Dialektik und Marxismus: Plechanow, zwischen Hegel und Spinoza
Wir setzen die Serie über Marxismus und Dialektik mit einem Rückblick auf die Philosophie einer der Gründungsfiguren des russischen Marxismus fort.
Georgi Walentinowitsch Plechanow (1856-1918) war eine Schlüsselfigur in den Anfängen des traditionellen russischen Marxismus. In seiner Jugend war er ein Volkstümler, später gründete er die Gruppe Befreiung der Arbeit (Vorläufer der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei). Als sich die RSDAP 1903 spaltete, sympathisierte er zunächst mit den Bolschewiki und wandte sich dann den Menschewiki zu, mit einer gewissen Annäherung an Lenin zwischen 1908 und 1912. Seine Zustimmung zur „Landesverteidigung“ im Ersten Weltkrieg sowie die späterer Ablehnung der Oktoberrevolution prägen die Darstellung von Plechanow.
Trotz seiner politischen Entwicklung empfahlen Lenin und Trotzki die philosophischen Texte von Plechanow zu studieren.
Plechanows theoretisches Werk war produktiv und thematisch sehr breit gefächert. Es reichte von den Grundlagen der marxistischen Theorie bis zur Literaturgeschichte. Plechanow gehörte zu einer Gruppe von marxistischen Intellektuellen, welche in der so genannten Periode der „Systematisierung“ des historischen Materialismus eine führende Rolle spielten. Dazu gehörten unter anderem Antonio Labriola, Franz Mehring und Karl Kautsky. Plechanow entwickelte die marxistische Theorie in der Auseinandersetzung mit, zur damaligen Zeit, wichtigen historischen und philosophischen Konzeptionen. Diese reichten von Varianten des Vulgärmaterialismus bis zu den Versuchen der „Rückkehr zu Kant“, welche vor allem durch Bernsteins „Revisionismus“ hervorgerufen wurden.
Als Mitbegründer des Begriffs „dialektischer Materialismus“ (Engels verwendete ihn bereits in seinem “Anti-Dühring” auf eine weniger „doktrinären“ Weise. Dort sagte er, der Materialismus ist „wesentlich dialektisch“) war Plechanow einer der ersten Marxisten, der sich mit zwei Fragen beschäftigte, die später zum Gegenstand tiefgreifender Debatten im Marxismus des 20.Jahrhunderts wurden: Hegels Verhältnis zum historischen Materialismus und Marx‘ Verhältnis zur Philosophie Spinozas.
In Werken wie „Zu Hegels sechzigstem Todestag“ oder „Zur Geschichtsphilosophie Hegels”, die 1891 anlässlich des 60. Todestages des deutschen Philosophen geschrieben wurden, betonte Plechanow die Wichtigkeit, Hegel neu zu studieren (eine Idee, die später von Lenin in seinen Philosophischen Notizbüchern aufgegriffen wurde). Er nahm eine kritische Lektüre der Geschichtsphilosophie vor, wobei er vier positive Aspekte zentral hervorhob: den historischen Charakter staatlicher und religiöser Institutionen sowie philosophischer Systeme, bestimmte materialistische Entwürfe, die die Bedeutung von Geographie und Praktiken zum Verständnis der Geschichte hervorheben, eine beginnende Tendenz, die Wirtschaft als Grundlage historischer Veränderungen zu identifizieren, eine dialektische Argumentationsmethode, die Veränderungen durch Sprünge erklärte, und nicht reine quantitative schrittweise Entwicklung.
Diese Rechtfertigung Hegels wurde von einer Kritik an seinem Idealismus, insbesondere aufgrund des Rückgriffs auf bestimmte „teleologische“ Argumente, wie die Erklärung des Untergangs Griechenlands begleitet, nach der sich “der Geist nicht lange halten konnte”, an der totalen Identifikation des Individuums mit dem Stadtstaat, charakteristisch für das Hegelsche Verfahren, den Geist in das Subjekt der Geschichte zu verwandeln.
Aus all diesen Gründen betrachtete Plechanow Hegel als einen Denker, der dem Materialismus der Aufklärung überlegen war, (der in der Frage der Geschichte jedoch „idealistisch“ geblieben war, da er den gesellschaftlichen Institutionen, die nicht mit seinen theoretischen Prinzipien übereinstimmten, als „Irrtümer“ charakterisierte).
Obwohl Plechanow die Tradition von Engels fortsetzte, der der Meinung war, dass Hegels Methode von seinem System getrennt werden müsse, betonte Plechanow die Elemente der inhaltlichen Kontinuität zwischen Hegel und dem Marxismus: bestimmte Umrisse des Materialismus sowie die Betonung der Dialektik, die im Sinne von qualitativen Sprüngen für das Verständnis der historischen Veränderungen verstanden wurde.
Ein problematischer oder polemischer Aspekt ist, dass Plechanow in seiner Untersuchung Hegels materialistischer Intuitionen auf die Idee hinwies, dass die Ökonomie eine „ursprüngliche Quelle“ der gesellschaftlichen Praxis insgesamt sei. Während sich diese Idee gegen bürgerliche Strömungen richtete, die das „Zusammenwirken von Faktoren“ als Erklärung gesellschaftlicher Prozesse ansehen und deren Ursachen beiseite ließen, hat die Idee eines „Urgrunds“ eine deutlich „metaphysische“ Tendenz, als eine Art Mythos eines Ursprungs, auf den alle Entwicklungen bezogen würden, in Richtung eines einseitigen Determinismus.
Aber Plechanows Untersuchung der philosophischen Grundlagen des Marxismus beschränkt sich nicht auf eine Rettung bestimmter Aspekte des Hegelschen Erbes. Auf der Spur einer Abstammung, die in bestimmten philosophischen Debatten des 20. Jahrhunderts zentral werden sollte, hob Plechanow sowohl das hegelianische Erbe des Marxismus als auch dessen Affinitäten zum Denken des großen niederländisch-jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632-1677) hervor. In verschiedenen Werken wie „Essays zur Geschichte des Materialismus“ (1891), „Bernstein und der Materialismus“ (1898), „Kant gegen Kant“ (1901) hat Plechanow auf Marx‘ Beziehung zu Spinoza hingewiesen.
Plechanow betrachtete den Marxismus als eine „monistische“ Geschichtsauffassung (d.h. eine, die ein einziges Prinzip für alles, was existiert, anerkennt). Obwohl es sich um eine Lesart handelt, die gewisse Probleme aufwirft, unter anderem die einer möglichen einseitigen Bestimmung aller Phänomene durch die Ökonomie, war diese Interpretation mit bestimmten philosophischen Debatten der Zeit verbunden, insbesondere mit den Positionen, die eine Rückkehr zum kantischen „Dualismus“ vorschlugen. Antonio Labriola betrachtete auch die „Tendenz zum Monismus“ als Charakteristikum des historischen Materialismus, im Gegensatz zu den bürgerlichen Theorien, die die „Vielheit der Faktoren“ vorschlugen, als einen Versuch, das, was vom Idealismus übrig geblieben war, aufrechtzuerhalten, indem er der Anerkennung des „ökonomischen Faktors“ Raum gab, ohne jedoch dem Ansturm des Marxismus nachzugeben.
Plechanow, wie Labriola auch, versuchte, die Erklärungen des vulgären, streng mechanistischen Materialismus zu widerlegen.
Aus diesen Gründen muss das Denken Spinozas für ihn attraktiv gewesen sein. Seine Vorstellung von einer einzigen Substanz, von der Gedanke und Ausdehnung Attribute waren, charakteristisch für seine “Ethica, ordine geometrico demonstrata” (Ethik, nach geometrischer Methode dargelegt), ermöglichte es ihm, ein einheitliches Prinzip aufrechtzuerhalten, das zugleich materiell und geistig war.
Plechanow war auch der Meinung, dass Spinoza ein dialektischer Denker war. Um diese Behauptung aufzustellen, griff er die Formulierung omnis determinatio est negatio (alle Bestimmung ist Negation) auf, die sowohl von Engels in seinem Anti-Dühring als auch von Marx im Kapital verwendet wurde, eine Formel, die aus einer gewissen Verzerrung einer Aussage von Spinoza durch Hegel stammt. Der fragliche Satz steht in seinem Brief 50 an Jarig Jelles, in dem Spinoza über endliche und determinierte Körper spricht und in diesem Zusammenhang den Ausdruck determinatio negatio est (Bestimmung ist Negation) verwendet.
Aber es ist in seiner Polemik gegen Bernstein und seinem philosophischen Gegenstück (die „Rückkehr zu Kant“), als Plechanow die erstaunlichsten Behauptungen über die vermeintlich spinozianische Zugehörigkeit des Marxismus aufstellt. Indem er den Vulgärmaterialismus gewisser Figuren der Zeit in Frage stellte, behauptete er, dass Feuerbach und Diderot Spinozisten gewesen seien und dass der Marxismus eine „Variante des Spinozinismus“ und ein „modifizierter Spinozismus“ sei. Er zitierte sogar eine persönliche Erinnerung, nach der ihm Engels in Polemik mit dem Vulgärmaterialismus, der alles als physikalisches Phänomen betrachtete, gesagt hätte, dass „der alte Spinoza“ recht gehabt hätte, der Gedanke und Ausdehnung als Attribute einer einzigen Substanz betrachtete.
Gegen die von Bernstein selbst und anderen Marxisten favorisierte Rückkehr zu Kant stellte Plechanow schließlich Spinoza als Vorläufer von Marx, und zwar gerade in der Infragestellung von Kants „Dualismus“: Für Spinoza, wie für Marx, konnte man die Materie als solche kennen, ohne Unwissbares.
Kurzum, Plechanow führte eine Reihe von Neuerungen in der Behandlung der Frage der Dialektik im Marxismus ein. Er rettete Elemente des Materialismus in Hegels Geschichtsphilosophie, insbesondere die Behandlung der ökonomischen Frage, betonte das Verständnis staatlicher, sozialer und religiöser Institutionen als einem historischen Werden unterworfen und die Dialektik als eine auf die Sprünge, die allmähliche Entwicklungen unterbrechen, ausgerichtete Denkmethode. Ebenso stechen Spinozas Konzeption einer „einzigartigen Substanz“, die im Gegensatz zum Vulgärmaterialismus die „geistige“ Sphäre einschloss, und seine Konzeption der Erkenntnis gegen die Versuche der „Rückkehr zu Kant“ als direkte Vorläufer der marxistischen Konzeption hervor.
Eine theoretische Arbeit, die in vielerlei Hinsicht ein Vorläufer späterer Debatten war, die im 20. Jahrhundert innerhalb und außerhalb des Marxismus stattfanden.
Dieser Artikel erschien zuerst auf La Izquierda Diario.