Die deutsche Linke sucht ihren Kandidaten: Poutou oder Mélenchon?

22.04.2017, Lesezeit 10 Min.
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Der Wahlkampf um die französische Präsident*innenschaft kommt auch in der Linken in Deutschland an. Wen unterstützen? Mélenchon, der nach einer beeindruckenden Aufholjagd die Möglichkeit hat, in die Stichwahl zu kommen? Oder Poutou, ein revolutionärer Arbeiter, der aber „nur“ bei zwei Prozent liegt?

An diesem Sonntag ist es soweit: In Frankreich findet die erste Runde der Präsident*innenwahlen statt. Dort wird ermittelt, wer in die Stichwahl am 7. Mai kommt. Das deutsche Establishment hat seine jeweiligen Kandidat*innen schon gefunden: Während sich Martin Schulz noch vor wenigen Wochen mit dem abgeschlagenen Sozialisten Benoît Hamon traf, nimmt die konservative Bourgeoisie Abstand von „ihrem“ skandalgeplagten Kandidaten François Fillon und setzt alle Karten auf den sozialliberalen Emmanuel Macron. Die AfD hat mit Marine Le Pen ihre natürliche Kandidatin.

Auch in der Linken in Deutschland ist diese Wahl angekommen. Wenige Tage vor der Wahl findet eine intensive Debatte darüber statt, ob Jean-Luc Mélenchon (France insoumise, unbeugsames Frankreich, JLM) oder Philippe Poutou (Neue Antikapitalistische Partei, NPA) unterstützt werden soll.

Im Pro-Mélenchon-Lager gibt es zwei Hauptpositionierungen: Die einen finden Mélenchons sozialdemokratisches Programm als solches gut. Die anderen sehen die Schwächen und wollen aus taktischen Gründen trotzdem für ihn stimmen. Beginnen wir mit dem Programm.

Mélenchon: Nationalistischer und chauvinistischer Kandidat mit einem reformistischen Programm zur Erneuerung des französischen Kapitalismus

Mélenchon ist ein Sozialchauvinist im klassischen Sinne. Er unterstützt im Äußeren Kriege und will für die Arbeiter*innenschaft innerhalb Frankreichs soziale Verbesserungen. Sein Programm ist das der Schaffung einer „Sechsten Republik“, eine Erneuerung des gaullistischen Systems. Dabei soll das Präsidialsystem abgeschwächt werden.

Er fordert mehr Souveränität für Frankreich, die er vor allem durch die USA und Deutschland gefährdet sieht. Deshalb will er zwar aus der NATO aussteigen, gleichzeitig ist er aber für Militärinterventionen, solange sie von der UNO legitimiert werden. Außerdem will er mit seinem Plan A die EU-Verträge neu verhandeln, die Deutschland gegenüber Frankreich bevorzugen. Mélenchon sagt aber nicht deutlich, was passieren soll, wenn diese Verhandlungen scheitern. Doch er deutet dann den Plan B, also den „linken“ Ausstieg aus der EU an.

All dies dient der Erneuerung des in die Krise geratenen französischen Systems. Sein Programm dient direkt der Stärkung der Souveränität Frankreichs, ein Programm, das die Bourgeoisie durchaus aufnehmen kann. Mélenchon äußert sich daher auch chauvinistisch: „Die Migranten nehmen den französischen Arbeitern die Butter vom Brot.“ Zwar veranstaltete er auf einer Veranstaltung in Marseille zu Beginn seiner Kundgebung eine Schweigeminute für die im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten – doch am Ende derselbigen spielte er die französische Nationalhymne „La Marseillaise“.

In einem Beitrag von Julius Jamal in „Die Freiheitsliebe“ wird Mélenchon für seine „Schwachstellen, insbesondere mit Blick auf seinen Antirassismus und seine internationalistische Position“ kritisiert, aber gleichzeitig sein soziales Programm als „für einen Linksreformisten relativ weitgehend“ bewertet. Die Schlussfolgerung von Jamal: „Eine Präsidentschaft Mélenchons wäre ein großer Fortschritt für die Arbeitenden und bietet für die radikale Linke Möglichkeiten zum Aufbau.“

Zwar ist es richtig, dass die besonders radikalen Forderungen auf viel Unterstützung von Seiten der Arbeiter*innen treffen, die ihre Erfahrung mit der PS-Regierung von Hollande gemacht haben: So will er die Arbeitsmarktreform von 2016 zurücknehmen, 3,5 Millionen Arbeitsplätze schaffen, die 32-Stunden-Woche einführen und das Renteneintrittsalter auf 60 Jahre senken. Mélenchon hat damit ein klassisch reformistisches Programm, wie wir schon an anderer Stelle geschrieben haben. Und das bestätigt er auch selbst nochmal, wie er schon im Nachrichtenmagazin 20Minutes äußerte: „Ich bin kein Linksextremist, ich will die Wahl gewinnen“.

Wenn er diese Forderungen tatsächlich erreichen könnte, wäre das ein Fortschritt, keine Frage. Doch all diese Maßnahmen sind nicht mehr als leere Worte, da Mélenchon sie eben erreichen möchte, ohne die Großkapitalist*innen zu konfrontieren. Seine „Bürgerrevolution“ soll friedlich und schrittweise durch Verhandlungen mit den bürgerlichen Parteien für Parlamentsmehrheiten und im Rahmen der bürgerlichen Institutionen geschehen, ohne die Grundfesten des Kapitals anzutasten. Seine Strategie ist die, die Rechte der Arbeiter*innen innerhalb der kapitalistischen Ordnung auszubauen und diese zu reformieren.

Doch ohne einen radikalen Kampf gegen das bürgerliche System von Arbeiter*innen und Jugendlichen lassen sich diese Forderungen nicht erkämpfen. Selbst Angriffe der Herrschenden lassen sich auf seine Weise nicht zurückschlagen. Die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform zeigten eindrücklich, dass die Bourgeoisie freiwillig gar nichts hergibt, sondern es noch größere, unbefristete Mobilisierungen unserer Klasse bräuchte, die ihr wirklich weh tun, um Reformen zu erlangen. Genau diese Kämpfe unterstützte aber Mélenchon in der Praxis nicht, seine Front de Gauche verteidigte sogar den Notstand.

Das Problem ist also weniger, dass uns die sozialen Versprechungen JLMs nicht weit genug gehen. Sondern mehr, dass sie mit seinen Methoden unmöglich erreicht werden, die Illusionen in seine Methoden ihnen sogar im Wege stehen. Ein Bruch mit den sozialdemokratischen Methoden ist längst überfällig, eine unabhängige Organisierung der kämpferischsten Teile der Arbeiter*innenklasse als Klasse notwendig.

Aber taktisch muss doch Mélenchon unterstützt werden?

Eine andere Position des Pro-Mélenchon-Lagers wird unter anderem von der SAV und ihrer österreichischen Schwesterorganisation SLP vertreten. So schreibt beispielsweise SLP-Mitglied Fabian Lehr auf Facebook:

In der Analyse, was JLM programmatisch ist, sind wir uns mit den Sektionen des CWI (SLP in Österreich, SAV in Deutschland) einig. Wir behaupten nicht, dass das CWI tatsächlich einen sozialchauvinistischen Kandidaten gut findet, die Unterstützung für ihn ist eine Taktik. Reden wir also über diese Taktik.

Einerseits seien bei Mélenchon jetzt die Massen, auf die Einfluss genommen werden müsse. Jede*r wahrhaftige*r Revolutionär*in sei dort, wo die Massen sind. Außerdem sei Mélenchon ja wohl besser als nichts. Klar, das ist kein Sozialismus und das wissen wir ja auch. Aber er bringt immerhin ein paar Verbesserungen. Insofern sei die Stimme für Poutou verschenkt, denn er nähme Mélenchon wichtige Punkte, mit denen er wohl sicher in die Stichwahl käme. Statt einer Zerstückelung der Linken bräuchten wir eine Einheit aller Linken. Teilweise wird sogar sehr diffus behauptet, JLM hebe ein Bewusstsein und sorge für eine irgendwie geartete „Massenwirkung“ auf das Proletariat.

Welch fortschrittliche Wirkung auf das Massenbewusstsein soll denn die Unterstützung eines reformistischen Kandidaten haben, wenn zugleich ein antikapitalistischer Kandidat abgelehnt wird? Es gibt hier keinen bloß taktischen, sondern einen wesentlichen strategischen Unterschied zwischen dem Programm von JLM und Poutou.

Denn während Mélenchon die Arbeiter*innen als Mobilisierungsmasse für seinen Wahlkampf sieht, will Poutou, der selbst Arbeiter ist, die Selbstorganisierung der Arbeitenden und Unterdrückten. Mélenchon, als Berufspolitiker, ist Angehöriger einer politischen Kaste, er war 40 Jahre in der Sozialistischen Partei und Mitglied in der Regierung Jospin.

Die Reaktion auf die Schießerei am vergangenen Donnerstag im Pariser Stadtzentrum, bei der ein Polizist umkam und zu der sich der IS bekannte, macht den Klassenunterschied zwischen Mélenchon und Poutou deutlich. Poutou, der am darauffolgenden Tag die Kampagne mit einer Kundgebung vor mehr als 1.500 Anhänger*innen und einer antikapitalistischen und internationalistischen Botschaft beendete, macht den französischen Imperialismus verantwortlich:

„Die Wurzeln solcher Akte befinden sich nicht in den Moscheen oder den Geflüchtetenunterkünften. Sie liegen in der Kriegssituation im Inneren und Äußeren, die der (französische Staat) aufrecht erhält, in der Ungerechtigkeit und der ständigen Diskriminierung in den Vierteln, und in dem Aufstieg des staatlichen Rassismus und der staatlichen Islamfeindlichkeit.“

Mélenchon hingegen stellt sich auf die Seite desselben bürgerlichen Staates und erinnert indirekt daran, dass seine Partei mit für den undemokratischen Ausnahmezustand der Regierung gestimmt hat: „Die Gewalttäter haben nicht das letzte Wort gegen die Republikaner. Unsere Strategie ist die Devise des Vaterlandes: Liberté, Egalité, Fraternité“.

Poutou ist Ausdruck der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz, Mélenchon ist Ausdruck deren Beerdigung

Poutou ist ein Arbeiter, der sich nicht als Stellvertreter sieht, der den Arbeiter*innen sagt: „Ich mache das für euch.“ Sondern er ist jemand, der darauf setzt, dass die Arbeiter*innen, Jugendlichen, die Migrant*innen, die Studierenden, die Schüler*innen, die Frauen und LGBTI* ihre Kämpfe selbst führen und nicht auf das Parlament, den Staat oder andere elektorale Ämter vertrauen. Poutou ist in diesem Sinne Berufsrevolutionär.

Poutou ist insofern ein Ausdruck der Bewegung, die gegen die neoliberale Arbeitsmarktreform von Hollande im Frühjahr 2016 auf der Straße war. Es ist die Avantgarde aus Arbeiter*innen, Migrant*innen und Jugendlichen, die sich um die Kämpfe gegen den Notstand Ende 2015 und im Frühjahr gegen das „Loi El Khomri“ bildete und jetzt gemeinsam mit Poutou eine eigene Kampagne führt. Mélenchon ist in diesem Sinne der Ausdruck, warum diese Bewegung gescheitert ist. Das größte Hindernis war die Gewerkschaftsbürokratie, die es scheute, zum Generalstreik auszurufen. Dieser Bürokratie steht Mélenchon inhaltlich nahe.

Es ist darüber hinaus nicht richtig, dass die „Massen“ jetzt JLM folgen würden. Es stimmt, dass er viele Menschen zu seinen Veranstaltungen mobilisiert. Die Massen waren im Frühjahr 2016 auf den Straßen. Damals war Mélenchon auch da, jedoch hat er seine Präsenz nicht dazu genutzt, die Gewerkschaftsbürokratie zum Aufruf eines Generalstreiks zu zwingen und die Massen weiter zu radikalisieren.

Es ist nicht so, dass wir in allen Punkten mit Poutou übereinstimmen. Die NPA ist noch keine revolutionäre Partei. In der NPA gibt es Strömungen, die gegen eine eigene Kandidatur und für eine gemeinsame Front mit Mélenchon argumentierten. Unsere Genoss*innen der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (CCR) haben gegen diese selbstzerstörerische Logik argumentiert und dafür gekämpft, dass die Bewegung gegen die Arbeitsmarktreform vom Frühjahr 2016 einen Ausdruck findet – und zwar nicht in JLM, sondern in Poutou.

Es ist das progressive Element der Kampagne von Poutou in Zeiten des Rechtsrucks und des dauerhaften Notstandes in Frankreich, ein unabhängiges Programm der Arbeiter*innenklasse aufzustellen, das nicht auf den Staat vertraut, sondern auf die unabhängige Organisierung der Arbeitenden und Unterdrückten setzt. Mit diesem Programm war bereits während der Kampagne ein realer Dialog mit Arbeiter*innen und Jugendlichen aus den 2016er-Kämpfen möglich. Poutou füllte Hörsäle, in Fabriken ist er ein großes Thema.

In diesem Sinne schafft die Kampagne für Poutou einen Übergang und setzt bei den tatsächlich kämpfenden Teilen unserer Klasse und der Jugend an. Eine taktische Unterstützung für Mélenchon ist in der aktuellen Lage nur schematisch, es gibt keine konkreten Argumente, warum sie das Bewusstsein unserer Klasse heben sollte.

Für ein unabhängiges Programm, das auf die kommenden Kämpfe vorbereitet

Die Wahl ist nicht alles. Auch nach dem kommenden Sonntag und nach dem 7. Mai gehen die Angriffe des Staates und der Bosse gegen die Arbeiter*innen weiter. Die französische Polizei wird weiter ihr Unwesen in den Vororten der großen Städte gegen Migrant*innen treiben. Gegen die Angriffe der Bosse müssen sich die Arbeitenden selbst verteidigen. Gegen die Angriffe in den Vororten der großen Städte müssen sich die Migrant*innen mithilfe der anderen Sektoren verteidigen.

Dass ein reformistisches Projekt automatisch zur Hebung des Massenbewusstseins führt, ist widerlegt. Vielmehr trägt es bei, ein vorhandenes Bewusstsein in die Frustration zu führen. Wir kennen die Beispiele von Podemos im Spanischen Staat, das seit mehr als einem Jahr die wichtigsten Städte des Landes regiert, ohne grundlegende Veränderungen zu den konservativen und sozialdemokratischen Regierungen herbeigeführt zu haben. Aber vor allem haben wir diese Erfahrung in Griechenland erlebt, wo Syriza nichts gebracht hat als die Verwaltung der Austeritätspolitik.

Die Wahl ist also folgende: Für ein Programm stimmen, das eine Wahl gewinnen will, oder ein Programm, das auf die kommenden Kämpfe vorbereitet und den Klassenkampf gewinnen will. Wir brauchen kein weiteres Programm des Scheiterns, sondern wir entscheiden uns für ein Programm, das uns die Mittel gibt, den Sieg gegen den Kapitalismus zu ermöglichen.

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