Die Ampel zur Pflege: Ein Meilenstein für die nächsten paar Meter
Ist der neue Koalitionsvertrag wirklich ein Meilenstein für die Pflege? Wie kann unter der Ampel-Regierung endlich für bessere Arbeitsbedingungen im Krankenhaus gesorgt werden?
“Der Koalitionsvertrag ist ein Meilenstein für die Profession Pflege”. Mit dieser vollmundigen Aussage begrüßte die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, die Pläne der Ampelregierung im Bereich “Pflege und Gesundheit”. Der Dachverband, dem mehrere Berufsverbände angehören, behauptet von sich “mit einer Stimme für die Interessen der professionell Pflegenden in Deutschland” zu sprechen. Dürfen die in Pandemie geschundenen Beschäftigten im Gesundheitswesen also aufatmen? Wie werden sich die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus tatsächlich verändern? Und welche Rolle müssen die Gewerkschaften nun im Gesundheitswesen spielen?
Was wird sich wirklich ändern?
Zuerst: Dass der Pflegerat vom Koalitionsvertrag so begeistert ist, dürfte weniger an den darin angekündigten Vorhaben liegen, als an einer einzigen Passage:
Wir stärken den Deutschen Pflegerat als Stimme der Pflege im Gemeinsamen Bundesausschuss und anderen Gremien und unterstützen ihn finanziell bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben.
Das Loblied des Pflegerats überrascht also nicht.
Es gibt jedoch auch Punkte im Koalitionsvertrag, die die Arbeitsbedingungen direkt betreffen werden: Die neue Personalbemessungsregelung (PPR 2.0) ist immerhin etwas. Erarbeitet wurde dieses Vorhaben im vergangenen Jahr von der Deutschen Krankenhausgesellschaft gemeinsam mit dem Pflegerat und der Gewerkschaft Ver.di. Es soll als Instrument dienen, um den Pflegepersonalbedarf eines Hauses ausgehend von der Einschätzung verschiedener Patientengruppen zu ermitteln. Ein Durchbruch, wie Ver.di und der Pflegerat die PPR 2.0 nenne, ist das aber noch nicht. Denn eine solche gesetzliche Regelung allein kann nicht viel ausrichten, wenn einfach nicht genug Personal da ist.
Das Bündnis “Krankenhaus statt Fabrik” begrüßt die PPR 2.0 zwar als richtigen Schritt. Der Koalitionsvertrag vermerkt jedoch auch, dass die Regelung nur “Übergangsinstrument mit dem Ziel eines bedarfsgerechten Qualifikationsmixes” sein solle. Gemeinsam mit der ebenfalls forcierten Akademisierung der Pflege, so das Bündnis in seiner ausführlichen Analyse des Koalitionsvertrags, könne das darauf hinauslaufen, vollwertige Pflegekräften durch Hilfskräfte zu ersetzen, wie es für die Langzeitpflege schon vorgeschlagen worden sei.
Auch das heißumstrittene Thema Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) taucht im Koalitionsvertrag auf. Nach diesem Finanzierungsmodell werden den Krankenhäusern von den Kassen nicht die tatsächlich für eine Behandlung angefallenen Kosten erstattet, sondern nur noch eine Pauschale. Das führt dazu, dass die Entscheidung über eine Behandlung nicht mehr nur eine medizinische, sondern auch eine finanzielle ist. Die Fallpauschalen stehen damit stellvertretend für viele Dinge, die mit Kostendruck und Profitzwang im Gesundheitswesen schieflaufen. Seit Jahren ist die Abschaffung der Fallpauschalen deshalb eine der zentralen Forderungen von Beschäftigten im Krankenhaus.
Das war auch SPD und Grünen nicht verborgen geblieben, die in ihrer letzten gemeinsamen Regierungsverantwortung Anfang der 2000er dieses System eingeführt hatten. In ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl hatte die SPD noch angekündigt, das System der Fallpauschalen “auf den Prüfstand stellen, die Pauschalen überarbeiten und wo nötig abschaffen” zu wollen. Und auch die Grünen hatten in ihrem Programm “ein neues Finanzierungssystem” gefordert.
Davon ist im Koalitionsvertrag nicht viel übrig geblieben. Eine DRG-Minireform zur Förderung ambulanter Versorgung ändert am grundlegend verfehlten System gar nichts. “Krankenhaus statt Fabrik” kritisiert jedoch auch diese “Reform”: “Kernproblem ist: Statt die DRG abzuschaffen oder zumindest einzuschränken, wird damit das DRG-System auf Teile des ambulanten Bereichs ausgedehnt.” Von einer bedarfsgerechten Finanzierung ist keine Rede mehr. Es soll also dabei bleiben: Wie behandelt wird, entscheidet sich nicht nach dem medizinischen Bedarf, sondern danach, was sich lohnt.
Dass Pflegende mehr Geld bekommen sollten, ist spätestens im Laufe der Pandemie fast allen klar geworden und auch die Bundesregierung muss sich hier etwas einfallen lassen. Eine Milliarde Euro will sie in die Hand nehmen, um den Einsatz der Pflegekräfte anzuerkennen. Unklar bleibt jedoch, wie und auf wen dieses Geld aufgeteilt werden soll. Überhaupt sieht eine echte “Anerkennung” anders aus. Kleinere Summen wurden auch im Verlauf der Pandemie immer wieder einmal gezahlt – die dann nicht einmal alle bekommen haben.
Der geplante Pflegebonus ist zwar sicher richtig und notwendig für viele Pfleger:innen. Dennoch diskutiert die Regierung auch dort, wer den Bonus nun wirklich verdient hätte. Als ob nicht alle Beschäftigten der Krankenhäuser durch die Pandemie besonderen Lasten ausgesetzt waren – auch wenn wir die außerordentliche Last für Intensivpfleger:innen natürlich nicht bezweifeln. Der Pflegebonus hat damit etwas von einem Schweigegeld für die am meisten belasteten Kolleg:innen auf den Intensivstationen. Millionen Überstunden etwa, die niemals abgebaut werden, sollen so unter den Teppich gekehrt werden. Die Botschaft lautet wieder einmal: Seid dankbar und gebt euch damit zufrieden. Die Logik hinter den Boni ist auch an anderen Stellen im Krankenhaus sichtbar. Nichts an den grundsätzlichen Problemen verändern, sondern immer nur schnell Löcher stopfen. Einmalzahlung statt guter Löhne und Arbeitsbedingungen.
Die Ampel verspricht auch, “eine auf Leistungsgruppen und Versorgungsstufen basierende und sich an Kriterien wie der Erreichbarkeit und der demographischen Entwicklung orientierende Krankenhausplanung” erarbeiten zu wollen. Das eigentlich Schockierende daran ist, dass es eine solche Planung nicht längst gibt. Doch “Krankenhaus statt Fabrik” mahnt auch bei diesem Vorhaben zur Vorsicht. Es stehe zu befürchten, dass Qualitätskriterien und Leistungsgruppen zur weiteren Schließung von Krankenhäusern und Betten instrumentalisiert werden sollen. Diese Vorsicht muss umso schärfer sein, da der neue Gesundheitsminister Lauterbach seit Jahren als Befürworter von Klinikschließungen bekannt ist.
Ein vorläufiges Fazit muss also ernüchternd ausfallen: Grundlegende Verbesserungen sind von der neuen Koalition nicht zu erwarten. Besonders der Personalmangel wird weiter bestehen bleiben. Weitere wichtige Themen wie das Outsourcing in Krankenhäusern werden im Koalitionsvertrag nicht einmal erwähnt. Alles andere als ein Meilenstein also.
Wenn die Ampel nicht liefert, wie wird es dann endlich besser?
Die neue Koalition hat es bisher geschafft, dass mehr Menschen Hoffnungen in sie setzen als zuvor in die Große Koalition mit ihrem Gesundheitsminister Spahn – auch wenn die zögerliche Haltung dessen Nachfolgers Lauterbach gegenüber der Ausbreitung von Omikron erste Hoffnungen bereits zunichte macht. Besonders die Übernahme des von Ver.di geforderten PPR 2.0 in den Koalitionsvertrag deuten eine etwas veränderte Linie der neuen Regierung an – und lässt erwarten, dass die Ver.di-Führung nicht auf Konfrontationskurs gehen wird.
Dabei sind die Gewerkschaftsführungen schon in den vergangenen Jahren und besonders in der Pandemie viel zu oft der alten Regierung hinterher gelaufen. Auf Druck von Politik und Bossen wurden Streiks verhindert, Nullrunden ausgehandelt und schlechte Abschlüsse akzeptiert, wie zuletzt beim Tarifvertrag der Länder (TV-L).
Vor den Koalitionsverhandlungen hatte das Ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler noch öffentlich von SPD, FDP und Grünen gefordert, die Abschaffung der Fallpauschalen zu vereinbaren. Hinterher lobte der Ver.di-Vorsitzende Frank Werneke dann den Pflegebonus als „wichtiges Signal für die Beschäftigten, die durch die Corona-Pandemie besonders belastet und aufgrund der aktuellen dramatischen Situation vielfach mit ihren Kräften am Ende sind“. In ihrer ausführlicheren Bewertung des Koalitionsvertrags schreibt Ver.di, dass die Pläne der Ampel für das Fallpauschalensystem “ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung” seien.
Dabei ist gerade am symbolträchtigen Beispiel der Fallpauschalen überdeutlich geworden, dass es für Ver.di nicht genügt, nur die Abschaffung des DRG-Systems zu fordern. Nötig ist es vielmehr, Bündnisse zu schließen und aus den Betrieben heraus einen politischen Kampf für diese Forderungen zu führen. Von den minimalen Zugeständnissen der Regierung können sich die Beschäftigten schließlich nichts kaufen.
Gleiches gilt für die Personalfrage. Die Gewerkschaften müssen eine breite politische Kampagne fahren, damit ehemalige Pflegekräfte in ihren Job zurückkehren und die Bedingungen für Azubis deutlich verbessert werden – wie es die Krankenhausbewegung in Berlin mit ihrem Streik teilweise schon erreicht hat. Das heißt: deutlich höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und ausreichende Besetzung auf den Stationen, um die Gesundheit von Patient:innen und Pfleger:innen zu sichern.
Auch bei der PPR 2.0 als Zwischenergebnis darf es nicht bei Appellen an die neue Regierung bleiben. Die Frage bleibt, wie und wie bald sie durchgesetzt wird. Beschäftigte sollten sich dafür demokratisch organisieren und im Falle der Nicht-Einhaltung der gesetzlichen oder tariflichen Regelungen über das weitere Vorgehen auf Versammlungen diskutieren – und wenn nötig auch für die Durchsetzung der Regelungen streiken.
Solche Versammlungen sind auch in der aktuellen Pandemiesituation nötig, um über das weitere Vorgehen zu diskutieren. So lehnt Ver.di bespielsweise die Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen als „falsch und kontraproduktiv“ ab. Damit diese Haltung jedoch glaubhaft ist und nicht die Spaltung unter den Beschäftigten verstärkt, muss auf gewerkschaftlichen Versammlungen darüber diskutiert werden können – nicht nur über die Impfungen, sondern insgesamt darüber, wie die Pandemie angesichts der rollenden Omikron-Welle jetzt bekämpft werden muss.
Gewerkschaften müssen die Organe sein, in denen sich die Beschäftigten selbst organisieren – statt auf einen Pflegerat als “Stimme der Pflege” zu hoffen. Dieser ist schließlich keine Organisation, die den Kampf für bessere Bedingungen im Krankenhaus organisieren kann, sondern macht letztlich vor allen Dingen Lobbyarbeit. Dass viele Beschäftigte vor allem in kleineren Berufsgruppen Hoffnungen in Berufsverbände haben, liegt aber nicht nur im nützlichen fachlichen und wissenschaftlichen Austausch, den sie bieten können. Es hängt auch mit der Passivität der Gewerkschaftsführungen zusammen, die bei vielen die Skepsis in die DGB-Gewerkschaften schürt.
Dennoch sind die Gewerkschaften nicht nur die größten Organisationen, die die meisten Beschäftigten in sich vereinen. Vor allem haben sie mit dem Streik ein starkes Werkzeug, um ihre Forderungen durchzusetzen. Dass so etwas sehr erfolgreich sein kann, hat nicht zuletzt die Berliner Krankenhausbewegung bewiesen. Sie haben nicht nur ihren Streik gewonnen, sondern auch hunderte neue Mitglieder bei Ver.di organisieren können.
Eine Ausweitung der Krankenhausbewegung bundesweit ist dringend nötig, doch ohne Druck und Organisierung an der Basis wird die Gewerkschaftsbürokratie ihre Passivität und die versöhnliche Haltung gegenüber der Regierung nicht aufgeben und den Kampf nicht führen. Wenn ein zu niedriger Organisationsgrad als Argument angeführt wird, warum ein Kampf nicht möglich sei, zeigt das Beispiel Berliner Krankenhausbewegung: Im Kampf kommen die Mitglieder. Denn Frust und Veränderungswillen gibt es schließlich genug.
Nur organisiert und mit einer aktiven Basis werden die Beschäftigten also die wirklich notwendigen Reformen erzwingen können. Der Koalitionsvertrag macht deutlich, dass sich die Ampel Gesundheitsarbeiter:innen erhofft, die sich mit Mini-Zugeständnissen ruhig stellen lassen und sich ansonsten mit Lobbyarbeit zufrieden geben. Diesen Gefallen dürfen wir der neuen Regierung auf keinen Fall machen.