Die heilige Johanna der Schlachthöfe und die Zeitlosigkeit
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Im Berliner Ensemble läuft die neue Inszenierung von Brechts Klassiker an. Worauf dürfen wir hoffen und womit werden wir enttäuscht?
Brecht wusste wie kaum ein anderer um die bewusstseinsverändernde Wirkung des Theaters. Kunst ist nicht nur ästhetisches Handwerk, schöpferisches kulturelles Handeln oder was auch immer; sie ist in jedem Fall auch Werkzeug für gesellschaftliche Transformation.
Mit der Episierung des Theaters wollte Brecht an den menschlichen Verstand appellieren. Sein Ziel war es immer, dass die Stücke und ihre Darstellungsart Zuschauer:innen in politisch Denkende und Handelnde verwandeln. Also sie dazu bringen, Partei zu ergreifen, statt sich nur in das Gezeigte einzufühlen oder damit zu identifizieren. Dafür verwendete er verschiedene Methoden, wie beispielsweise Verfremdungseffekte.
Verfremdungseffekte sollen gesellschaftlich veränderbare Vorgänge von der Wahrnehmung als Vertrautes befreien, das heißt, das Theater soll einen „fremden Blick“ auf Bekanntes hervorrufen. Das gelingt mithilfe der materialistischen Dialektik als Methode: alles muss so begriffen werden, dass der Mensch eingreifen kann, auch der Mensch muss als Prozess verstanden werden.
Ein weiteres wichtiges Mittel ist das Durchbrechen der vierten Wand. Piscator, mit dem Brecht das epische Theater entwickelte, beschrieb die Bühne zu Beginn des 20. Jahrhunderts als “Guckkasten”, und kritisierte somit, die geschaffene und streng bewahrte Illusion vor der Bühne würden sich keine Zuschauer:innen befinden. Mit dem Durchbrechen der vierten Wand soll die Trennung zwischen Mensch und Welt, bzw. die Grenzlinie zwischen Kunst und Nicht-Kunst aufgehoben werden.
Eine Inszenierung von einem Brecht Stück muss sich also immer auch vor diesen konzeptionellen Ansprüchen verantworten, sie weiterentwickeln und bewusst mit ihnen umgehen.
Die heilige Johanna der Schlachthöfe ist angelehnt an die historische Wirklichkeit der Arbeitslosenbewegung im Chicago der 1930er Jahre. Der Oberkapitalist Pierpont Mauler ergreift jede Gelegenheit, um die Konkurrenz auszuschalten und sich ein Monopol aufzubauen, was zu Lasten der Arbeiter:innen und Armen geht. Johanna, die zunächst Teil der religiösen Gruppe der schwarzen Strohhüte ist, versucht durch Wohltätigkeit und Besinnung auf Gott den Armen zu helfen. Doch dabei gerät sie schnell an die Grenzen der Religion und trifft auf kommunistische Revolutionär:innen, die einen Generalstreik planen.
Das Original von Brecht ist ein unmissverständlicher Abgesang auf den Kapitalismus, der in seiner krisenhaftesten und zerstörerischsten Form gezeigt wird. So heißt es bspw. gegen Ende: “Die aber unten sind, werden unten gehalten. Damit die oben sind, oben bleiben. Und der Oberen Niedrigkeit ist ohne Maß. Und auch wenn sie besser werden, so hülfe es doch nichts, denn ohnegleichen ist das System, das sie gemacht haben: Ausbeutung und Unordnung, tierisch und also Unverständlich.” Genauso unmissverständlich wird auch die Existenz Gottes und der Sinn des Glaubens negiert. Diese DNA wird natürlich auch im Berliner Ensemble bewahrt.
Die Inszenierung vom Regisseur Dušan David Pařízek spielt auf einer minimalistischen Bühne, die zur Hälfte an den Wänden und auf dem Boden mit Holz verkleidet ist. Mit einem OH-Projektor werden Kapitelüberschriften, sowie weitere Projektionen auf die Bühne geworfen, was durch die entstehenden Schatten im Spiel schöne visuelle Effekt erzeugt. Die Darsteller:innen spielen hervorragend, allen voran Stefanie Reinsperger als extatischer Pierpont Mauler mit österreichischem Akzent ist beeindruckend und unterhaltsam.
Was der Inszenierung nicht gelingt, ist es, die Zuschauer:innen in ihrer aktuellen Lebenswelt neu zu verorten. Zu wenig flexibel wird der Stoff dafür gehandhabt. Die rolle die Religion heutzutage bei der Kontrolle der hiesigen Arbeiter:innenklasse spielt ist sicherlich nicht mehr so groß. Jedoch könnte man beispielsweise die schwarzen Strohhüte auch mit NGO´s vergleichen, die zum Teil das Potential von politischem Widerstand senken und in kontrollierte und ungefährliche Bahnen lenken.
Ebenfalls ist die Inszenierung eher unjugendlich und dürfte eher ein Publikum ansprechen, welches schon mit den Werken Brechts vertraut ist. Das Verhältnis zwischen Publikum und Darstellung scheint nicht genug ausgelotet worden, weshalb die Frage ist, wie Brecht eben jene erreicht, die sich gerade zu Recht fragen, wie man eine Gesellschaft schaffen kann, die nicht von Klimakatastrophe, Rechtsruck und Ausbeutung betroffen ist. Ja, Brecht ist zeitlos, mindestens solange bis der Kapitalismus überwunden ist, aber wenn man ihn nicht auf aktuelle Dynamiken und Prozesse anpasst und mit diesen ins Spielen kommt, dann wird die geplante Wirkung nicht zureichend entfaltet.
Im Stück gibt es einige positive Gegenbeispiele wie etwa die Pause. Dort werden drei kleine Akte aufgeführt. In einem wird etwa die Frage der Gewalt thematisiert. So heißt es darin unter anderem sinngemäß; die Erhebung der Arbeiter:innenklasse erfordert Gewalt, aber diese Gewalt ist ein Kampf und kein Krieg. Aber sie kann Krieg werden.
Etwas konkreter wird es in einem Musikstück, wo in der Strophe Bezug auf die Bundestagswahlen genommen wird. Im Refrain heißt es dann immer wieder sarkastisch überspitzt: “Das Kapital lässt euch die Wahl, das Kapital lässt euch die Wahl”.
Während Brecht in seiner Fassung eigentlich wollte, dass das Stück damit endet, dass das Fundament der Bühne, welches aus einer dunklen Masse von Arbeiter:innen, die die Bühne tragen besteht sichtbar wird, endet die Inszenierung im Berliner Ensemble mit den Worten von Pierpont Mauler: “Und es zieht mich zum Geschäft.”
Wie auch in Brechts Werk gilt es für die Zuschauer:innen nun zu elaborieren, wie die Verhältnisse geändert werden können. Man könnte nach Brecht sagen: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Nun zumindest einige Fragen hat diese Inszenierung aber doch erfolgreich beantwortet. Auch wenn der Stoff noch viel mehr Potential bieten könnte, lohnt es sich dafür das Theater zu besuchen.