Die „Abgeordneten der Arbeiter*innen“ aus Argentinien: ein Beispiel für die Linke weltweit
Am 13. August erzielte die Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) aus Argentinien bei der Vorwahl fast eine Million Stimmen. Sie ist damit eine reale Alternative für die Lohnabhängigen angesichts der Sparpläne der neoliberalen Regierung und der halbherzigen Opposition des Peronismus. Doch die Vorwahl drückte auch eine zunehmende Verankerung in der Arbeiter*innenklasse aus. Deshalb ist die FIT auch für alle Linken weltweit, die revolutionäre Arbeiter*innenparteien aufbauen wollen, ein wichtiges Beispiel.
Das Bild zeigt verschieden Kandidat*innen der FIT, die allesamt Arbeiter*innen sind.
Es ist der 19. November, die Sonne strahlt auf die Fußballarena „Atlanta“ in Buenos Aires. 20.000 Arbeiter*innen, Jugendliche und Frauen sollen an diesem Samstag das Stadion füllen. Doch es ruft sie nicht das Spiel ihres Lieblingsclubs, sondern die drei Parteien der Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT). Sie haben zu einer Kundgebung aufgerufen, um die Tariferhöhungen und Entlassungen der Rechtsregierung von Mauricio Macri abzulehnen, von den Gewerkschaften einen Generalstreik zu fordern und für einen revolutionären Bruch und eine Arbeiter*innenregierung einzutreten.
Neun Monate später, am 13. August, finden die argentinischen Vorwahlen statt. Tausende Arbeiter*innen haben sich für die FIT als Wahlhelfer*innen eingetragen, um überall dafür zu sorgen, dass alle, die für die FIT stimmen wollen, dies tun können. Viele von ihnen waren im November in Atlanta, und haben den Reden der Genoss*innen zugehört, die nun die Kandidat*innenlisten anführen. Dazu kommen hunderte Arbeiter*innen, die selbst als Kandidat*innen der FIT antreten. Am Ende des Wahlsonntags kommt die FIT auf fast eine Million Stimmen, was eine Steigerung von 30 Prozent im Vergleich zu den Vorwahlen 2015 ausmacht.
Ohne die Kundgebung im Atlanta-Stadion, und die jahrelange Vorarbeit, lässt sich das Wahlergebnis und die besondere Beteiligung von Werktätigen nicht verstehen. Dabei ist besonders die Arbeit der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS) in der FIT ein Beispiel dafür, wie konkrete Schritte hin zum Aufbau einer revolutionären Arbeiter*innen-Linken getan werden können.
Dritte Kraft
So kam es, dass Arbeiter*innen aus den verschiedensten Branchen in den letzten Wochen Kampagne für die FIT gemacht haben. In Mendoza, am Fuße der Anden, waren es die klassenkämpferischen Lehrer*innen, die erst vor kurzem die Wahlen der größten Gewerkschaft der Stadt gewonnen hatten. Auch am Sonntag standen sie in den Schulen, diesmal um die Stimmen der FIT zu sichern. Zahlreiche von ihnen waren direkt Kandidatinnen der FIT, und hatten zuvor in ihren Vierteln Wahlkampf betrieben.
Noelia Barbeito, selbst Lehrerin und Spitzenkandidatin der FIT in der Provinz, widmete am Wahlabend die 8,5 Prozent, die sie zur drittstärksten Kraft machten, „den Arbeiter*innen, die gegen die Kürzungen kämpfen“. Besonders in den proletarischen Vierteln von Mendoza und im Süden der Provinz hat die FIT hohe Stimmanteile erzielt. Schon seit ihrer Gründung 2011 wurde sie zu einem Kanal für zehntausende prekarisierte Arbeiter*innen und Jugendliche, um ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System auszudrücken.
Ähnliches ließ sich auch im Industriegürtel von Buenos Aires beobachten. Die Arbeiter*innen der selbstverwalteten Druckerei Madygraf beschlossen gemeinsam, Wahlkampf für die FIT zu machen und das Wochenende zu opfern, um in möglichst vielen Wahllokalen vertreten zu sein. Auch das Plenum der PepsiCo-Arbeiter*innen, die gegen ihre Entlassung kämpfen, unterstützte das Dutzend von ihnen, das als Kandidat*innen die Wahlplakate der FIT schmückte. Schließlich waren es die Abgeordneten und Aktivist*innen der Parteien derselben politischen Kraft, die in den Wochen zuvor bei jeder Aktion, der Fabrikbesetzung und dem Kampf gegen die Räumung, den Autobahnblockaden, den Demonstrationen, dabei waren.
Camilo Montes, ein entlassener PepsiCo-Arbeiter und Mitglied der PTS, beschreibt die Situation wie folgt:
Wir Arbeiter*innen von PepsiCo haben erkannt, wer wirklich für die Arbeiter*innenklasse kämpft. Wir haben die Abgeordneten, die Mitglieder, die Anführer*innen der FIT gesehen, am Fabriktor, bei jeder Demonstration, in jedem Block von uns. Deshalb unterstützten viele Genoss*innen die FIT und werden sie wählen. Diese Erfahrung werden wir nie vergessen. Wir werden weiter kämpfen, mit Euch zusammen.
Der Arbeitskampf bei PepsiCo hat den gesamten Wahlkampf beeinflusst. Während alle bürgerlichen Parteien auf eine inhaltsleere Kampagne setzten und nicht über die wirklichen Probleme der Bevölkerung sprechen wollten, haben die „Löwinnen von PepsiCo“ ihre Agenda gekreuzt. Der Betriebsrat wird von linken Arbeiter*innen gestellt, die schon seit 20 Jahren für bessere Arbeitsbedingungen in der Fabrik und darüber hinaus kämpfen. Durch diese Erfahrung konnte der „Kampf von PepsiCo“ mit mutigen Aktionen wie der Fabrikbesetzung, Blockaden und zahlreichen Demonstrationen in die breite Öffentlichkeit gelangen – und an Zustimmung gewinnen. Umfragen zeigen, dass die PepsiCo-Arbeiter*innen ein Beispiel für viele sind, die unter Entlassungen und Prekarisierung zu leiden haben.
Die große Überraschung
Diese Bilder wiederholen sich im ganzen Land: Im hohen Norden in Jujuy bekommt ein indigener Arbeiter der städtischen Müllentsorgung die Unterstützung der lohnabhängigen und armen Bevölkerung und wird der zweitmeistgewählte Kandidat der Vorwahlen in seiner Provinz. Alejandro Vilca, PTS-Mitglied und Müllarbeiter, war die große Überraschung in der FIT. Durch eine Wahlkampagne, die sich mit den verschiedenen Kämpfen der Arbeiter*innen verband, konnte das Ergebnis auf 12,5 Prozent verdoppelt werden im Vergleich zu 2015. In den Arbeiter*innen- und Armenvierteln wurde dieses Ergebnis sogar zum Teil deutlich überschritten, was ein klares Zeichen dafür ist, dass die Forderungen der FIT in der Arbeiter*innenklasse besonderen Anklang fanden. Alejandro Vilca wertete den Eindruck, den der Wahlkampf unter den Ausgebeuteten hatte, so aus:
Die Tatsache, dass wir bei den Arbeiter*innen, Jugendlichen und den Frauen waren, erklärt den großen Fortschritt der Linken [in Jujuy]. Das hat auch die Vorschläge und Ideen der Linken gestärkt. Wir haben eine aktive Kampagne an den Arbeitsplätzen, den Universitäten und Fakultäten gemacht, die das spontane Engagement vieler Arbeiter*innen hervorgerufen hat, die sich Plakate und Flyer geholt haben, um sie in ihren Vierteln zu verteilen
Die PTS hatte in den Monaten vor der Wahl besonderen Schwerpunkt gelegt auf die Forderung nach der Aufteilung der Arbeit auf alle Arbeiter*innen, um gegen die Arbeitslosigkeit einerseits und die Überbeschäftigung mit Arbeitstagen von zehn bis 14 Stunden andererseits zu kämpfen. „Sechs Stunden am Tag, Fünf Stunden die Woche für einen Lohn, der die Lebenshaltungskosten deckt“, war der Slogan, der für viel positives Feedback sorgte.
Der „Abgeordnete der Arbeiter*innen
Weiter im Süden, in der Provinz Neuquén in Patagonien, wird der Arbeiter der selbstverwalteten Keramikfabrik Zanon, Raúl Godoy, in den Arbeiter*innenvierteln der „Abgeordnete der Arbeiter*innen“ genannt. Mit der FIT holte er bei den Vorwahlen sieben Prozent der Stimmen. Er erzählt:
Früher haben uns viele als kämpferisch und solidarisch mit allen Kämpfen angesehen. Doch sie wollten uns nicht als Abgeordnete wählen. Was würde die Linke im Landtag machen? Das hat sich verändert, als sie unsere Praxis vom revolutionären Parlamentarismus erlebt haben. Dabei geht es darum, die Parlamentssitze als Tribüne zu benutzen, um die Regierungen und die Kapitalist*innen zu verurteilen. Doch es geht auch darum, die Kämpfe zu unterstützen und die Selbstorganisierung voranzutreiben, den Arbeiter*innen Vertrauen zu schenken und gleichzeitig unsere tiefgründige Perspektive vorzustellen.
Und weiter:
Doch das neue und bemerkenswerte ist die Konsolidierung der FIT-Wähler*innenschaft in den wichtigsten Arbeiter*innenbezirken. In Centenario [einem Viertel in Neuquén-Stadt] zum Beispiel, wo ich geboren bin, wohnen viele Arbeiter*innen von Zanon, aber auch viele Saisonarbeiter*innen, Bauarbeiter*innen, Lehrer*innen und prekarisierte Jugendliche. In manchen Wahllokalen erzielten wir dort mehr als 10 Prozent. Und dabei handelte es sich um überzeugtere Wähler*innen, die offen sagten, dass sie für uns stimmen würden und stolz verkündeten: „Das sind unsere Sitze, das sind die Sitze der Arbeiter*innen“. Ähnliches lässt sich auch im IndustriegebietParque Industrialbeobachten, wo wir in manchen Wahllokalen zwischen 14 und 15 Prozent bekamen. Dabei handelt es sich um ein Arbeiter*innenviertel, dem die Regierungen keine Beachtung schenken.
Lektionen
Die oben genannten Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie linke Kräfte mit radikalen, antikapitalistischen Vorschlägen eine erfolgreiche Wahlkampagne machen und sich gleichzeitig besonders in der Arbeiter*innenklasse aufbauen kann. Der Wahlkampf der FIT steht im krassen Gegensatz zu dem linker Parteien in Europa, in die viele revolutionäre Linke ihre Hoffnungen, oder zumindest ihr Kreuz auf dem Wahlzettel, setzen. Die Abgeordneten und Aktivist*innen der FIT, und besonders die der PTS, sind nicht nur bei allen Arbeitskämpfen in vorderster Front vertreten, wie Millionen Menschen beim PepsiCo-Konflikt sehen. Sie haben auch selbst hunderte klassenkämpferische Arbeiter*innen aus den verschiedensten Sektoren – von der Automobilindustrie, über Druckereiunternehmen, die Lebensmittelbranche, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Lehrer*innen, etc. – auf ihren Listen vertreten. Damit, und durch die Praxis, nur den Lohn einer Lehrerin zu verdienen und den Rest der Abgeordnetendiät an soziale Bewegungen und Kämpfe zu spenden, können sie als glaubhafte Vertreter*innen der Ausgebeuteten und Unterdrückten auftreten und werden von diesen Sektoren als „ihre Abgeordneten“ anerkannt.
Die zunehmende Verschmelzung der revolutionären Linken mit den kämpferischen Sektoren der Arbeiter*innenbewegung in Argentinien ist jedoch nichts, dass vom Himmel gefallen ist oder nur durch Parlamentsarbeit erreicht werden kann. Im Gegenteil ist diese Verschmelzung der Ausdruck einer jahrelangen Vorarbeit in der Arbeiter*innenbewegung, der Unterstützung ihrer Kämpfe und eines Programms, das die politische Unabhängigkeit der Klasse von allen bürgerlichen Parteien in den Mittelpunkt stellt und in den Gewerkschaften für eine Demokratisierung und kämpferische Neuorientierung gegen die korrupten, bürokratischen und reformistischen Gewerkschaftsspitzen kämpft.
Deshalb sind es nicht nur formelle Unterschiede, die den Wahlkampf der FIT von Wahlkampagnen anderer linker Parteien oder Wahlbündnisse trennen. Denn diese greifen die Wahlebene als zentrales Interventionsfeld auf, wo Veränderungen erreicht werden können, und ordnen dem die Beteiligung in Klassenkämpfen unter. Die PTS hingegen verbindet die Intervention in die bürgerlichen Wahlen mit dem Klassenkampf und nutzt sie dafür, ihren Einfluss unter breiten Schichten der Arbeiter*innen und Jugendlichen auszubauen, um Schritte hin zum Aufbau einer revolutionären Arbeiter*innenpartei zu gehen, die dazu in der Lage ist, die Ketten der Lohnsklaverei zu sprengen.