Die Ära Biden beginnt

27.11.2020, Lesezeit 9 Min.
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Nach einem kurzen, aber intensiven Interregnum bildet sich in den Vereinigten Staaten offiziell eine neue Regierung. Der Republikaner Donald Trump gestand seine Niederlage nicht ein, gab aber grünes Licht für Joe Biden, den "Übergang" zu beginnen.

In der imperialistischen Weltmacht USA ist die Machtübergabe weder eine symbolische Formalität, noch reduziert sie sich auf den bloßen Austausch von politischem Personal – in diesem Fall von republikanischem durch demokratisches. Die Machtübergabe beinhaltet das In-Gang-Setzen einer 1949 eigens zu diesem Zweck geschaffenen Bürokratie – die General Service Administration – mit 12.000 Mitarbeiter:innen und einem Budget von 21 Millionen Dollar, die unter anderem den Transfer „sensibler Informationen“ für die Sicherheit und die Interessen des Imperialismus erleichtern soll.

Trump behauptet immer noch, dass es weitverbreiteten Wahlbetrug gab, insbesondere in den bei der Wahl umkämpften Bundesstaaten (den sogenannten „Swing States“), und dass sein Wahlsieg gestohlen wurde. Aber er gab den Versuch, das Ergebnis umzudrehen, de facto auf, als er sah, dass in dem Becken, in das er tauchen wollte, kein Wasser war.

Die Gerichte in mehreren Bundesstaaten hatten nacheinander seine Klagen wegen angeblichen Wahlbetrugs, für den es nie Beweise gab, abgewiesen. Und die Großkapitalist:innen, darunter viele, die für Trumps Wahlkampf gespendet hatten, dankten ihm für seine Dienste – die Deregulierungen, die Steuersenkungen und den Trubel an der Wall Street -, gaben ihm aber die unmissverständliche Botschaft, dass seine Zeit abgelaufen sei. Vielleicht der letzte Anstoß für den Rückzug war der von 166 CEOs der wichtigsten multinationalen Unternehmen, Banken und Vertreter:innen des Finanzkapitals (General Motors, Mastercard, Goldman Sachs und viele mehr) unterzeichnete Brief, der am 23. November veröffentlicht wurde. Der Brief von Corporate America ist ebenso kurz wie kategorisch. Nach Ansicht der Crème de la Crème der Geschäftswelt gefährdete Trump mit seinem hartnäckigen Widerstand die Sicherheit der USA. Die CEOs forderten im Namen des nationalen Interesses den sofortigen Beginn des Übergangs zur Biden-Harris-Regierung. Um den Druck noch zu erhöhen, drohten einige bürgerliche Republikaner:innen damit, die Wahlkampffinanzierung für die beiden Senator:innen für Georgia, die im Januar zur Wiederwahl stehen, zurückzuziehen, die letztlich darüber entscheiden werden, wer in dieser Kammer die Mehrheit haben wird.

Zwischen dem Brief der CEOs und dem Tweet von Trump, mit dem er den Übergang anerkennt, besteht praktisch eine direkte Linie zwischen Ursache und Wirkung.

Ohne den Rückhalt entscheidender Machtfaktoren oder bedeutender Sektoren des staatlich-militärischen Apparates war der Widerstand Trumps ein tragikomisches Abenteuer. Die letzte Pressekonferenz der republikanischen Kampagne hätte ein bizarrer Kurzfilm sein können. Ein desillusionierter Rudy Giuliani (Trumps Anwalt) winkte den Medien zu, dass Biden „mit Geld aus dem Kommunismus, aus Kuba, Venezuela, China und… George Soros“ gewonnen habe, während ihm ein seltsamer schwarz gefärbter Schweiß das Gesicht herunterlief. Noch immer streiten New Yorker Friseur:innen in den Medien, ob es das Resultat einer schlecht gemachten Haarfarbe war oder nicht. Eine Metapher für die organische Krise.

Für die amerikanische Großbourgeoisie und das Establishment ist Trump zunächst einmal Geschichte.

Seit Montag, dem 23. November, als Trump das Signal zum Start des Übergangsapparats gab, beschleunigten sich die Zeiten. In nur zwei Tagen fanden mehr als 20 Treffen zwischen den Teams der scheidenden und der neuen Regierung statt. Biden präsentierte die ersten Mitglieder seiner zukünftigen Regierung. Wie erwartet, gab es keine Vertreter:innen des „linken Flügels“ der Demokratischen Partei. Weder Sanders (der immer noch eine Stelle im Arbeitsministerium anstrebt) noch Elizabeth Warren stehen auf der Gehaltsliste, und obwohl noch Stellen zu besetzen sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie in die Regierung Biden integriert werden. Das Profil des Kabinetts ist ein zu 100% imperialistisches Establishment mit dem Deckmantel der „Vielfalt“. Schlüsselpositionen werden mit ehemaligen Obama-Funktionär:innen besetzt werden (von denen einige aus den Clinton-Administrationen stammen), was im Einklang mit dem Versprechen steht, das Biden gegenüber der herrschenden Klasse abgegeben hat, den „Status quo vor Trump“ und vor den Massenmobilisierungen gegen Polizeigewalt und Rassismus wiederherzustellen. „Es wird sich nichts Grundlegendes ändern“, sagte er bei einem Abendessen mit Milliardär:innen während der Kampagne. Jedoch wird es angesichts der Rezession durch die Pandemie, die eine neue Schuldenkrise der Schwellenländer hervorbringen könnte, sowie – offener oder latenter – interner sozialer Spannungen und wachsender geopolitischen Spannungen schwierig sein, eine „dritte Obama-Regierung“ zu etablieren.

Die bisher wichtigsten Ernennungen sind die von Antony Blinken als Außenminister und Janet Yellen als Finanzministerin (sie wird die erste Frau sein, die diesen Posten besetzt, was von der patriarchalischen Rückständigkeit der wichtigsten imperialistischen Macht spricht). Es bleibt abzuwarten, wer an der Spitze des Pentagon stehen wird.

Die Wall Street begrüßte die „Sleepy Joe“-Regierung mit einem rekordverdächtigen Börsentag. Neben der Erfolgsmeldungen der Covid-19-Impfungen war einer der zentralen Gründe für den Ansturm an der Börse die Ernennung von Janet Yellen. Die Präsidentin der Federal Reserve Bank während der letzten Obama-Administration und davor die Stellvertreterin von Ben Bernanke ist untrennbar mit der Erholung von der Großen Rezession 2008, der staatlichen Rettung von Banken und Unternehmen und der Konjunkturpolitik (quantitave easing), die eben diesen Sektoren zugute kam, in Verbindung gebracht, auch wenn einige versuchen, sie als „keynesianisch“ darzustellen. Mit Yellen an der Spitze des Finanzministeriums erwarten die Großkapitalist:innen großzügige Konjunkturpakete. Sie gründen ihre Erwartungen nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf Yellens öffentliche Positionen zugunsten neuer staatlicher Anreize zur Überwindung der durch das Coronavirus verursachten Krise.

Biden hat seine Anti-Trump-Gesten auf die Außenpolitik konzentriert. Zusammen mit seinen allgemeinen Definitionen – wie in seiner ersten Rede als Präsident im Übergang: „Die Vereinigten Staaten sind bereit, die Welt anzuführen, nicht sich zurückzuziehen“– erfreute die Ernennung von Antony Blinken die Nostalgiker:innen der vom US-Imperialismus „hegemonial“ angeführten „(neo)liberalen Ordnung“. Blinken wird mit den sogenannten „Internationalisten“ (Interventionisten) identifiziert, die für die Wiederherstellung der traditionellen Bündnisse der Vereinigten Staaten mit der Europäischen Union stehen (die durch Trumps feindliche Politik ausgehöhlt wurden) und multilaterale Organisationen wie der NATO fördern. Für ihn steht der Multilateralismus als Strategie zur Senkung der Alleinstellung der USA in militärischen Konflikten, um die vielfältigen Infragestellungen der Führung der Vereinigten Staaten nach den Niederlagen im Irak und in Afghanistan nicht allein bewältigen zu müssen.

Bidens erste internationale Aktionen sind wahrscheinlich als Spektakel von hoher symbolischer Wirkung, aber zweifelhaftem Inhalt gedacht, wie etwa die Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen (mit John Kerry) oder die Ankündigung einer Rückkehr zum Abkommen mit dem Iran. Die Verbündeten der USA, die Europäische Union, die liberale Presse (im US-amerikanischen Sinne des Wortes), die bürgerlichen Mitte-links-Regierungen und diejenigen in Lateinamerika, die sich nicht hinter Trump gestellt haben, feiern diese angeblich „freundliche“ Variante der imperialistischen Politik. Doch das ist eine zweifache Täuschung.

Erstens, weil es keine Rückkehr zur Normalität vor Trump geben kann. Der Slogan „America First“ mag aus der Rhetorik des Weißen Hauses verschwinden, aber die „harmonische Globalisierung“, bei der Verbündete und Partner daran arbeiteten, die Führung der USA zu erhalten und gleichzeitig von ihr zu profitieren, gehört der Vergangenheit an. Gerade die Erschöpfung der globalisierenden Hegemonie, die durch die Krise von 2008 deutlich wurde, erklärt teilweise das Wiederaufleben nationalistischer Tendenzen, die sich in Phänomenen wie Trumpismus oder Brexit ausdrücken. Der strukturelle Widerspruch zwischen dem imperialen Niedergang der Vereinigten Staaten und dem Aufstieg Chinas wird bestehen bleiben. Deshalb ist die Notwendigkeit, Chinas Aufstieg einzudämmen und zu verzögern, mit US-amerikanische Staatspolitik, auch wenn es taktische Unterschiede in der Art und Weise gibt: mit Handelskriegen und Zöllen wie Trump oder mit dem Aufbau von Allianzen wie dem Transpazifik-Vertrag, um China zu isolieren, wie Obama es mit der so genannten „Wende nach Asien“ versucht hat und Biden wahrscheinlich wieder aufnehmen wird.

Zweitens, weil es eine interessengeleitete Idealisierung der US-Außenpolitik unter Obama gab, insbesondere wegen des Nuklearabkommens mit dem Iran oder der „Tauwetter“-Politik gegenüber Kuba. Unter den Obama-Administrationen waren „Diplomatie“ und „Multilateralismus“ die Ergänzung zu Interventionismus und Kriegstreiberei, was nicht nur in der Fortsetzung der Kriege im Irak und in Afghanistan zum Ausdruck kam, sondern auch in der Einmischung in Libyen und Syrien, in der Feindseligkeit gegenüber Russland und in einer Änderung der Militärstrategie, die fortan „verdeckten Operationen“ und dem Einsatz unbemannter Flugzeuge und Drohnen den Vorrang einräumte, um die eigenen Verluste in höchst unpopulären Kriegen zu verringern.

Trumps Politik, Biden zu verleumden, indem er den gesamten Wahlprozess infrage stellte, wird kollaterale Auswirkungen auf die bürgerliche Regierbarkeit haben, auch wenn sich das Ausmaß noch zeigen wird. Um über das Ausmaß des Problems nachzudenken, lohnt es sich, daran zu erinnern, dass Trump nach den letzten Auszählungen zwar die Mehrheit im Wahlkollegium und Mehrheit der Wähler:innenstimmen insgesamt verloren hat, aber trotzdem historische absolute Zahlen erreichen konnte: mit fast 74 Millionen Stimmen für ihn (im Jahr 2016 hatte er etwa 60 Millionen erhalten) gegen 80 Millionen für Biden. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage glauben 88% der Trump-Wähler:innen immer noch, dass Bidens Sieg unrechtmäßig ist, 89% sagen, es habe Betrug gegeben, und 43% sagen, dass die Nachzählung das Wahlergebnis verändern kann.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Spanisch bei La Izquierda Diario.

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