteure, wie etwa die „Gesellschaft der Eigenen“, die von Adolf Brand initiiert wurde und die Vision einer allein männlichen Gesellschaft als Utopie vertrat und in ihrer Ablehnung von allem Femininen, Homosexuelle als „ultramaskulin“ und damit den Heterosexuellen überlegen betrachtete. Die Geschichte der Homosexuellen im Krieg und die ihrer politischen Bewegung ist facettenreich und nicht homogen. Dieser Artikel setzt es sich zum Ziel, die Erfahrungen und Umbrüche der umliegenden und Kriegsjahre verständlich zu machen und die Debatten über Geschlecht, Sexualität und Krieg im gegenwärtigen Kontext zu bereichern. Wie beeinflusste der Krieg die Entkriminalisierungsbestrebungen?

Die Entstehung der Homosexuellenbewegung und das Zusammenspiel mit der Sozialdemokratie

Die ersten Schriften, welche sich ausführlicher mit der Homosexualität befassten, stammten von dem deutschen Juristen Karl-Heinrich Ulrichs, welcher einer der ersten „geouteten“ Männer war. 1862 veröffentlichte er eine Reihe von Schriften, die den Begriff „Urning“ prägten. Dieser entstammt einem essentialistischen Verständnis von Sexualität, welches relativ schnell überholt wurde. Für ihn waren „Urninge“ weibliche Geister in einem männlichen Körper und stellten damit ein drittes Geschlecht dar. Genau wie der Schriftsteller Karl-Marie Benkert, welcher sich in den philosophischen Kreisen von Marx bewegte und angeblich den Ausdruck homosexuell zum ersten Mal gebrauchte, setzte sich Ulrichs gegen die drohende rechtliche Bestrafung der Homosexualität ein. Ihren Bemühungen zum Trotz trat 1871 der Paragraph 175 zur Kriminalisierung der Homosexuellen in Kraft. Es sollte noch ungefähr zwei Jahrzehnte dauern, bis sich gegen diesen eine größere Bewegung formierte. Insbesondere die Industrialisierung veränderte sexuelle Normen und familiäre Verhältnisse, denn einen großen Teil der Bauernschaft zog es in die Städte. Dort angekommen waren viele weit weg von der Familie und bestehenden Beziehungen und es entstand ein neues Klima mit weniger strengen sozialen und moralischen Normen als auf dem Dorf. Die ersten homosexuellen Communitys und Räume begannen sich zu definieren. 

Es waren zu dieser Zeit führende Mitglieder der SPD, welche begannen, eine Opposition gegen die Kriminalisierung zu organisieren. Ein besonderer Ausdruck der Repression gegen Schwule in Europa zu dieser Zeit war der Prozess gegen den Schriftsteller Oscar Wilde in England. Der Parteiführer Eduard Bernstein veröffentlichte zur Verteidigung Wildes in der SPD- Zeitung „Neuer Weg“ einen Artikel, in dem er bereits feststellte, dass sich in keiner Kulturstufe der Menschheit ausschließen lasse, dass homosexueller Geschlechtsverkehr existiert habe.4 Auf ähnliche Art und Weise argumentierte auch August Bebel in seiner Reichstagsrede am 13. Januar 1898, in der er feststellte, es handele sich bei Homosexuellen „um Tausende Personen aus allen Gesellschaftskreisen.“5 In seiner Rede probierte der SPD- Vorsitzende die Abgeordneten zur Unterschrift einer Petition zur Entkriminalisierung der Homosexualität zu bringen, wofür er von allen anderen Fraktionen ausgepfiffen wurde.

Diese Petition, zu deren Erstunterzeichnern Bebel gehörte, stammte aus der Feder des wissenschaftlich-humanitären Komitees. Dieses wurde 1897 durch den Mediziner Magnus Hirschfeld (ebenfalls SPD-Mitglied) gegründet und hatte insgesamt 35 Jahre Bestand. Das Komitee setzte sich für die Abschaffung von Paragraph 175 ein, für die Gewinnung und Überzeugung der Öffentlichkeit, genauso wie für die Organisierung und Mobilisierung der Homosexuellen. Es veranstaltete Konferenzen, gab Zeitschriften heraus, trat mit Reden in die Öffentlichkeit und unterhielt Korrespondenzen mit zahlreichen Abgeordneten. In der Zeit vor dem Krieg waren mehr als 5 Tausend schwule Männer und auch einige Frauen Mitglieder im Komitee

Vor Beginn des Krieges konstatierte dieses in seinem Jahresbericht: „Die Periode des Totschweigens, der Nichtbeachtung ist vorüber, endgültig vorbei, wir befinden uns mitten in der Periode der Diskussion.“6 Das Komitee und die politischen Bestrebungen der Homosexuellen hatten also vor dem Krieg einen Höhepunkt erreicht. In der Öffentlichkeit war das Thema angekommen und durch Teile der SPD in gewisser Weise demokratisch legitimiert. Unterschiedliche Akteur:innen führten Aktivitäten aus, wenngleich das Komitee aufgrund seiner besonderen Ausstrahlung und der akribischen Berichte besonders im Zentrum der Betrachtung steht.

Homosexualität in Kriegszeiten

Dem Historiker Jason Crouthamel zufolge, kreierten die Soldaten mehrere Formen der Männlichkeit, um mit dem Stress im Krieg umzugehen. Durch Akte der Geschlechtstransition, feminine-Charakteristika und homosoziale Beziehungen konnten sie einen Umgang mit ihren Traumata finden.7 In dieser Situation entstanden auch vielfältige Formen und Erfahrungen der Homosexualität. Es gab eine kleine Gruppe Homosexueller, „auf deren Dienste man daher, weil ihre Homosexualität früher einmal gerichtskundig oder sonst unliebsam bekannt geworden ist, Verzicht leistet.“8 Dies sei aber nicht gravierend gewesen, da Homosexuelle öfters diensttauglich waren, weshalb der Anteil an Dienst Leistenden unter den Homosexuellen etwa dem der Heterosexuellen entsprach.

Im Gegensatz zu ihren heterosexuellen Kameraden, waren sie aber aufgrund der bereits erlebten Traumata durch die Unterdrückung ihrer Liebe besser darin, die Traumata durch Verluste an der Front zu überstehen. Ebenso stellte Magnus Hirschfeld fest dass „Homosexuelle Soldaten […] , ohne daß man ihre Eigenart erkennt, gewöhnlich bei Kameraden und Vorgesetzten beliebt [sind], ebenso homosexuelle Vorgesetzte bei den Mannschaften.“9 Zu unterscheiden sind hier „zwei Arten“ von Homosexuellen. Generell sahen homosexuelle Männer genau wie auch andere Minderheiten in Deutschland die Möglichkeit, sich durch den Militärdienst in die Gesellschaft zu integrieren. Die Front als ein männlich dominierter Raum, wurde des Weiteren als ein Ort betrachtet, an dem Homoerotik und Liebe zumindest möglich seien, manche sahen sie sogar als dafür ideal an. Die Unterscheidung liegt darin, ob die Homosexuellen sich als besonders maskulin und damit dem „Kriegerideal“ entsprechend identifizierten, als feminine Männer, oder als „Transvestiten“. Letztere hatten Berichten zu Folge noch größere emotionale und soziale Schwierigkeiten.10 Der Sex zwischen Männern (auch solche, welche sich ansonsten als heterosexuell identifiziert hatten) war innerhalb von vielen militärischen Umfeldern nicht unüblich. 11

Diese Darstellungsweise von Hirschfeld ist aber insofern beschönigend, als dass sie die großen Kriegsleiden der Soldat:innen allgemein, aber auch im Kontext ihrer Sexualität unterbetont. Schließlich verloren viele von ihnen ihr eigenes Leben oder das ihrer Liebsten/ihres Liebsten. Die Erkenntnisse von Hirschfeld sind aber zum großen Teil valide, da sie sich in zentralen Punkten mit kontemporären Forschungsarbeiten decken, wie etwa „Der große Krieg der Triebe“ von Richard Kühl oder der Studie „An Intimate History oft the Front“ von Jason Crouthamel.

Ich bin in entsetzlicher Stimmung, denn gestern kam die Nachricht, daß ein lieber, herrlicher Herzensfreund von mir gefallen ist. Nachdem er an der Universität München cand. med. geworden war, ging er fast ein Jahr lang in einem Feldlazarett an der Westfront ganz in seinem Berufe auf. Aber das war für Fritz keine genügende Betätigung. Er mußte seinem Vaterlande mit der Waffe in der Hand dienen und ging als Freiwilliger zu den Fliegern. In kurzer Zeit war er Offizier, holte sich verschiedene Kreuze und Orden und war Soldat mit Leib und Seele. Und nun hat ihn das Schicksal auf seiner geliebten Fokkermaschine ereilt. Als er mir kurz vor seinem Tode schrieb, meinte er, es könnte doch nach diesem Kriege und nach diesen Leistungen der Uranier das Vaterland unmöglich mehr die Bezeichnung ‚Verbrecher‘ für uns übrig haben. Nun ist er gefallen und ist jedenfalls herben Enttäuschungen dadurch enthoben worden, denn vielleicht wird nach dem Kriege doch alles beim alten bleiben.

-Aus den Vierteljahrsberichten des w.h. Komitees

Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee in Kriegszeiten

Der SPD-Abgeordnete und spätere Kommunistenführer Karl Liebknecht schrieb 1915 in einem Flugblatt die prägnanten Worte: „Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie diesen Feind im eigenen Lande gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.“12 Damit wollte Liebknecht die Arbeiter:innenbewegung dazu bewegen, eine Opposition gegen den Krieg einzunehmen und diesen damit zu stoppen. Liebknecht war der einzige Abgeordnete der SPD, welcher bei der zweiten Sitzung im Dezember 1914 gegen die Bewilligung der Kriegskredite stimmte. Die SPD und die Gewerkschaften wurden binnen kurzer Zeit von vaterlandslosen Gesellen zu Patrioten und verpflichteten sich zur Burgfriedenspolitik, also der Zurückstellung innenpolitischer und wirtschaftlicher Auseinandersetzungen zugunsten der Kriegsziele. Im Kontext dieser politischen Entwicklung ist auch die Arbeit des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in der Kriegszeit zu betrachten.

Über die Arbeit des Komitees und deren Bedeutung für die Homosexuellen geben dessen ausführliche Berichte Aufschluss. Über 50 Prozent der Mitglieder seien in den Krieg gezogen, „bereit, ihr Leben für das Vaterland zu opfern“.13 Die Arbeit des Komitees wurde stark eingeschränkt, nachdem es zunächst sogar die Überlegung gab, sie ganz einzustellen. Früher erschienen die Berichte monatlich, nun als Vierteljahrs-Berichte. Die erweiterte Obmänner-Versammlung vertrat in ihrer Tagung am 23. Oktober 1914 den Standpunkt, dass sich das Komitee während des Krieges „jedes öffentlichen Hervortretens enthalten muss.“14 Wissenschaftliche und humanitäre Arbeit wurde aber fortgesetzt. Der Patriotismus tritt in den Schriften des Komitees sehr deutlich hervor, so heißt es darin etwa: „Wie es im gegenwärtigen Kriege gilt: einer für alle und alle für einen, so ist auch, was jeder einzelne in diesem Kampfe tut, für ihn selbst und zugleich für alle getan.“15 Das Komitee folgte nun einer „Unterstützungslogik“, es solle in diesen unruhigen Zeiten ein zentraler Stützpunkt sein, an den man sich wenden kann. Viele Homosexuelle suchten auch diese Unterstützung. Aus ihren Briefen erstellte das Komitee eine aufschlussreiche Kriegsmaterial-Sammlung. Diese gibt Auskunft, über die Erfahrungen queerer Personen im Krieg, sie kollektiviert einzelne Schicksale zu einer Masse an Berichten, welche empirisch die Auswirkungen des Krieges auf das Leben von Homosexuellen und einigen queeren Personen im Krieg und ihre politische Bewegung und Ansichten widerspiegeln.

Im Verlaufe des Krieges begannen sich sowohl die Berichte, als auch die Aktivität des Komitees zu ändern. Bereits ein Vierteljahr nach Beginn des Feldzugs nahm das Komitee seine Versammlungen wieder auf. Auf die Frage, inwieweit die Befreiung der Homosexuellen mehr in die Nähe oder die Ferne gerückt ist, veröffentlichte das Komitee im Bericht aus dem Jahr 1915 folgende Zeilen: „Da aber das Schicksal der Homosexuellen mit allen diesen noch verborgen im Schoße der Zukunft ruhenden Entwicklungs- und Menschheitsproblemen zusammenhängt, steht jede Voraussage, welchen Einfluß der Krieg auf die Lage der Homosexuellen haben wird, auf schwankendem Grunde.“16

Aus den Kriegsberichten geht jedoch hervor, dass viele führende Persönlichkeiten des Komitees im Krieg gefallen sind. So beispielsweise der Vorsitzende der W.-h. Gesellschaft in Wien Georg Newekluff. Fakt ist also, dass die physische Existenz des Komitees extrem geschwächt wurde, durch den Einsatz mehr als der Hälfte der Mitglieder im Krieg wie durch den Verlust vieler führender Persönlichkeiten. Genauso wie durch die Traumatisierung und Verwundung durch die Fronterfahrungen allgemein.

Die Nachkriegszeit, das Aufdämmern einer neuen Moral und die faschistische Gefahr

Nach dem Krieg kamen in der Homosexuellenbewegung zunehmende Widersprüche auf. Große Teile der homosexuellen Community argumentierten nach dem Krieg, dass die Kriegserfahrung aus Homosexuellen „richtige Männer“, gemacht habe, um so ihre Integration in die Gesellschaft zu verwirklichen. Dies ging so weit, dass „verweiblichte Männer“ offen diskreditiert wurden, davon zeugt etwa der Aufsatz „Manneswürde“, in der bekanntesten Zeitung der Bewegung „Die Freundschaft“ von einem Autor mit dem Namen Kurt, welcher schrieb: „Männer brauchen wir, ganze Männer. Weibliche Männer taugen nicht zu Kampf und Streit.“17 Ein relevanter Teil der Community wurde so als „unbrauchbar“ für die Gesellschaft, aber auch für die Realisierung der Befreiung diskreditiert. Dieses hypermaskuline Bild, im Zusammenspiel von Militarisierung und „Kameradschaften“ nutzen auch die Nationalsozialisten, um „verweiblichte Männer und Homosexuelle aus der „Volksgemeinschaft“ auszugrenzen. In der Zeit unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg wurde dafür mithilfe der Dolchstoßlegende, welche auch einen angeblichen Verrat der Homosexuellen Soldaten am Vaterland beinhaltete, die Grundlage gelegt. So behauptete etwa der konservative Journalist Herbert Adolf Preiss, „entartete sexuelle Praktiken hätten zu der Schwächung der Armee beigetragen.“18

Während sich diese Entwicklungen in Deutschland vollzogen, kam es im ehemaligen Entente-Gegnerland Russland zu einer völlig gegenteiligen Entwicklung, welche auch in der deutschen Homosexuellenbewegung rezipiert wurde. In Russland wurde die Monarchie (die kurzweilige Übergangsregierung ausgeklammert) nicht von einer bürgerlich-demokratischen Ordnung wie in Deutschland abgelöst, sondern von einem revolutionären Arbeiter:innenstaat. Magnus Hirschfeld schrieb dazu: „Je unzweifelhafter der Sieg der Revolution wurde, je weitere Fortschritte der Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung machte, umso deutlicher dämmerten Rußland die Umrisse der neuen Moral auf.“19 Im Machtwechsel zwischen Bourgeoisie und Proletariat sah Hirschfeld die Möglichkeit für die Verwirklichung der sexuellen Emanzipation. Tatsächlich war die Sowjetunion, das erste Land der Welt, welches die Homosexualität entkriminalisierte, während in der Weimarer Republik die Legende vom Dolchstoß der Homosexuellen verbreitet wurde und die Kriminalisierung anhielt. 

Doch es gilt festzustellen, dass dies vor allem eine judikative Errungenschaft war und die wirkliche Emanzipation von der weiteren Entwicklung der Sowjetunion abhing, welche wiederum abhängig war von den weltweiten Entwicklungen. Die Emanzipation konnte eben nicht nur aus juristischen Schritten erfolgen, sondern war konkret abhängig vom Stand der sozialen Bewegung, der Forschung und insbesondere der materiellen Verhältnisse. Was nützt einem die Freiheit zu lieben ohne freie Zeit zum Lieben? So könnte man es auch noch heute zusammenfassen. Die Realität für Homosexuelle in der Sowjetunion war geprägt von den Bürgerkriegs- und Nachkriegsjahren, deren Krisen und Gewalt die sexuelle Entfaltung hemmten. 

Ab 1934 wurden Schwule und Lesben in der Sowjetunion wieder vom Strafrecht bedroht, infolge der Bürokratisierung der Sowjetunion und der Entmachtung der Räte durch den stalinistischen Thermidor. Durch diesen Prozess wurde auch die Prostitution wieder kriminalisiert, die Frauensektion im Zentralkomitee der Partei aufgelöst, Abtreibungen verboten und ein traditionelles Familienbild gestärkt, um die Geburtenrate zu heben und soziale Fragen infolge der Mangelwirtschaft zu lösen. Leo Trotzki bezeichnete diese Verbotspolitik als „Philosophie eines Pfaffen, der zudem noch die Macht des Gendarmen ausübt!“20

Neben der russischen Revolution, ist ein weiteres beinahe vergessenes Beispiel für eine frühe „liberale Sexualgesetzgebung“ die Räterepublik in Ungarn, welche sich zwar nur 133 Tage behauptete, aber auf dem Gebiet der Sexualgesetzgebung dem russischen Muster folgte. „So wurden die ‚wilden Ehen‘ der Zivilehe gleichgestellt, der Unterschied zwischen ehelicher und unehelicher Geburt abgeschafft, Eheschließung und Scheidung erleichtert“, konstatierte Hirschfeld.21

Hirschfeld zu Folge entstand eine neue Geschlechtermoral nur dort, wo sich die Bedingungen der Gesellschaft fundamental gewandelt haben, was eben nur in Russland der Fall war.22 „So blieb es der Generation des Weltkrieges im Zentrum wie im Westen Europas versagt, eine revolutionäre Erotik zu erleben und auch die erotische Revolution war und ist hier ein Sammelbegriff sexualethischer Forderungen, die auf dem Wege der Evolution langsam der Verwirklichung entgegenreifen.“23

Auch wenn Deutschland nach dem Krieg nicht sozialistisch wurde, haben sich die Moralvorstellungen verändert. Für Hirschfeld war der Krieg eine kollektiv demoralisierende Katastrophe, welche aber gleichzeitig auch Pforten zu einer neuen, freieren Sexualmoral aufgestoßen habe.24 In Deutschland entwickelte sich die Sexualforschung in den vier Kriegsjahren rasant.25 Ein Indiz für sich verändernde Moralvorstellungen ist, dass die Scheidungen von 13 Tausend im Jahr 1918 auf 36 Tausend im Jahr 1920 anstiegen. „In den Familien geht der Krieg weiter. […] Das Schießen haben die Männer ja gelernt“, lässt Leonhard Frank eine Frau in der 1926 erschienen Novelle „Karl und Anna“ sagen. Nicht zu vergessen ist auch, dass in den Nachkriegsjahren im Zuge der Kriegserfahrungen eine wahrnehmbare lesbische Subkultur entstand, einhergehend mit der Frauenrechtsbewegung. Der „Freundschaftsbund für Menschenrechte“ war eine der Organisationen dieser Bewegung, die die Frage der Legalisierung mit der Frauenbewegung zusammenbrachte. Ebenso erhielten homosexuelle Vereine und Organisationen nach dem Ersten Weltkrieg durchaus Zulauf.

Die Weimarer Republik kann man in Bezug auf die Entwicklungen in den Sexual- und Geschlechtervorstellungen mit einer Kugel, die an der Spitze einer Pyramide steht, vergleichen. Nur ein geringer Anstoß kann sie nach links oder rechts hinabrollen lassen. In der Mitte wird sie nicht lange standhalten können. Der Erste Weltkrieg hat den Legalisierungsbestrebungen für einige Jahre den Wind aus den Segeln genommen und das Bild von Männlichkeit nachhaltig negativ geprägt. Darauffolgende Ansätze zur Legalisierung, die auf der Ablehnung femininer Männer und trans Personen basierten und sich damit an konservative Moralvorstellungen anpassten, scheiterten. Nach der Zustimmung zum Ersten Weltkrieg, der Zehntausenden Homosexuellen das Leben kostete, verweigerten sich die Arbeiter:innenparteien dann etwa 15 Jahre später auch dem gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus, dessen Gefahr sie unterschätzten. So gelang es ihnen nicht, die Entkriminalisierung der Homosexualität und die Verteidigung queeren Lebens zu verwirklichen. Die Allianz, welche vor dem Krieg bestand, verwirklichte ihre Ziele somit nicht. 

Als queere und feministische Bewegung müssen wir uns daher in den besten Traditionen der Arbeiter:innenbewegung konsequent gegen den Imperialismus im eigenen Land und international stellen, Kriegstreiberei ist eine Gefahr für uns und keine Verteidigung unserer Rechte. Eine Emanzipation durch die Integration in dieses System ist, wie wir anhand der geschilderten Erfahrungen sehen können, nicht möglich. In Zeiten des Rechtsrucks und des aufsteigenden Militarismus braucht es eine revolutionäre sozialistische Perspektive, wir sind nur frei, wenn alle von uns frei sind. Der Kapitalismus hat mit der Entwicklung der Produktivkräfte zwar die Voraussetzung für eine Emanzipation des Menschen, den Übertritt in die Sphäre der Freiheit geschaffen; dieser Übergang kann aber nicht im Rahmen des Kapitalismus geschehen. Denn ihm sind zahlreiche Zwänge inhärent, die die freie Auslebung von menschlichen Vorlieben und Bedürfnissen sowie die bewusste Kontrolle über die Produktion verhindern. Nur in einer sozialistischen Gesellschaft können wir die materiellen Ursprünge von Krieg und Unterdrückung aufheben. Alexandra Kollontai fasst dies folgendermaßen zusammen: „Moderne Liebe sündigt immer, weil sie die Gedanken und Gefühle von liebenden Herzen aufnimmt und das liebende Paar vom Kollektiv isoliert. In der zukünftigen Gesellschaft wird eine solche Trennung nicht nur überflüssig, sondern auch gedanklich unvorstellbar.“

Fußnoten

  1. 1. Magnus Hirschfeld: Sittengeschichte des Weltkriegs, Leipzig 1930, S. 375.

  2. 2. Jason Crouthamel : Sexuality, Sexual Relations, Homosexuality. In: 1914-1918 Online Internabonal Encylopedia of the First World War, 2014.
  3. 3.
    Untffz Nitsche, „Wir armen Männer!“, in: Der Flieger vom 23.6.1918, PHD 18/6, Bundesarchiv – Militärarchiv, Freiburg/Br.

  4. 4. Vgl. Eduard Bernstein: Die Beurtheilung des widernormalen Geschlechtsverkehrs, In: Die neue Zeit, 1894/95, 13. Jahrg., Band 2, S. 228-233.

  5. 5. Reichstagsprotokolle, 1897/98,1, 16. Sitzung, S.410.

  6. 6. Jahresbericht 1904-1905, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität, Jahrgang 7, Band 2, 1905. S.952.

  7. 7. Vgl. Crouthamel, Jason: Sexuality, Sexual Relations, Homosexuality. In: 1914-1918 Online International Encylopedia of the First World War, 2014.

  8. 8. Das W.-.h. Komitee zur Kriegszeit, in: Vierteljahresberichte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees während der Kriegszeit, Band 15, April 1915. S.53.

  9. 9. Hirschfeld: Sittengeschichte, S. 53.

  10. 10. Ebd., S. 52.

  11. 11. Ebd., S. 288.

  12. 12. Karl Liebknecht: Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin 1952, S.296-301.

  13. 13. Das W.-.h. Komitee zur Kriegszeit, in: Vierteljahresberichte des Wissenschanlich-humanitären Komitees während der Kriegszeit, Band 15, April 1915. S. 4.

  14. 14. Ebd., S. 23.

  15. 15. Ebd., S. 35.

  16. 16. Ebd., S. 34.

  17. 17. Kurt, „Manneswürde“, in: Die Freundschaft, 2 (1920) 16, S.1.

  18. 18. Vgl. Herbert Adolf Preiss: Geschlechtliche Grausamkeiten liebestoller Menschen, Frankfurt/M. 1921, S. 6.

  19. 19. Hirschfeld: Sittengeschichte, S. 376.

  20. 20. Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?, 1936, Mehring Verlag. S. 173.

  21. 21. Hirschfeld: Sittengeschichte, S. 343-344.

  22. 22. Ebd., S. 340-41

  23. 23. Ebd., S. 341

  24. 24. Richard, Kühl: Der Große Krieg der Triebe: Die deutsche Sexualwissenschaft und der Erste Weltkrieg, Bielefeld 2022. S. 10.

  25. 25. Ebd., S. 60.

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