Rodney: Wie Europa Afrika unterentwickelte
Warum sind die Länder Afrikas unterentwickelt? Und wie fing die imperialistische Ausplünderung des Kontinents an? War die Versklavung ein Produkt des Rassismus? Oder entstand der Rassismus vielmehr aus der wirtschaftlichen Ausbeutung afrikanischer Arbeitskraft? Der guyanische Antiimperialist Walter Rodney liefert materialistische Antworten auf diese Fragen.
Der britische Dub-Poet Linton Kwesi Johnson (LKJ) widmete ihm ein Lied, nachdem er 1980 bei einer Bombendetonation in seinem Auto starb. Und bis heute erinnert man sich an die als „Rodney Riots“ bekannten Proteste, die von den Studierenden der Universität der Westindischen Inseln ausgingen, nachdem die jamaikanische Regierung ihm wegen Reisen nach Kuba und in die Sowjetunion den Lehrstuhl entzog. Von wem die Rede ist: von keinem geringeren als dem antiimperialistischen Kämpfer Walter Rodney.
LKJ betonte bei seinen Konzerten oft die Bedeutung, die Rodneys Buch „How Europe underdeveloped Africa“ – der Titel der deutschen Fassung „Afrika. Die Geschichte einer Unterentwicklung“ ist nicht nur eine falsche Übersetzung, sondern eine krasse Verwässerung des politischen Inhalts für das Verständnis der aktuellen Lage des afrikanischen Kontinents.
Walter Rodney leistet darin nichts weniger als eine Untersuchung verschiedener afrikanischer Kulturen und Staaten vor der Zeit als sie von Sklavenhandel und imperialistischem Raubbau geprägt waren und beschreibt den jeweiligen Stand der Entwicklung. Exemplarisch werden dabei anhand einzelner Beispiele die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen von der Urgesellschaft bis zum Übergang in den Feudalismus und die Herausbildung von Staaten geschildert.
Wie entsteht Rassismus?
Dabei ist vor allem die Erklärung der Entstehung von Rassismus eine der Leistungen, die man Rodney im Besonderen anerkennen muss. Gegen ein auch noch heute verbreitetes Vorurteil schreibt er:
Gelegentlich besteht das Missverständnis, die Europäer hätten die Afrikaner aus rassistischen Gründen versklavt. Europäische Plantagen- und Bergwerksbesitzer versklavten die Afrikaner aber aus wirtschaftlichen Gründen, um ihre Arbeitskraft auszubeuten. Ohne die afrikanische Sklavenarbeit hätte man nicht auf kapitalistischer Grundlage die Neue Welt erschließen und dort unentwegt Reichtum erzeugen können. Erst als sie von dem, afrikanischen Arbeitskräftereservoir endgültig abhängig waren, mussten die Europäer im In- Und Ausland diese Ausbeutung rassistisch rechtfertigen. Um diese Ausbeutung abzusichern, folgte unweigerlich die gewaltsame Unterdrückung. Die Unterdrückung afrikanischer Völker aus rassistischen Gründen ging einher mit der Unterdrückung aus wirtschaftlichen Gründen, verstärkte sie und war von ihr bald nicht mehr zu unterscheiden.
Ebenso viel Aufwand wie bei der exakten Darstellung der Entwicklung des Konzerns Unilever zum Monopolisten auf Kosten Afrikas fällt auf die Widerlegung der Lügen des gemeinnützigen Kolonialismus, der für die Afrikaner*innen auch Vorteile gehabt hätte. All die Straßen, Schulen, Krankenhäuser, kurz alle infrastrukturellen Neuerungen, von deren Nutzen europäische Weltretter*innen auch heute noch erzählen, dienten entweder direkt dem Export der Rohstoffe oder waren nur Annehmlichkeiten für Weiße. Die Absurdität des Arguments vom Nutzen wird spätestens klar, wenn man liest, dass in einer britischen Kolonie annähernd britische Verhältnisse herrschten, natürlich nur für die Kolonisierenden, während für zigtausende Afrikaner*innen ein einziger Arzt zur Verfügung stand.
Dabei wird deutlich, dass die Unterentwicklung des afrikanischen Kontinents weder ein Ergebnis einer von der Rassenkunde konstruierten natürlichen Unterlegenheit der Afrikaner*innen noch ihrer Gesellschaften, sondern der bewussten Aktivität des Versklavungshandels und des Kolonialismus ist. Erst die massive Zerstörung und Aneignung von Wissen, die Monopolisierung von Rohstoffen und die Ausbeutung der Arbeitskraft der Schwarzen – kurz, die brutale Durchsetzung kapitalistischer und imperialistischer Interessen, der Interessen der europäischen Bourgeoisie – kann den aktuellen Status afrikanischer Staaten als „Entwicklungsländer“ erklären. Auch heute noch ist es die unheilige Allianz zwischen imperialistischen Staaten und heimischen Bourgeoisien, die für die Unterjochung der Halbkolonien zuständig sind. Im Angesicht des Kampfes gegen den Imperialismus war es für Rodney jedoch umso wichtiger zu betonen, dass der Kampf um Befreiung und Unabhängigkeit nur infolge der selbstständigen Politik der Ausgebeuteten und Unterdrückten stattfinden kann.
Nicht eine Volksfront, das heißt eine Koalition mit der eigenen Bourgeoisie, sondern die unabhängige Organisation des Proletariats in den Halbkolonien ist notwendig. Vor allem da den lokalen Bourgeoisien nicht selten die Aufgabe der Rolle der Kompradoren zukommt: Sie fungieren wie Agenten für Interessen imperialistischer Konzerne, um im Gegenzug von ihrer privilegierten Position und im Verbund mit ihnen zu profitieren. Nicht selten pflegen sie dabei einen nationalistischen Jargon in Ummantelung der „Unabhängigkeit“, um dann die Interessen des eigenen Volkes zu verraten. Bekannte Beispiele sind Blaise Compaoré oder Joseph Kasavubu, die jeweils in Zusammenarbeit mit dem französischen bzw. US-amerikanischen Imperialismus für die Ermordung antikolonialer Kämpfer*innen verantwortlich waren.
Ausbeutung des afrikanischen Kontinents
Rodney beschränkte sich jedoch nicht nur auf Darstellung der kolonialen Unterdrückung aus marxistischer Sicht, sondern untersuchte auch präzise die Rolle der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents im Zuge der Kapitalakkumulation für die europäischen Bourgeoisien. Rodney beschreibt unter anderem die vollständige Plünderung ganzer Länder, die zum Beispiel mit einer Monokultur überzogen wurden und auf Kosten der Bevölkerung für Hunger und Elend sorgten. Für die Kapitalinteressen lohnte sich dieser Raubzug, sie konnten einerseits den Warenexport erhöhen und andererseits auf billige, entrechtete Arbeitskräfte zurückgreifen. Auch Franz Fanon zeigte mit folgender Analogie die Bedeutung der imperialistischen Herrschaft auf:
Der Kolonialismus und der Imperialismus sind mit uns nicht quitt, wenn sie ihre Fahnen und ihre Polizeikräfte von unseren Territorien zurückgezogen haben. Jahrhundertelang haben sich die Kapitalisten in der unterentwickelten Welt wie wahre Kriegsverbrecher aufgeführt. Deportationen, Blutbäder, Zwangsarbeit, Versklavung sind die Hauptmittel der Kapitalisten zur Vermehrung ihrer Gold- und Diamantenreserven, ihrer Reichtümer und Machtpositionen gewesen. Vor kurzem hat der Nazismus ganz Europa in eine Kolonie verwandelt. Die Regierungen der europäischen Nationen haben Reparationen und die Rückerstattung der gestohlenen Reichtümer in Geld und natura verlangt: Kunstwerke, Bilder, Skulpturen, Glasfenster sind ihren Eigentümern zurückgegeben worden. (…)
Mit dem gleichen Recht sagen wir, daß die imperialistischen Staaten einen schwerwiegenden Fehler und eine unerhörte Ungerechtigkeit begingen, wenn sie es beim Abzug ihrer militärischen Kohorten von unserem Boden und bei der Abberufung ihrer Verwaltungsbeamten und Behörden bewenden ließen, deren Aufgabe es war, unsere Reichtümer zu entdecken, sie auszubeuten und nach den Mutterländern zu befördern.
Die moralische Wiedergutmachung, die uns mit der nationalen Unabhängigkeit zuteil wurde, blendet uns nicht; sie kann uns nicht ernähren. Der Reichtum der imperialistischen Länder ist auch unser Reichtum. Europa hat sich an dem Gold und den Rohstoffen der Kolonialländer unmäßig bereichert: aus Lateinamerika, China und Afrika, aus all diesen Kontinenten, denen Europa heute seinen Überfluss vor die Nase setzt, werden seit Jahrhunderten Gold und Erdöl, Seide und Baumwolle, Holz und exotische Produkte nach eben diesem Europa verfrachtet. Dieses Europa ist buchstäblich das Werk der Dritten Welt. Die Reichtümer, an denen es erstickt, sind den unterentwickelten Völkern gestohlen worden.
Über die koloniale Arbeitsteilung, die im Zuge der Ausbeutung stattfand, heißt es von Rodney:
Keine Industrie hieß aber keine Entwicklung technischer Fertigkeiten. Sogar im Bergbau achtete man darauf, dass die einträglichsten Arbeiten außerhalb Afrikas gemacht wurden. Man vergisst nur allzu leicht, dass erst die Arbeit den Waren durch die Umwandlung der bloßen Naturstoffe Wert verleiht. Obgleich beispielsweise Schmuckdiamanten einen Wert besitzen, der ihren praktischen Nutzen bei weitem übersteigt, ist es nicht einfach ihre Seltenheit, die sie wertvoll macht. Für das Aufsuchen der Diamanten war Arbeit erforderlich. Das ist eine gelernte Arbeit, die ein Geologe durchführt, und natürlich waren die Geologen Europäer. Die Förderung der Diamanten aber erfordert hauptsächlich körperliche Arbeit – und nur in dieser Phase erschienen Afrikaner aus Südafrika, Namibia, Angola, Tanganjika und Sierra Leone auf der Bildfläche. Danach musste für das Schneiden und Schleifen der Diamanten qualifizierte Arbeit geleistet werden, was zum geringen Teil von Weißen in Südafrika, zum größten Teil von Weißen in Brüssel und London gemacht wurde. Erst auf dem Tisch des gelernten Schleifers wurde der Diamant zu einem Schmuckstück und sein Wert stieg sprunghaft an. Es wurde zur Kolonialzeit keinem Afrikaner erlaubt, auch nur eine Spur dieser Fertigkeit zu erwerben.
Dabei beweist Rodney in einem Interview über die Situation in seinem Geburtsland Guyana mit scharfem Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen, dass er nicht nur klar die spezifisch rassistische Unterdrückung der Schwarzen und indischen Arbeiter*innen als Schwarze und Inder*innen, sondern auch ihre Ausbeutung und Unterdrückung als Arbeiter*innen erkennt und bekämpft, indem er zum gemeinsamen Kampf aufruft.
Im Angesicht der kommenden Aufgaben ist es eine Notwendigkeit, sich auf die Untersuchungen und Erkenntnisse Rodneys zurückzubesinnen. Wenn wir eine schlagkräftige Bewegung gegen Rassismus und die imperialistischen Interessen des deutschen Kapitals aufbauen wollen, müssen wir die heute verbreiteten falschen Ansichten über die Ursache und Funktion von Rassismus bekämpfen und ihr eine historisch-materialistische Analyse entgegenstellen.