Die Erfahrung des Aufstandes: Gestern Chile – heute USA
Eine Polizeistation brennt, Steine fliegen, Tränengas hüllt die Straßen in Nebel. Diese Szenen aus den USA haben wir im Oktober und November schon in Chile gesehen. Dort hat die Bevölkerung Notfallstrukturen geschaffen, um die Proteste und die Selbstverteidigung zu organisieren. Ein Rückblick auf den Aufstand.
Während US-Präsident Trump sich in seinem Bunker verschanzt und mit dem Militär droht, weiten sich die Proteste auf das ganze Land aus. In einer Welt, in der die Jugendlichen und Arbeiter*innen nach 30 Jahren neoliberaler Zerstörung prekäre Jobs, Arbeitslosigkeit und Polizeigewalt erfahren, häufen sich die Aufstände: Hong Kong, Iran, Irak, Libanon, Sudan, Algerien, Frankreich, Haiti, Ecuador, Chile und jetzt die USA. In keinem dieser Länder konnte das Regime bisher gestürzt und durch eine Regierung der Arbeiter*innen ersetzt werden.
Ein Aufstand kann die Herrschenden zwar das Fürchten lernen, aber bietet noch keine alternative Machtoption. In dieser Hinsicht waren die Erfahrungen aus Chile Ende 2019 am weitesten fortgeschritten: In der nordchilenischen Bergbaustadt Antofagasta haben die Arbeiter*innen und Jugendlichen ein Notstands- und Schutzkomitee ins Leben gerufen, um die Proteste und die Selbstverteidigung gegen die Polizeigewalt zu organisieren.
Nach den beiden Generalstreiks im Oktober und November 2019 gab es noch bis in den Februar hinein regelmäßig Proteste und Straßenkämpfe zwischen der Polizei und den Jugendlichen der ärmeren Viertel. Die Regierung nutzte die Corona-Krise, um eine drastische Ausgangssperre zu verhängen und so die Proteste einzudämmen.
Doch Corona verschärft auch die Widersprüche des Neoliberalismus: Es wird kaum getestet, weil in dem privatisierten Gesundheitssystem die teuren Test von den Patient*innen gezahlt werden müssen. Und während Unternehmen wie die Fluglinie LATAM Millionenausschüttungen an ihre Aktionäre verteilen, kündigt sie massenhafte Entlassungen an.
In den letzten Wochen kam es in der unter Quarantäne stehenden Hauptstadt Santiago erneut zu Straßenschlachten mit der Polizei und auch im Norden des Landes traten Minenarbeiter*innen mit der Forderung nach Brot, Gesundheit und Arbeit in den Streik. Die Wut kann sich jederzeit wieder entladen – und auf den Erfahrungen des Notstand- und Schutzkomitees aufbauen.
Folgend spiegeln wir eine Reportage über das Komitee und die Situation in Antofagasta, die zuerst am 8. Februar 2020 in der Jungen Welt erschien. Reportage von Simon Zamora Martin und Marius R. Bilder: Simon Zamora Martin.
Die blutige Spur des Kupfers
Ein 31-jähriger Mann wird bei Protesten in Antofagasta im Norden Chiles festgenommen. »El Gato« wird er genannt, der Kater. Unauffällig schlich er sich durch das Chaos des Straßenkampfes. Seit Mitte Oktober gibt es täglich Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der »Primera línea«, den zumeist Jugendlichen, die in der »ersten Reihe« den Kampf suchen. Steine fliegen, der beißende Geruch des Tränengases verteilt sich über mehrere Blocks. An diesem 17. November ist Gato offenbar nicht unauffällig genug. Er wird gefasst, und was die Polizei auf seinem beschlagnahmten Handy findet, wird ihr nicht gefallen.
Die soziale Explosion
Ein Monat zuvor: Am 14. Oktober stürmen Schüler aus Protest gegen eine minimale Preiserhöhung die Einlässe zur U-Bahn von Santiago. Die anschließenden Verhaftungen und das Militär auf den Straßen fachen die Wut der Massen erst richtig an. Präsident Sebastián Piñera verkündet am 20. Oktober: »Wir sind im Krieg«. Im Krieg gegen die eigene Bevölkerung.
Es ist eine soziale Explosion mit Millionen Teilnehmenden und zwei Generalstreiks. Eine ganze Gesellschaft staunt ungläubig und mit neuem Selbstbewusstsein: »Chile despertó« – »Chile ist erwacht«. Die Fahrpreiserhöhung von 30 Pesos, umgerechnet gerade mal vier Cent, kommentiert sie mit: »Es sind nicht die 30 Pesos – es sind die 30 Jahre«. So lange hat nach der Diktatur Augusto Pinochets der »demokratische« Neoliberalismus das Land fast vollständig privatisiert und einige wenige Besitzende unfassbar reich gemacht.
Es keimen Hoffnung und Solidarität, wie im 350.000-Einwohner zählenden Antofagasta, wo sich mit dem Aufstand ein »Notstands- und Schutzkomitee« gründet. Es ist eine außergewöhnliche Form politischer Selbstbestimmung und gegenseitiger Hilfe. Hier treffen sich Nachbarschaften, Jugendliche, Arbeiter*innen und Aktivist*innen. Sie diskutieren politische Forderungen, organisieren Streiks, medizinische Versorgung sowie Familienfeste mit Clowns, Theater und Konzerten. In vielen Städten gibt es solche Initiativen, aber in Antofagasta beteiligen sich auch die mächtige Hafengewerkschaft sowie Minenarbeiter*innen. Am 9. November bereitet das Komitee in einer Versammlung von 500 Teilnehmer*innen den drei Tage später folgenden Generalstreik vor. Sie beschließen zu kämpfen, bis zum Fall der Regierung, mit dem Ziel, eine freie und souveräne verfassunggebende Versammlung für Chile einzuberufen.
Im Schatten der Globalisierung
Antofagasta liegt am Pazifik, in der Atacama-Wüste, der trockensten Region der Welt. Niemand käme auf die Idee, hier eine Stadt zu gründen, gäbe es keine Bodenschätze. Vom Hafen bis zu den Kupferminen Escondida oder Chuquicamata, den größten der Welt, sind es drei Autostunden ins Landesinnere. Eine Fahrt durch eine Mondlandschaft. Nur entlang der Wasserpipelines der Minen wachsen ein paar kümmerliche Bäumchen, davon abgesehen nicht mal ein Grashalm.
Auf einem Parkplatz an der Zufahrtsstraße zu Tor vier der Chuquicamata-Mine sitzt die 63-jährige María in einem ausrangierten Bus ohne Führerhäuschen. Das Gelände ist halb Industriebrache, halb Schrottplatz. Auf der anderen Straßenseite liegt ein kaputter Erzlaster. Allein die Reifen sind 2,5 Meter hoch, das gesamte Gefährt fünf Meter.
Auf solchen Lkw wird das Kupfererz aus den Minen abtransportiert, dann konzentriert und weiter auf Schienen in den Hafen von Antofagasta gebracht. Dort wird es für den Weltmarkt umgeschlagen, überwiegend geht es nach China, um Elektrogeräte herzustellen. 20 Prozentdes weltweiten Kupfers stammen aus Chile. Dies machte 2017 mit 35 Milliarden US-Dollar fast die Hälfte der Exporteinnahmen des Landes aus.
Die Konzerne und eine dünne Schicht von hohen Verwaltungsangestellten und Facharbeitern profitieren von der Globalisierung. Der Großteil der Bevölkerung muss zusehen, wo er bleibt, so wie María, die in ihrem Bus die Trucker mit Getränken und Fastfood bewirtet. Ihr Restaurant ist mit nicht viel mehr als einem alten Gasherd, Kühlschrank und Tisch ausgestattet. Für umgerechnet 1,70 Euro serviert sie Completos, eine Art chilenischer Hotdog aus Brot, Würstchen, Tomate, Avocado und Mayonnaise.
María wirkt müde, ihr Körper von jahrzehntelanger schwerer Arbeit gebrechlich. Mehrmals wurde sie mit ihrem Foodtruck von den Behörden vertrieben, aber Chiles neues Selbstbewusstsein ist auch bei ihr angekommen: »Die Wut entlädt sich jetzt auf den Straßen. »Hoffentlich ändert sich was!«
Ein Land wird kaputtprivatisiert
Die Wut über die Ungerechtigkeit hat viele Menschen seit Oktober geeint: Ein Ingenieurstudium kostet im Jahr schon mal 7.000 Euro – bei einem monatlichen Mindestlohn von 343 Euro. Es gibt Großgrundbesitzer, die für den internationalen Handel produzieren und massig Wasser auf ihre Avocadofelder pumpen, während das Land austrocknet. Und Oligarchen wie die Familie des Präsidenten Piñera, der laut Forbes 2,8 Milliarden US-Dollar schwer ist. Sein Bruder José war unter Pinochet für die Privatisierung der Renten verantwortlich.
Alle Angestellten müssen in private Rentenfonds einzahlen, die für Investitionen genutzt und manchmal auch verspekuliert werden. Diese riesige Finanzspritze hat dem chilenischen Kapital lange ein hohes Wirtschaftswachstum beschert. Dafür liegt das durchschnittliche Rentenniveau bei gerade mal 40 Prozent. María bekommt 100.000 Pesos monatlich, etwa 115 Euro.
Die Bevölkerung wehrt sich nun, so wie im Notstands- und Schutzkomitee in Antofagasta: »Im Komitee sind wir besser vernetzt und organisiert als bisher und können uns auf komplexere politische Situationen vorbereiten«, sagt dessen Mitgründerin Patricia Romo. Die 32-jährige ist Vorsitzende der örtlichen Lehrer*innengewerkschaft. Zu Beginn der Proteste bilden sich Arbeitsgruppen: Manche kontaktieren Medien, andere kümmern sich um Essen oder vermitteln Anwälte. Pflegekräfte und Minenarbeiter*innen rücken mit Schild und Helm aus, um die Verletzten von der Straße zu holen und ins Feldlazarett in der besetzten Uni zu bringen.
Wie wichtig die medizinische und juristische Unterstützung für die Demonstrant*innen ist, zeigen die Zahlen: Seit Beginn der Proteste bis Ende 2019 gab es mindestens 25 Tote. Weitere 400 Personen verloren durch Gummigeschosse der Polizei ihr Augenlicht. 3.000 Menschen sind bis heute ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis. Vielfach wurden Polizisten beschuldigt, Gefangene vergewaltigt zu haben. Dies gab den Anlass für die Tanzperformance »El violador eres tú« – »Der Vergewaltiger bist du«, die explizit Polizei, Staat und Piñera anklagt. Die Performance hat mittlerweile weltweit Nachahmer*innen gefunden.
Beim Generalstreik am 12. November setzt die Polizei in Antofagasta vereinzelt scharfe Munition ein. An diesem Tag brennt in der Innenstadt ein Laden für Polizeiausrüstung komplett nieder, auch die Exekutivbehörde ist in Rauch gehüllt – angezündet von einer wütenden Menge, die sich der Stadt bemächtigt.
Mitten in den Kämpfen zwischen Polizei und Primera línea steht der anfangs erwähnte Gato und filmt mit seiner Handykamera, bis er festgenommen wird. Es wird ein langes Verhör, und, wenn man ihm glauben darf, ein schmerzhaftes. Er verlässt die Polizeiwache mit gebrochener Hand und ohne Telefon. Vor dem Untersuchungsrichter wirft er den Beamten Folter und Raub vor.
Der Polizei muss mittlerweile klargeworden sein, wen sie bei sich sitzen hat. Gato ist der Künstlername eines Instagramers, im echten Leben heißt er Juan Francisco Vidal und verdingt sich als Essenslieferant. Ein typischer Job für Menschen in seinem Alter: Zahlreiche Roller schlängeln sich nachts durch die brennenden Barrikaden. Die scheinselbständigen Fahrer der Kurierdienste haben Hochkonjunktur.
Arbeitsverträge gibt es in Chile häufig nicht. Oder sie werden mit Subunternehmen ausgehandelt. So wie bei der Fastfoodverkäuferin María in Chuquicamata. Sie arbeitete lange Zeit in der Mine als Reinigungskraft, allerdings nicht beim Betreiber, der staatlichen Bergbaufirma Codelco mit 5.000 Beschäftigten, sondern bei einem der 500 privaten Subunternehmen mit insgesamt 12.000 Beschäftigten. Bis vor fünf Jahren, als sie mit dem Firmenbus verunglückte und sich Becken und Wirbelsäule brach. Das allein wäre schon Horror genug, aber die neoliberale Hölle Chiles macht es noch schlimmer.
Stundenlange Wartezeiten selbst für Notfälle sind in den öffentlichen Krankenhäusern Alltag. Krebspatienten müssen in Antofagasta oft ein Jahr auf eine Therapie warten, in einer Stadt, die wegen der Verschmutzung im Bergbau den traurigen Spitznamen »Tschernobyl Chiles«
führt. Um die Behandlungskosten in Privatkliniken zu finanzieren, verschulden sich viele Familien.
So auch María, die noch heute Schulden abbezahlt. Eine Entschädigung für ihren Unfall oder eine Invalidenrente hat sie nie gesehen. Sie hätte darauf Anspruch gehabt, aber von der US-Firma kam nichts, die Gelder hätte sie schon einklagen müssen. Damals wie heute wurde sie
mit ihren Verletzungen allein gelassen, weswegen sie nun Hotdogs zubereitet – solange ihr Körper mitmacht.
Das Erbe der Diktatur
Mitte November vereinbarte die Regierung mit dem Gewerkschaftsdachverband sowie der Kommunistischen Partei und der Linksformation Frente Amplio einen Waffenstillstand. Sie beschlossen, im April Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung einzuberufen, während die Streiks weitgehend eingestellt wurden.
Die aktuelle Verfassung stammt noch aus der Diktatur. Ob eine neue die Situation ändert? Zum Verfassungskonvent können nur Parteien gewählt werden, die bereits zugelassen sind, was die etablierten bevorzugt. Die Forderung nach unabhängigen Kandidat*innen, reservierten Sitzen für die indigene Bevölkerung und einer Geschlechterparität wurden vom Parlament abgelehnt. Ein Drittel der Delegierten kann gemeinsam ein Veto einlegen, und über internationale Verträge darf nicht abgestimmt werden. Der Internationale Währungsfonds und ausländische Kapitalgeber haben keine Einschränkungen zu befürchten.
Gegen diese Mächte kommen die aufgebrachten Jugendlichen der Primera línea allein nicht an. »Viele Menschen fragen sich, wie es weitergeht. Wie überzeugen wir die Minenarbeiter*innen, den Kampf aufzunehmen? Wie gewinnen wir strategische Sektoren der Arbeiter*innenklasse für einen Generalstreik?« fragt Komiteemitgründerin Romo.
Mit kleinen Erhöhungen bei Renten, Gesundheit und Mindestlohn sowie der neuen Verfassung versucht Piñera die Stimmung zu beruhigen, ohne den Status quo anzutasten. Die Demonstrationen will er mit Gesetzesverschärfungen, Gerichtsverfahren und Polizeieinsätzen zurückdrängen. Seit Januar können etwa das Stören des Straßenverkehrs oder Streiks in sensibler Infrastruktur mit bis zu fünf Jahren Gefängnis geahndet werden. Trotzdem kommt es vier Monate nach Beginn des Aufstandes weiter regelmäßig zu Straßenkämpfen. An solchen Auseinandersetzungen beteiligte sich auch Gato, bis zu diesem Tag im November, an dem er verhaftet wird. Sechs Tage später wird seine Leiche in seinem Haus gefunden. Nach Angaben der Polizei ist er auf ein Stromkabel getreten, mehr will diese momentan nicht dazu sagen. Freunde bezweifeln jedoch diese Version, da sie nicht die im Zimmer und auf dem Körper des Toten vorhandenen Blutspuren erklärt.
Vor der Beerdigung erreichen Freunde und Familie SMS-Nachrichten des Toten, quasi aus dem Jenseits. Kamen sie von der Polizei, die von Gato beschuldigt worden war, sein Handy geklaut zu haben? Mittlerweile möchte sich die Familie nicht mehr öffentlich zu dem Thema äußern.
Einen Beweis, dass die Polizei an seinem Tod beteiligt war, gibt es nicht. Doch die Ungereimtheiten lassen schlimme Erinnerungen an die Verfolgung von Indigenen und Gewerkschaftern aus Zeiten der Diktatur hochkommen. Die Regierung hat vorerst die Kontrolle wiedererlangt, aber mit einer neuen Streikwelle kann sich das schnell ändern, insbesondere wenn Arbeiter*innenkomitees nach dem Vorbild aus Antofagasta die Proteste anführen. Eine Abrechnung mit dem Erbe der Diktatur steht noch aus, wie auch die Demonstrant*innen in ihren Gesängen ankündigen: »¡Las balas que nos tiraron, les van a volver!« – »Die Kugeln, die ihr auf uns gefeuert habt, kommen zu euch zurück!«