Deutscher Imperialismus in einer „multipolaren“ Welt: Außer Aufrüstung nichts zu bieten?
Vor dem Hintergrund einer verworrenen Weltordnung gab es auf der 60. Münchner Sicherheitskonferenz vor allem Durchhalteparolen und Bekenntnisse zur Aufrüstung. Eine geteilte Vision für die Zukunft aber fehlte.
So groß wie in diesem Jahr war die Münchner Sicherheitskonferenz (Siko) noch nie. Ebenso neu war die Zahl der sich verschränkenden Krisen und Unsicherheiten, vor deren Hintergrund die Veranstaltung am vergangenen Wochenende im Bayerischen Hof stattfand: der Aufstieg Chinas und der BRICS-Staaten, der Krieg Israels gegen Gaza und die Gefahr einer Eskalation im gesamten Nahen Osten, der Krieg Russlands in der Ukraine und die unsichere Unterstützung des NATO-Verbündeten durch die USA. So verworren die Weltlage ist, so sehr fehlte es der Siko an einer geteilten Vision für die Zukunft.
Geprägt wurde die Konferenz dabei nicht nur von den prominenten Gästen. Donald Trump und Wladimir Putin beherrschten die Debatten, ohne dafür anwesend sein zu müssen. Putins Russland schickte am ersten Tag der Konferenz eine Botschaft in Form der Todesmeldung seines vom Westen unterstützten Gegners Alexej Nawalny. Dessen Witwe Julia Nawalnaja hielt noch am selben Tag im großen Saal des Bayerischen Hofs eine Rede und drohte Putin und allen, die für ihn arbeiten, dass sie nicht ungestraft bleiben würden.
Trump hingegen hatte schon eine Woche zuvor seine Botschaft an die NATO geschickt. Auf einer Kundgebung in einem kleinen Städtchen in South Carolina hatte Trump gepoltert, dass er in Zukunft NATO-Staaten, die weniger als zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgeben, nicht mehr verteidigen würde. Solche Töne des Ex-Präsidenten sind nicht neu. Schon 2018 hatte er Deutschland scharf dafür angegriffen, zu wenig Geld in den Wehretat zu stecken und mit einem Austritt der USA aus dem Militärbündnis kokettiert. Warum war der Aufschrei trotzdem wieder so groß? Immerhin war Trump damals Präsident der größten Weltmacht, heute bekleidet er gar kein Amt. Doch das könnte sich schon mit den Präsidentschaftswahlen im November ändern. Zudem war Trump diesmal noch einen rhetorischen Schritt weitergegangen und hatte behauptet, er würde Russland sogar dazu ermutigen, zu tun, „whatever the hell they want“ (was immer zur Hölle sie wollen). Der größte Unterschied zu damals ist jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit einer direkten kriegerischen Konfrontation mit Russland immens gestiegen ist. Seit zwei Jahren tobt im Osten des europäischen Kontinents der erste große Landkrieg seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In Europa käme heute kein Staatschef mehr auf die Idee, die NATO als hirntot zu bezeichnen, wie es Emmanuel Macron 2019 getan hatte.
Vor diesem Hintergrund fanden die Diskussionen des Konferenzwochenendes, aber auch die vielfältigen Proteste gegen die Siko statt. Die Konferenzteilnehmer:innen und viele der Protestierenden einte die Schwierigkeit, sich in dieser verworrenen Weltordnung mit ihren volatilen Allianzen zurechtzufinden.
Ukraine: Durchhalten um jeden Preis
Nach Joe Biden dürfte Wolodymyr Selenskyj der Mann sein, der einen Sieg Trumps im Herbst am meisten fürchtet. Eine republikanische US-Regierung könnte für die Ukraine bedeuten, dass der Strom der Militärhilfen in Höhe von Dutzenden Milliarden Dollar plötzlich versiegt. Daran haben Trump und seine Getreuen in der Republikanischen Partei wenig Zweifel gelassen.
Umso verzweifelter musste der Auftritt Selenskyjs in München wirken. Auch er nahm Bezug auf den Tod Alexej Nawalnys. Putin habe eine deutliche Nachricht gesendet. Zum x-ten Mal wiederholte er seine Forderungen nach neuen Waffen, mehr Munition, einer andauernden Unterstützung und der Aufnahme in die NATO. Mit heiserer Stimme redete er denjenigen, die seine Kriegsanstrengungen am Leben erhalten, ins Gewissen: „Tun Sie nicht irgendetwas, tun Sie alles, damit wir gewinnen können.“
Natürlich war dieser Appell besonders an die Vereinigten Staaten gerichtet. Nur: Wie wenig auch Selenskyjs Fürsprecher:innen in Washington dazu einfiel, durfte Nancy Pelosi demonstrieren. Die Demokratin und ehemalige Sprecherin des US-Repräsentantenhauses drosch gegen die um sich greifende Kriegsmüdigkeit Durchhalteparolen. Für Müdigkeit sei kein Platz: „Man kämpft einfach weiter.“ Präsident Biden wolle die Unterstützung aufrechterhalten, „[d]er Sieg ist die einzige Option.“ Doch auch Pelosi muss natürlich darum wissen, wie unwahrscheinlich ein Sieg Bidens über Trump bei den Wahlen im Herbst ist.
Dabei ist die Kriegsmüdigkeit in den USA nicht das einzige Problem für Selenskyj. Auch im eigenen Land macht sich diese Müdigkeit bemerkbar, neue Rekruten zu finden, wird zunehmend schwieriger. Und auch militärisch sieht es nicht gut aus. Die strategisch bedeutsame Stadt Awdijiwka mussten ukrainische Truppen erst kürzlich aufgeben. Bis zu 1.000 Soldat:innen sollen dabei in Gefangenschaft geraten sein. „Extrem schwierig“ nannte Selenskyj die Lage an der Front zuletzt.
Die Heuchelei um Gaza und die Gefahr der regionalen Ausweitung des Kriegs
Während der Krieg in der Ukraine kein Ende nimmt, ist nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres seit über fünf Monaten ein mörderischer Krieg im Gazastreifen im Gang, der bereits etwa 30.000 Todesopfer auf palästinensischer Seite gefordert und Hunderttausende vertrieben hat. Während der israelische Präsident Isaac Herzog in einem Akt puren Zynismus‘ auf der Siko die „israelische Vision für Frieden im Nahen Osten“ präsentieren durfte, plant Ministerpräsident Benjamin Netanjahu weiter den Einmarsch in Rafah, der letzten Zufluchtsstätte der Bevölkerung im Gazastreifen, und ihre vollständige Vertreibung in die Wüste. Der ehemalige israelische Armeechef Benjamin Gantz, derzeit Teil von Netanjahus „Kriegskabinett“, kündigte an, die Offensive zu Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan beginnen zu wollen.
Während also bei der Siko diplomatisch über die „Zukunft der israelisch-palästinensischen Beziehungen“ – so der Titel eines weiteren Podiums – gesprochen wurde, schafft das israelische Regime weiterhin Fakten. Zwar fand am Rande der Siko ein Treffen zwischen dem israelischen und dem katarischen Präsidenten statt, auf das Konferenz-Chef Christoph Heusgen in seinem Abschlussstatement stolz verwies. Und selbst die EU fordert inzwischen beinahe geschlossen eine Feuerpause in der Perspektive eines Waffenstillstands, während auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Besorgnis um die Menschen in Rafah heuchelt – aber auch auf Nachfrage hin selbst keinen Waffenstillstand fordern möchte. All dies kann nicht davon ablenken, dass die imperialistischen Mächte dem Staat Israel auch in seinem genozidalen Krieg gegen die Bevölkerung Gazas weiterhin bedingungslose Unterstützung gewähren. Nicht nur politisch, auch die Waffenlieferungen stoppen Deutschland und andere Länder nicht.
Wenn sich die imperialistischen Mächte um die Zukunft der Region Sorgen machen, dann nicht wegen dem andauernden Massaker am palästinensischen Volk, sondern wegen der Gefahr der regionalen Ausbreitung des Krieges hin zu einem Flächenbrand im Nahen Osten, der Ägypten in den Krieg ziehen, perspektivisch sogar auf einen Krieg zwischen den USA und Iran hinauslaufen könnte. Wie Claudia Cinatti in ihrem ausführlichen Artikel in dieser Ausgabe unseres Magazins betont: „Die Biden-Regierung ist nicht nur mitschuldig an Israels Völkermord im Gaza-Streifen, sondern hat ihn erst ermöglicht. Gleichzeitig ist ihre Politik jedoch darauf ausgerichtet, den Konflikt in Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien und anderen Verbündeten in der arabischen Welt zu deeskalieren, um zu verhindern, dass sich die Dynamik zu einem regionalen Krieg ausweitet, der die USA erneut zu einem direkten Engagement mit Truppen im Nahen Osten veranlassen würde.“
Inzwischen wurden die Pläne der Netanjahu-Regierung für ein Nachkriegsgaza bekannt, die formell dem Kabinett vorgelegt wurden. So soll es zwar keine israelischen Siedlungen in dem Küstenstreifen geben. Doch ist klar, dass Gaza nach dem Willen Netanjahus unter die vollständige Kontrolle Israels fallen soll. Derweil droht die Lage im Roten Meer zu eskalieren. US-Streitkräfte zerstörten Marschflugkörper der Ansar Allah (Huthi) im Jemen. Mit einer Fregatte ist auch ein Staat involviert, für den solche Einsätze lange Zeit keine Selbstverständlichkeit waren: Deutschland hat im Rahmen der EU-Mission „Aspides“ die Fregatte „Hessen“ geschickt. Laut Verteidigungsminister Pistorius handelt es sich um den „gefährlichsten Einsatz der Marine seit Jahrzehnten.“ Die Truppenstärke der Mission kann auf 700 Soldat:innen ausgedehnt werden. Ein öffentlicher Aufschrei blieb weitgehend aus.
Deutschland: Die Zeichen stehen auf Aufrüstung
„Ohne Sicherheit ist alles nichts.“ Das war die zentrale Aussage der Rede, die Olaf Scholz auf der Sicherheitskonferenz gehalten hat. Wahrscheinlich hat der Kanzler noch nie so offen ausgesprochen, dass seine Regierung dazu bereit ist, alles der Aufrüstung, der Kriegstüchtigkeit unterzuordnen. Sein liberaler Finanzminister Christian Lindner hat indes ausgesprochen, was denn der „Sicherheit“ untergeordnet werden soll. Er will Sozialausgaben über Jahre hinweg einfrieren. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge nannte dies eine „sozialpolitische Zeitenwende“. Teilen der Regierung scheinen die militaristischen Bestrebungen aber noch nicht weit genug zu gehen: So kritisierte etwa Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), dass ein neuer Antrag, den die Ampelfraktionen zur weiteren Unterstützung der Ukraine formulierten, nicht explizit die Lieferung von Marschflugkörpern des Typs „Taurus“ beinhaltet, sondern lediglich von „weitreichenden Waffensystemen“ die Rede war. Inzwischen stimmte der Bundestag vorläufig gegen Taurus-Lieferungen, aber für weitgehende Waffenlieferungen.
Scholz‘ Rede auf der Sicherheitskonferenz drückte jenseits der implizit geäußerten Aufrüstungsbestrebungen und ihrer Schwierigkeiten Schwächen des deutschen Imperialismus aus. Er sprach fast ausschließlich über die Abschreckung Russlands und die Notwendigkeit, die Ukraine mit weiteren Waffen zu beliefern. Doch hatten sich im Vorfeld die Organisator:innen damit gerühmt, dass Vertreter:innen aus dem sogenannten Globalen Süden auf der diesjährigen Zusammenkunft besonders zahlreich vertreten sein würden. In ihre Richtung vermittelte Scholz nicht. Insbesondere verzichtete Scholz darauf, irgendeine Kritik an dem brutalen Vorgehen Israels in Gaza anzudeuten, wie sie von Regierungen von Staaten außerhalb des westlichen Bündnisgefüges zunehmend geäußert wird.
Die Aufgabe dieser Vermittlung hätte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zufallen können, der an einem Panel mit seinen Amtskollegen aus Tansania und Singapur teilnahm. Doch auch er sprach vor allem über Russland und die Ukraine. Auch er drosch Durchhalteparolen: „Unsere Unterstützung der Ukraine ist beständig und auf Dauer ausgelegt. Wir werden durchhalten. Wir werden standhalten.“ Wie sein Parteigenosse Scholz betonte er den Aufrüstungswillen Deutschlands. Stolz sei man, mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung auszugeben. Doch kaum hat der deutsche Imperialismus dies einmal hinbekommen, will Pistorius mehr. Er sei „realistisch genug, um zu erkennen, dass dies in den kommenden Jahren möglicherweise nicht ausreichen wird“. Drei oder dreieinhalb Prozent könnten es in Zukunft sein.
Die Forderung nach einer Anhebung des NATO-Ziels wurde von den Leitartiklern der Republik bereits dankbar aufgegriffen. „Die Zeitenwende muss endlich kommen“, geiferte Martin Knobbe im Spiegel und redete Pistorius das Wort, dass das von den NATO-Mitgliedern festgeschriebene Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, nicht ausreiche, um Europa gegen Putin wehrhaft zu machen. Diese mediale Kampagne bleibt nicht ohne Wirkung in der öffentlichen Meinung, wie das aktuelle ZDF-Polibarometer zeigt. 62 Prozent der Befragten gaben an, dass die europäischen Staaten der Ukraine mehr Waffen liefern sollen. Im Januar waren es noch 51 Prozent gewesen. Auch wenn dafür in anderen Bereichen eingespart werden muss, befürworten 72 Prozent mehr Geld für die Bundeswehr. Auch diese Zahl ist stark gestiegen.
In Bezug auf den Globalen Süden riet Pistorius, man müsse sich mit diesen aufstrebenden Mächten auseinandersetzen, „sehr viel mehr, als wir das bisher getan haben“. Doch auch Pistorius weiß, dass das Angebot, das Deutschland zu machen in der Lage ist, schwach ist. So musste er eingestehen, dass es nicht darum geht, diese Mächte „zu zwingen, sich für eine Seite zu entscheiden“.
Aber auch andere haben Schwierigkeiten dabei, die „aufstrebenden Mächte“ für sich einzunehmen. So sprachen Annalena Baerbock und Anthony Blinken (USA) mit ihrem Amtskollegen aus Indien, Subrahmanyam Jaishankar. Als Blinken die strategische Konkurrenz mit China ansprach und betonte, dass man den Ländern eine gute Wahlmöglichkeit bieten solle, gab sich Jaishankar selbstsicher in der Position, von verschiedenen Großmächten umworben zu werden: „Warum sollte das ein Problem sein? Wenn ich smart genug bin, verschiedene Optionen zu haben, sollten Sie mich bewundern, nicht kritisieren.“
Militärisch aufzurüsten ist nur eine Bedingung, um zu einer tatsächlichen Führungsmacht aufsteigen zu können. Darüber hinaus scheinen dem deutschen Imperialismus die Möglichkeiten zu fehlen, in einer verworrenen Weltordnung jenseits des herkömmlichen NATO-Denkens seine Bündnisse zu finden. Diplomatische Reisen von Regierungsvertreter:innen, darunter auch Pistorius, etwa nach Afrika oder Südamerika, hatten in den vergangenen Jahren keine nennenswerten Erfolge zeigen können. An einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“ mit Deutschland, wie sie der deutsche Imperialismus anbieten will, scheint wenig Interesse zu bestehen.
Russland und China: Wegweiser in eine friedliche multipolare Welt?
Gegen die Sicherheitskonferenz protestierten am vergangenen Samstag etwa 2.500 Menschen. Zentral in diesem Jahr war der Krieg in Gaza und der Genozid, den Israel an der palästinensischen Bevölkerung begeht. Dementsprechend gab es neben dem antikapitalistischen Block im vorderen Teil der Demo auch einen großen Palästina-Block. So richtig und wichtig dieser Protest war, so perspektivlos ist das Aktionsbündnis, das ihn organisiert hat. Als ein Ausläufer der historischen Friedensbewegung mit bedeutendem stalinistischen Einschlag befindet es sich seit Jahren auf dem Abschwung. Besonders der Krieg in der Ukraine hat große Verwirrung erzeugt.
Die Äußerungen des Anti-Siko-Protestbündnisses klingen stellenweise so, als könnten sie auch auf der Sicherheitskonferenz selbst geäußert werden: „Doch um globale Herausforderungen zu bewältigen, benötigt die Menschheit den Willen zur Kooperation sowie eine Stärkung der Vereinten Nationen (UN) und anderer Foren, die einen Dialog ermöglichen.“ Das Bündnis ist überzeugt, diese Foren würden „von Propagandaveranstaltungen wie der Siko untergraben.“ Doch hat der UN-Generalsekretär Antonio Guterres auf der Konferenz die Eröffnungsrede halten und „einen Anstieg der Diplomatie für den Frieden, einen Anstieg des politischen Willens zum Frieden und einen Anstieg der Investitionen in den Frieden“ fordern dürfen. Auch der Siko-Vorsitzende Heusgen kennt sich mit den Vereinten Nationen bestens aus. Unter Angela Merkel diente er von 2017 bis zum Juni 2021 als Ständiger Vertreter Deutschlands bei der UN.
Nach Guterres‘ Eröffnung aber ging die Konferenz ihren gewohnten Gang, bei dem von einem Willen zum Frieden wiederum nichts zu spüren war. Guterres und die UN durften das gute Gewissen abgeben, was nur allzu gut zu der kraftlosen Rolle der Vereinten Nationen auf dem internationalen Tableau passt. Keine Forderung von links nach ihrer Stärkung wird daran etwas ändern können.
Steckt hinter dieser Forderung also nur Naivität? Das mag für einen Teil des Spektrums gelten. Die Hoffnungen des Aktionsbündnisses in die UN müssen aber vielmehr als Teil einer Suche nach internationalen Akteuren verstanden werden, die dem „Westen“ entgegentreten.
Größere Hoffnungen als in die UN setzt man hierbei ohnehin in Russland und China. So hieß es im Aufruf des Aktionsbündnisses: „Die Machtverhältnisse auf der Welt verändern sich, weg von der Dominanz des ‚Westens‘, hin zu einem Erstarken unterdrückter Länder, die sich um den ’systemischen Rivalen‘ China gruppieren.“ Man muss die Passage beinahe so verstehen, als zähle China, das längst imperialistische Züge trägt und dabei ist, sich zu einer global agierenden Großmacht aufzuschwingen, ebenfalls als ein solches unterdrücktes Land. Weiterhin forderte das Bündnis eine „weltweite friedliche und solidarische Kooperation auf Augenhöhe“.
Hierin drückt sich dieselbe Illusion aus, wie man sie auch bei Herfried Münkler findet, es könne einen friedlichen Ausgleich zwischen den im Auf- und im Abstieg begriffenen Großmächten geben. Dass China die Rolle spielen wolle, diese Stabilität zwischen den Großmächten zu gewährleisten, bekundete Außenminister Wang Yi. So verteidigte er sowohl die Partnerschaft mit Russland ebenso wie diejenigen mit Europa und den USA. Ebenso hob er die Rolle seines Landes in der Vermittlung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran hervor. Auch auf ein Ende des Palästina-Konfliktes arbeite China hin. Und nicht zuletzt setze man sich für die Stärkung der Vereinten Nationen ein – eine Agenda, die den Positionen des Anti-Siko-Protestbündnisses auffällig ähnelt.
Nachdem der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine das Bündnis im letzten Jahr dazu gezwungen hatte, eine etwas russlandkritischere Position einzunehmen, war diese bei den diesjährigen Protesten bereits wieder verflogen. Zwar sind die Zeiten wohl endgültig vorbei, als russische Fahnen auf der Demonstration fest zum Bild gehörten. Doch auch in diesem Jahr betonte die Bündnisrede auf dem Münchner Stachus, dass es ein „friedliches Europa nur mit und nicht gegen Russland geben“ könne.
Die Akteure des Münchner Protestbündnisses sind mit diesen Positionen nicht allein. Es gibt aktuell deutlich wichtigere, die sie weitgehend teilen. Das ist allen voran das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). War das BSW (gemeinsam mit der AfD und der Werteunion) nicht zur Siko eingeladen gewesen, da die Mitglieder ursprünglich für DIE LINKE in den Bundestag gewählt wurden, fand sich der Name des jungen Parteiprojektes in der Liste der Unterstützer:innen des Gegenprotestes. Zwar waren keine Fahnen des BSW auf dem Protest zu sehen gewesen – vielleicht hat die junge Organisation auch noch gar keine. Doch so, wie Trump und Putin die nicht anwesenden „Elefanten im Raum“ auf der Konferenz waren, galt dasselbe für den Protest und Sahra Wagenknecht.
Die Vision, die von den Vertretern des Protestbündnisses etwas verklausuliert und rhetorisch ungelenk vorgetragen wurde, erläuterte Wolfgang Streeck unlängst im New Statesman deutlicher. Um Frieden statt Krieg zu sichern, bestehe der Weg Deutschlands darin, sich aus dem geostrategischen Griff der USA zu lösen; Deutschland müsse von den nationalen Interessen anstelle der Loyalität zum US-amerikanischen Anspruch auf die globale politische Herrschaft geleitet werden. Wagenknechts Forderung etwa nach dem Ende des Öl- und Gasembargos stehe genau damit im Einklang. Jene Abkehr von den USA, die Wagenknecht vorschlägt, kann als „souveränistisch“ bezeichnet werden.
Wagenknecht und die Partei von ihrer Gnaden wären sicher auch bei einem anderen Protest gar nicht schlecht aufgehoben gewesen. Unweit der linkeren Demonstration hatte sich am Königsplatz ein Protest aus dem „Querdenken“-Spektrum eingefunden. Dort ging es deutschtümelnder zu, statt roter und palästinensischer Fahnen wie am Stachus dominierte dort blau mit Friedenstauben und schwarz-rot-gold. Doch auch hier findet sich in einer etwas rechteren Ausprägung der Souveränismus, der Deutschland von den USA gelöst sehen will und den Ausgleich mit Russland und China sucht. Auf der Kundgebung am Königsplatz sprach auch der ehemalige Linksparteipolitiker und Wagenknecht-Fan Diether Dehm. Deutlicher jedoch brachte eine andere abgehalfterte Politfigur diesen rechten Souveränismus auf den Punkt. Jürgen Todenhöfer, Ex-CDU-Politiker, Millionär und Anführer der Partei Team Todenhöfer, klagte an: „Im Interesse Deutschlands liegt nicht Krieg mit Russland, sondern Frieden mit Russland, Partnerschaft mit Russland, Freundschaft mit Russland.“ Die russischen Rohstoffe könnten verbunden mit der technologischen Stärke Europas Freiheit und Unabhängigkeit von den USA bedeuten. Wagenknecht und Todenhöfer könnten sich eigentlich auch gut zusammenschließen, wenn eine Fusion nicht heißen müsste, dass ihre Politprojekte dann nicht mehr ihren Namen tragen könnten.
Statt dem Blockdenken: eine unabhängige Perspektive der Arbeiter:innenklasse
Die Tendenzen zu Kriegen und zur organischen Krise in verschiedenen Ländern verschärfen sich. Die „progressivsten“ Visionen in dieser immer stürmischeren internationalen Situation, die auf der Siko zum Ausdruck kamen, hoffen auf eine multilaterale Stabilität, deren Träger jedoch zweifelhaft sind. Nicht nur kann man dem Block zwischen China und Russland keinen progressiven Charakter zusprechen, nur weil sich beide Staaten als „antiwestlich“ positionieren. Auch die mal mehr, mal weniger linke „souveränistische“ Vision einer größeren „Unabhängigkeit“ von den USA unter Führung Deutschlands, die mit der multipolaren Illusion einhergeht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter den verschiedenen multipolaren Playern handfeste imperialistische Kapitalinteressen stehen.
Neben der Unterordnung unter die politische Führung Chinas und Russlands gibt es in der deutschen und internationalen Linken gleichermaßen die Tendenzen, de facto in die Gefolgschaft der NATO-Staaten einzutreten. Das linke Magazin ak hob eine solche Position auf die Titelseite ihrer aktuellen Ausgabe, die mit kleineren rhetorischen Anpassungen auch in ein konservatives Medium gepasst hätte. Darin wird unter dem Titel „Multipolare Weltunordnung“ nicht einmal mehr die Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung oder einer angeblich gegen die russische Invasion kämpfenden ukrainischen Linken gefordert. Hanna Perekhoda appelliert darin stattdessen für „Solidarität mit der Ukraine“ und beklagt die „gravierenden Folgen der entstehenden Multipolarität“ und propagiert eine „Universalität von Normen“ sowie die „Universalität der Sanktionen bei Verletzung dieser Normen“. Nur traut sich Perekhoda dann nicht mehr zu sagen, dass es natürlich nur die imperialistischen Staaten des Westens sind, die solche Sanktionen umsetzen können.
In einem solchen „Blockdenken“, wo die Arbeiter:innenklasse und die Jugend nur die Wahl zwischen mehr oder weniger „progressiven“ Kapitalblöcken haben sollen, kann es keinen Ausweg aus den tiefgreifenden Krisenerscheinungen des Kapitalismus geben.
Doch schon jetzt haben die Verwerfungen seit der Großen Rezession von 2008, die sich erst mit der Pandemie und mit dem Ukrainekrieg und nun mit dem israelischen Genozid in Gaza noch weiter verschärfen, gewichtige Phänomene des Klassenkampfes auf den Plan gerufen. Zwar war der Klassenkampf, neben Trump und Putin, der dritte abwesende Faktor bei der Siko – auch bei den offiziell organisierten Gegenprotesten spielte dieser kaum eine Rolle –; aus der internationalen Situation aber ist er nicht mehr wegzudenken.
Es ist auch der Klassenkampf, der dem aktuell bestimmenden politischen Phänomen des Moments – der Aufstieg der extremen Rechten im Schatten der Militarisierung in mehreren Ländern des Zentrums und der Peripherie – als Einziges Einhalt gebieten kann. Zeuge davon ist die Bereitschaft zum Kampf, die wichtige Teile der Arbeiter:innenklasse, der Jugend und der Massen zeigen. Das gilt heute vor allem für die Bewegung gegen den Genozid in Gaza, die trotz massiver Hetze und Repression womöglich die größte antiimperialistische Antikriegsbewegung seit dem Vietnamkrieg darstellt. Doch auch die wichtigen Arbeitskämpfe der letzten Jahre insbesondere in den zentralen Ländern, wie der Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich oder die Streikwellen in den USA, in Großbritannien und selbst in Deutschland, weisen auf eine Veränderung im Bewusstsein von Millionen hin. Es fiel Heusgen als Veranstalter der Konferenz zu, am Sonntag abschließende Kommentare abzugeben. Er fragte, was denn die „silver linings“, der Silberstreif am Horizont, angesichts der Krisen in der Welt seien? Heusgens Hoffnung liegt in dem ukrainischen Präsident Selenskyj, dem transatlantischen Bündnis und der Diversität mit mehr Frauen und mehr Vertreter:innen aus dem Globalen Süden.
Unsere Perspektive sieht anders aus: Anstatt Hoffnung auf die Gutmütigkeit dieser oder jener Großmacht zu setzen, setzen wir auf die Entfesselung der Kraft der Arbeiter:innen und der Jugend. Auf dass zu den Krisen und Kriegen auch immer mehr Revolten und potenziell auch Revolutionen hinzutreten werden.