Die Attentate von Paris und die Möglichkeit einer Anti-Kriegs-Bewegung

23.11.2015, Lesezeit 8 Min.
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Man kann sich kaum ein düstereres Panorama vorstellen: Die brutalen Attentate vom 13. November verbreiteten Angst und Schock. Gleichzeitig setzt Hollande im Inland die „totale Sicherheit" mit Anti-Terror-Einsätzen wie in Saint-Denis durch und in der Außenpolitik tut er so, als wäre er Bush. Doch wir müssen unter die Oberfläche schauen. Denn diese neue Etappe beinhaltet die Möglichkeit des Aufstiegs einer Bewegung gegen den imperialistischen Krieg und der Verteidigung der demokratischen Freiheiten.

Wir sind nicht im Januar

Die Ablehnung der Attentate auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt stärkten Präsident Hollande und das republikanische Regime. Damals zwangen sie die extreme Rechte für einen Moment in die Defensive, da sie nicht Teil der nationalen Einheit war.

Hollande konnte geschickt die kulturellen Werte der sozialdemokratischen Linken benutzen. Somit versammelte er mit dem „Je sui Charlie“ und der Demonstration der Staatschefs vom 11. Januar die „linke Bevölkerung“ hinter sich. Diese politische Aktion vergrößerte die sozialen Unterschiede zwischen den aufgeklärten und fortschrittlichen Teilen der Mittelschicht und der Jugend aus den Banlieus (Armenviertel an den Stadträndern). Damit wurden die „französischen Staatsbürger*innen zweiter Klasse“ erneut stigmatisiert: Sie unterstützen die neuen Helden der Republik nicht.

Diese Situation änderte sich nach den aktuellen Attentaten. Hollande kann seine soziale Basis nur durch die Angst finden, die wiederum seinen Bush-ähnlichen Diskurs verstärken. Das Regime ist entblößt: Es kann nur mehr inneren und äußeren Krieg, eine größere Einschränkung der grundlegenden demokratischen Rechte, einen „einseitigen sozialen Waffenstillstand“ (der die Arbeiter*innen nicht überzeugt oder auf große Zweifel unter der Bevölkerung stößt) anbieten.

Auf diesem Weg gelangen wir zu echtem „Frieden und Ruhe“? Müssen wir jeden Tag mit einem Attentat leben? Nie wieder französische Glückseligkeit?

Tatsächlich entstehen solch große Widersprüche, dass die französische Bourgeoisie keine ernsthafte Antwort geben kann, die auf deren Höhe wären. Der französische Imperialismus kann im Nahen Osten seine militärischen Aktionen verstärken, doch er hängt immer noch vom Willen anderer Mächte, besonders Russlands und der USA, ab.

Die Radikalisierung von Schichten aus den Banlieus ist Audruck der historischen Ausgrenzung und Diskriminierung des französischen Staats. Schon 2005 entlud sich dies in den bekannten Revolten. Seitdem hat sich nichts verändert. Im Gegenteil nahmen die sozialen Brüche durch den institutionalisierten Rassismus zu, die dem französischen Staat und Regime innewohnen.

Dass Hollande zugibt, sich „in einem Krieg“ zu befinden, der jedoch weder klare Ziele noch konkrete Pläne hat, vergrößert seine Schwächen. Diese strategische Schwäche drückt sich aktuell darin aus, dass die reaktionäre „nationale Einheit“ im Überbau keine Unterstützung durch breite Sektoren der Bevölkerung findet.

Als Beispiel können die Oberschüler*innen dienen, die sich gerade im ganzen Land mobilisieren. Zwar veranstalteten sie Kundgebungen, auf denen sie sich mit den ermordeten Jugendlichen solidarisierten und gegen die Barbarei der Attentate aussprachen. Doch ihre menschlichen Gefühle werden sicherlich nicht durch eine Regierung beantwortet, die sich immer mehr dem Neokonservatismus (neocon) annähert. Diese Regierung übernimmt einen großen Teil des Programms und der Reden von der (extremen) Rechten.

Der Krieg im Nahen Osten wird zu ständigen Angriffen führen

Um die Stärke und Autorität Frankreichs zu beweisen, wird Hollande immer mehr Teil der vertrackten Lage im Nahen Osten. Ungeachtet seiner Aussagen, tut er dies mit begrenzten Mitteln und Ressourcen. Sein Kurswechsel hin zu einer größeren Koordinierung mit Russland wird durch die Attentate und die unterschiedlichen Interessen auf beiden Seiten beschleunigt, birgt jedoch viele Widersprüche. Es ist nicht klar, ob sich die USA wirklich stärker einmischen wollen. Das trifft noch mehr auf die europäischen Partner zu, die den Kriegserklärungen etwas perplex gegenüberstehen. Es handelt sich schließlich um einen Krieg ohne konkrete Ziele. Die Kriegsbestrebungen von Hollande werden seine großen Schwächen schnell ans Licht bringen. Das wird sowohl von seinen Feinden im Nahen Osten als auch auf dem europäischen und französischem Gebiet ausgenutzt, um die französische Intervention zu stoppen.

Die imperialistische Politik der Massaker im Nahen Osten und Afrika wirkt auf Europa zurück, wie die „Flüchtlingskrise“ und die Attentate vom 13. November zeigen. Seitdem die USA Afghanistan und den Irak besetzten, starben hunderttausende Menschen. Dadurch entstanden die Bedingungen für die Entstehung von Phänomenen wie dem „Islamischen Staat“ (IS). Außerdem unterstützen die imperialistischen Mächte vollkommen reaktionäre Verbündete wie Israel, Saudi-Arabien und die ägyptische Militärdiktatur.

Es gibt nichts, was verhindern könnte, dass diese Politik sich auch in Aktionen in Europa widerspiegelt. Besonders deshalb, da sich ein Teil der französischen Bevölkerung arabischen Ursprungs radikalisierte, die jahrzehntelang durch den kapitalistischen Staat und seine Politiker*innen vollkommen ignoriert wurden.

Ein Anwachsen der Militärinterventionen Frankreichs wird diese Situation nur verstärken. Der Angriff auf ein Hotel in Bamako, der Hauptstadt Malis, bestätigt diese Aussage schon jetzt. Neue Attentate und Folgeerscheinungen sind leider vorherzusehen: Ist die französische Bevölkerung bereit, ihre Art des Zusammenlebens für eine permanente Kriegsmaschinerie, die der nordamerikanischen gleicht, zu opfern?

Eine andere Bewegung als die Anti-Kriegs-Bewegung der 2000er in Europa

Es besteht die Möglichkeit, dass sich eine große Bewegung gegen den Krieg herausbildet. Diese kann zu Beginn kleinere Formen einer Avantgarde-Bewegung, wie während des Algerien-Kriegs, herausbilden. Doch es ist klar, dass sie einen anderen Charakter als die Bewegungen gegen den Irak-Krieg in den 2000er-Jahren in Europa annehmen wird.

Das liegt zum einen daran, dass die Krise von 2007/08 die Widersprüche der Europäischen Union vertieft hat. Der europäische Kapitalismus im Allgemeinen und der französische im Besonderen befinden sich in einer Sackgasse.

Zum anderen liegt es daran, dass eine solche Bewegung die bonapartistischeren Regime und Staaten konfrontieren muss. Das konnten wir schon vor den Attentaten vom 13. November sehen und heute verschärft sich ihr autoritärer Charakter.

Zuletzt liegt es daran, dass sich jede entstehende Bewegung von Beginn an der verbalen und physischen Aggressionen der extremen Rechten entgegenstellen muss. Das sehen wir schon jetzt, da sich die islamophoben Angriffe seit dem 13. November vervielfachten. Diese Sektoren wurden nach den Attentaten gestärkt und fordern die vollkommen reaktionäre und utopische Rückkehr zum Nationalstaat. Doch die aktuellen Ereignisse zeigen gerade die Krise dieses Nationalstaates. Deshalb wird sie auch besonders stark in Frankreich erlebt, das eine sehr lange Tradition des Zentralismus besitzt, die von vor der Französischen Revolution bis zum Gaullismus im 20. Jahrhundert reicht.

Denn schon seit Langem hat die Entwicklung der Produktivkräfte die nationalen Grenzen überwunden und ist mit dem Nationalstaat und seinen Grenzen in Konflikt geraten. Dieser Widerspruch kann nur fortschrittlich durch die internationale Weltrevolution und die Entfaltung der Solidarität der Völker, also einen proletarischen Internationalismus, aufgehoben werden.

Den Unmut der Attentate in einen Kampf gegen die imperialistische Kriegstreiberei verwandeln

Angesichts der aktuellen Ereignisse besitzen die sich als trotzkistisch bezeichnenden Organisationen eine große Verantwortung. Man braucht eine mutige Politik und ein richtiges Programm, um dem Kurs der Freiheitseinschränkung, der Fremdenfeindlichkeit und der Kriegstreiberei des französischen Regimes und Hollandes entgegenzutreten. Ein solches Programm muss von der vollständigen Ablehnung der Attentate und der Solidarität mit den Betroffenen ausgehen. Es muss den Ausnahmezustand verurteilen, genauso wie den Rassismus und die imperialistischen Kriege. Ein solches Programm kann es schaffen, Gehöhr unter neuen Bevölkerungsschichten zu erlangen, die um so etwas grundlegendes fürchten wie das Überleben ihrer Freunde und Verwandten.

Wir müssen das Problem in einer einfach verständlichen Sprache klar machen und den Arbeiter*innen und Studierenden an den Arbeitsplätzen und Universitäten und Schulen vermitteln. Das kann ungefähr so lauten: „Wenn du möchtest, dass es keine Attentate mehr gibt, dass deine Verwandte, Freunde oder du selbst nicht umgebracht werden, müssen wir eine große Bewegung aufbauen, um die Interventionen unserer Regierungen in Afrika und dem Nahen Osten zu beenden. Wir müssen gegen die Einschränkung unserer Freiheiten kämpfen, die nur den reaktionären Kräften in der Regierung Aktionsfreiheit gewähren. Die Barbarei unserer Regierungen wird mit der Barbarei der Dschihadist*innen beantwortet.“

Solche Aussagen können der radikalen Linken eine neue Zuhörer*innenschaft unter den Teilen der Bevölkerung verschaffen, die vor neuen terroristischen Anschlägen Angst haben. Doch sie sprechen auch diejenigen an, die sich von den Polizeisirenen bedroht fühlen, von den Wägen der Armee in Paris und den mit Maschinengewehren bewaffneten Soldat*innen.

Durch die Politik von Hollande und der extremen Rechten werden die Kosten und „Kollateralschaden“ nur zunehmen. Das wird die Leiden der arbeitenden Bevölkerung weiter vertiefen. In dieser Situation kann das Programm der Revolutionär*innen als die einzige realistische Alternative erscheinen. Wir Revolutionär*innen wollen genau das erreichen: Denn es wäre die beste Erinnerung und Rache für alle diejenigen, die in der tragischen Nacht vom 13. November unnötig sterben mussten.

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