Die Erdoğanisierung des türkischen Staates?
Nach dem gescheiterten Putschversuch beginnt in der Türkei eine Säuberungswelle in allen staatlichen Institutionen. Landesweit wurde ein dreimonatiger Ausnahmezustand verkündet. Der türkische Staatspräsident Erdoğan beabsichtigt, die vollständige Kontrolle über den Staat zu übernehmen.
Nach der Kapitulation der Putschist*innen verschärft sich die politische Situation in der Türkei enorm. Erdoğan greift mit all seinen Mitteln an. Betroffen davon ist nicht nur das Militär, sondern auch die staatlichen und öffentlichen Institutionen, die Presse, die Bevölkerung, das Parlament, die politische Opposition und die Arbeiter*innenklasse.
Ein Land im Ausnahmezustand
Nach einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates und des Kabinetts in Ankara verkündete der Staatspräsident Erdoğan in der Nacht zum Donnerstag einen dreimonatigen Ausnahmezustand im gesamten Land. Als nächsten Schritt hat das Parlament den Entschluss mit Stimmen der AKP und der MHP gebilligt.
Der Ausnahmezustand ermöglicht der türkischen Polizei einen größeren Handlungsspielraum wie eigenmächtige Durchsuchungen von Wohnungen, Wagen oder Gepäckstücken oder die Nutzung von Waffen bei Demonstrationen. Sogar Grundrechte der Bevölkerung und die Freiheit der Presse können eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Die internationalen Menschenrechte sollten nicht angetastet werden, jedoch hat der Vizekanzler Numan Kurtulmuş angekündigt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention außer Kraft gesetzt wird.
Der Ausnahmezustand bietet auch den Gouverneur*innen erweiterte Befugnisse. Sie können initiativ Versammlungen und Demonstrationen verbieten, Ausgangssperren verhängen und die Aktivitäten von Vereinen und Organisationen aussetzen. Sogar das Militär wird unter die Kontrolle des Gouverneursamtes gestellt. Angesichts der Tatsache, dass die Gouverneur*innen sich weitgehend unter direkter Kontrolle von Erdoğan befinden, kann man sich wohl vorstellen, wer das Ziel ist. Währenddessen terrorisieren seine Anhänger*innen die Straßen mit Autokorsos oder gewalttätigen Demonstrationen und Versammlungen. Die Moscheen dienen als Mobilisierungs- und Propagandaapparate und es gibt eine Hetzkampagne gegen die Kräfte, die sich nicht gegen den Putsch ausgesprochen haben.
Die ersten Maßnahmen gegen die Arbeiter*innenklasse sind schon längst in Kraft getreten. Vor 80 Tagen hatte ein Subunternehmen des Reinigungsdienstamts in Avcılar zahlreiche Arbeiter*innen entlassen, mit der Begründung, dass sie sich gewerkschaftlich organisiert haben. Gestern wurde ihr Zeltlager vor dem Gebäude unter dem Deckmantel des Ausnahmezustandes geräumt.
Ausnahmezustand: Aus Nordkurdistan in die Türkei
Schon vor dem Ausnahmezustand war das Leben in den kurdischen Gebieten erfüllt von Terror seitens des türkischen Staates: Massaker und massenhafte Festnahmen waren schon unter dem Deckmantel des “Kampfes gegen den Terror“ an der Tagesordnung. Der Ausnahmezustand ist in Nordkurdistan zum Alltag geworden.
Das war die Folge des Versuchs von Seiten der AKP-Regierung, das kurdischen Volk kampfunfähig zu machen und Kurdistan als innere Kolonie zu bewahren. Dennoch bedeuten die aktuellen Entwicklungen für die Ausgebeuteten und Unterdrückten mehr Repressionen und eine weitere Beschneidung ihrer demokratischen Rechte.
Die Belagerung mehrerer kurdischer Städte ist deshalb möglich gewesen, weil es im Westen des Landes keine echte Protestbewegung gab – sei es wegen des Chauvinismus oder der Einschüchterung. Der Ausnahmezustand im gesamten Land ist deshalb möglich, weil sich der kurdische Widerstand gegen Erdoğan nicht auf die türkischen Arbeiter*innenklasse ausweiten konnte. Während der Ausnahmezustand sich nun auf die türkischen Städte ausbreitet, kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Politik des Ausnahmezustands in den nordkurdischen Gebieten schon lange herrscht.
Die Säuberungswelle und die Transformation des Staates
Der Ausnahmezustand steht in direkter Verbindung zur Säuberungswelle. Das gibt auch Erdoğan offen zu: „Um alle Elemente, die in den Putschversuch verstrickt waren, entfernen zu können, ist der Ausnahmezustand notwendig“.
Wie sieht die bisherige Bilanz aus? Laut Erdoğan habe es seit dem Putschversuch 10.400 Festnahmen sowie Sicherheitsarrest für weitere 4.600 Menschen gegeben. Ein Drittel der gesamten Generalität wurde wegen des Verdachts auf Beteiligung am Putsch festgenommen. In allen staatlichen Institutionen gibt es eine massive Verhaftungs- und Entlassungswelle. Die nach dem Putschversuch deklarierte Säuberungswelle ist in vielen Institutionen schon vollzogen worden. Einige von ihnen sind das Ministerpräsidium, das Innenministerium, das Bildungsministerium, der Geheimdienst und das Präsidium für Religionsangelegenheiten.
Die größte Säuberung fand im Bildungsministerium statt. Mehr als 20.000 Personen sind entlassen worden und 21.000 Lehrer*innen wurde die Arbeitserlaubnis gezogen. Der Hochschulrat (YÖK) erklärte, dass insgesamt 1577 Dekane und Rektor*innen aller Universitäten zurücktreten sollten.
So wurden insgesamt mehr als 50.000 Beamt*innen entlassen. Der Jahresurlaub aller Staatsbeamt*innen ist widerrufen und die Ausreise ins Ausland ist für sie verboten. Zudem verloren 24 Rundfunksender ihre Lizenz.
35 Institutionen im Gesundheitswesen, 934 Schulen, 109 Studierendenheime, 104 Stiftungen, 1125 Vereine, 15 Universitäten und 19 Gewerkschaftszentralen wurden geschlossen. Sie stehen nach Ansicht Erdoğans in Verbindung mit Fethullah Gülen, ein im Exil lebender Prediger und ehemaliger Verbündeter von Erdoğan. Durch die zehnjährige Kollaboration mit der AKP-Regierung hatte die Gülen-Bewegung indie staatlichen und öffentlichen Institutionen unterwandern können. Als aber die Krise zwischen Erdoğan und Gülen ausbrach, ließ die Bewegung die „Geheimnisse“ der engen Zusammenarbeit und die Korruption der AKP in der Öffentlichkeit platzen. Seitdem gilt sie als Fethullahistische Terrororganisation (FETÖ). Es wird anhand der bisher veröffentlichten Dokumente sichtbar, dass der militärische Putschversuch in Koalition mit der Gülen-Bewegung zustande kam.
Um die Säuberungswelle gründlich durchzusetzen, braucht Erdoğan den Ausnahmezustand. Er bedeutet also das vollständige Durchregieren. Seine Verordnungen haben Gesetzeskraft, die Erlasse können nicht einmal vom Verfassungsgericht aufgehoben werden. Im Falle der „erfolgreichen“ Durchführung des Säuberungsprozesses wird zwar die eine reaktionäre Fraktion der Herrschenden (Gülen-Bewegung) geschwächt, doch daraus erfolgt keine Demokratisierung des Staates. Im Gegenteil wird das autokratische und arbeiter*innenfeindliche Regime Erdoğans gefestigt.
Perspektiven
Der Ausnahmezustand ist ein besonderer Angriff auf die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten. Die Arbeiter*innen und die Jugendlichen sind die Leidtragenden des Konfliktes zwischen Erdoğans und Gülen. Statt also zwischen diesen zwei reaktionären Polen auszuwählen, ist es notwendig, die unabhängige Mobilisierung gegen den Ausnahmezustand und die Bonapartisierung Erdoğans voranzutreiben.
Die Arbeiter*innenklasse in Frankreich hat durch ihre Streiks und die Entschlossenheit geschafft, Druck auf die Regierung zu üben, trotz des seit November letzten Jahres verhängten Ausnahmezustandes. Die Lösung der Situation besteht darin, einen Aktionsplan für die massenhafte Mobilisierungen aufzustellen, der die demokratischen Rechte der Kurd*innen, Alevit*innen und weiteren Unterdrückten verteidigt und gleichzeitig die arbeiter*innenfeindliche Politik Erdoğans und der Regierung konfrontiert. Wie lange wird Erdoğan die heutige Offensive im Dienste der Bonapartisierung aufrecht erhalten können? Auf diese Frage wird die Kampffähigkeit der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten antworten müssen.