Der „White Noise“ des Terrors

29.10.2019, Lesezeit 15 Min.
1

Gut zwei Wochen sind seit dem Anschlag in Halle vergangen. Penelope Kemekenidou von Brot und Rosen und Gender Equality Media zieht eine Bilanz über die Medienberichterstattung der Tat.

Beitragsbild: Screenshot aus dem Manifest

16 Tage ist es nun her, dass Balliet zwei Menschen erschossen hat. Die Meldungen über die selbst ernannte “Niete” sind omnipräsent, wiederholen sich. Er ist Antisemit, rechtsradikal, da ist man sich einig. Manchmal findet sich in den Meldungen auch irgendwas mit Gamern und Gewalt in Spielen. Man kann sie gar nicht mehr auseinanderhalten; wie white noise, Störgeräusche im Hintergrund, überschlagen sich die Meldungen, die sich so gleichen, dass sie zu einem einzigen Surren verblassen. Am Ende weiß man sehr viel über den Täter und doch sehr wenig, es scheint kompliziert. Veronika Kracher, Expertin für rechten digitalen Terror, veröffentlicht wenige Stunden nach der Tat eine sehr gute Analyse des Täterumfelds auf facebook–  der post wird bei NSU watch und tagesspiegel gespiegelt. Aber seitdem folgte keine weitere umfassende Analyse des Geschehens. Statt Klarheit zu schaffen, werden immer mehr Expert*innen zu Einzelaspekten befragt, die die Diskussion in verschiedenste Winkel lenken.

Dabei nennt Balliet sowohl im Video als auch in seinem Manifest sehr klar, was sein Feindbild ist. Es sind Jüd*innen, der Feminismus, und Marxist*innen. Aus seinen Aussagen wird unmissverständlich klar, Balliet ist ein Faschist. Doch statt einer Diskussion um den Faschismus in Deutschland beobachten wir eine Fragmentierung der Debatte, die zeigt, dass der derzeitige Diskurs keine Antwort auf den Faschismus und seine Nieten hat. Aber auch, wieso er sie auch gar nicht haben kann.

 

angry white Nieten

Hass ist das, was Männer wie Balliet antreibt, aber dessen Form wird oft missverstanden. In der Wohnung des Täters sollen die Polizist*innen später Zettel finden, auf denen “Niete” steht. Der Münchner Merkur und die Ermittler*innen könnten entfernter von der Wahrheit nicht sein, wenn sie diese als geplante Beleidigung für die eintreffende Polizei interpretiert. Das Video in dem Balliet sich selbst etliche Male als “Loser” tituliert, ist schon seit Beginn der Tat im Umlauf. Mit “Niete” meint er nur sich selbst.

Balliet ist in den Sphären der incel community unterwegs. Incels, ein Kofferwort aus „involuntarily celibate“, also „unfreiwillig enthaltsam“, das sind Männer, die man weitläufig unter die angry white males eingliedert: weiße Männer, die sich von der Gesellschaft verraten, verkauft, bestohlen fühlen. Sie sehen sich als die Verlierer des Systems, die Nieten, die Loser. Incels speziell fühlen sich besonders ihres Rechts auf die Verfügbarkeit von Frauen* [Anm. der Red.: das Sternchen ist hier bewusst gesetzt, denn für diese Menschen zählt als „Frau“ nur, wen sie als solche lesen, egal ob zurecht oder nicht], Geld und Macht beraubt, und sehen dabei das größte Problem im Aufkommen des Feminismus. Für sie sind Frauen* generell Untermenschen, die es zu unterjochen gilt. Dabei wird nicht nur die Trennung zwischen Mächtigen und benachteiligten Männern aufgemacht – in der Ideologe der Incels spielt Rassismus eine zentrale Rolle. Die zu Grunde liegende politische Theorie kommt aus Frankreich und ist unter dem “Großen Austausch” bekannt, und ist im Grunde betrachtet nur ein facelift des Begriffs der “Umvolkung”. Die Kernideologie der neuen Rechten geht auf ein Essay von Renaud Camus zurück, der ein führendes Mitglied der rechtsnationalistischen Kleinpartei Souveraineté, identité et libertés (SIEL) ist. Es ist eben diese Ideologie die der Täter in seinem Video zum Ausdruck bringt:

„Hallo, mein Name ist Anon. Ich denke, der Holocaust ist nie passiert. Feminismus ist die Ursache des Abstiegs des Westens, der als Sündenbock für Massenmigration agiert. Und die Wurzel aller aller dieser Probleme ist der Jude. Wollen wir Freunde sein?“

Bislang wurde das Ausmaß antifeministischer Gewalt banalisiert, maximal anekdotisch angemerkt, jedoch nicht in einen Kontext gesetzt. Auch dieses Mal wird in allen Berichten Balliets Anmerkung zu Feminismus aufgenommen, jedoch nicht weiter behandelt. Balliets Antifeminismus scheint dabei eher wie ein Teil seines Antisemitismus, seiner rechten Gesinnung. Antifeminismus ist aber kein Nebenprodukt, sondern zentraler Teil des Faschismus. Derselbe Fehler wurde schon bei dem Christchurch Attentat begangen, der ebenso vom “Großen Austausch” redete. Elliot Rodger, als “incel Held” gefeiert, scheint auch schon längst vergessen. Er tötete 2018 aus Rache für seine Jungfräulichkeit Schülerinnen seiner Schule sowie vier junge Männer. In seinem Manifest schrieb er: “Wie kann ein schwarzer Junge eine Frau bekommen und ich nicht?”. All diese Männer haben sich als Verlierer des Systems verstanden, die sich etwas beraubt fühlten, was ihnen ihrer Meinung nach eigentlich zustand. Balliet selbst nennt sich im Video auch immer wieder “Loser” – er schafft es “zu wenige” zu erschießen, kommt nicht in die Synagoge. “Einmal Verlierer, immer Verlierer”, sagt er am Ende. Balliets Tat ist getränkt im “Loser”-Narrativ. “Versager”, “Niete” –  diese Begriffe türmen sich in seinem Sprachgebrauch. Ihn also nicht unter den Aspekt der incels und des Antifeminismus zu problematisieren, macht es unmöglich, Täter wie ihn zu verstehen, und damit auch unmöglich eine Antwort auf seinen Faschismus zu finden.

 

Die Mutter ist Schuld. Die Mutter ist Schuld?

Während eine Unfähigkeit zu bestehen scheint, die Tat unter diesem feministischen  Aspekt zu sehen, verfällt gerade die Berichterstattung in einem Frauenmagazin in einen Fehler, der hier fast schon zynisch wirkt.

“Ich bin eine Mutter. Ich bin eine ehemalige Lehrerin. […] Schuld ist die Mutter des Attentäters Stephan B., […] Ich verschwende kein Wort an ihn. Ich empöre mich über seine Mutter.”

Das sind die Worte einer TV-Moderatorin in einem Gastbeitrag der SUPERillu. Das Bild des angry white male, des Mannes, der wütend ist, der zurückgelassen von der Gesellschaft in einem blutrünstigen Massenmord verfällt, enthält oft eine elementare Komponente: an diesen “Losern” der Gesellschaft, haben natürlich auch immer die Mütter Schuld. In American Psycho sowie in der neuen Joker Verfilmung sehen wir, dass zu einem weißen, amoklaufenden Mörder, auch immer eine Mutter gehört, die Teil des Problems ist, die das Individuum krank gemacht hat. Und so kommt es, dass der Fokus auch dieses Mal auf der Suche nach einer Antwort, die Frage nach der Mutter fällt. Für die TV-Moderatorin steht fest:

„Niete“ stand auf den Zetteln, die ihr Sohn überall in der Wohnung hinterließ. Das sind Sie, Frau B., eine Niete. Jeder einzelne Zettel ist für Sie bestimmt. NIETE.”

Der vom Autor Philip Wylie in den 50er Jahren geprägte Begriff des momism scheint heute vergessen, die Ideologie blieb aber offenbar blendend erhalten. Damals dachte man für die Masse an depressiven, nicht belastbaren jungen Männern, die desillusioniert und ambitionslos auf den amerikanischen (Nachkriegs-)Arbeitsmarkt blickten, endlich einen Grund gefunden zu haben: die Mütter. Die Väter waren (fast) alle im Krieg gewesen, und die Jungen mussten  von den Müttern alleine großgezogen werden. Diese konnten natürlich als Frauen*, den jungen Männern nicht in ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung das geben, was “echte” Männer brauchten. Stattdessen hatten sie die verweichlichte, also weibliche und „hysterische“ Erziehung der Mutter allein zu erdulden. Es ist bezeichnend, dass sich diese Denke gerade in Frauenmagazinen erhalten hat.

Mit dem Auslassen der Debatte über Balliets Antifeminismus wird es unmöglich gemacht, auf das Narrativ der “Niete” und diese krankhafte Sicht der Männlichkeit einzugehen. Ohne aber den Blick auf diese, kann man den Faschismus gar nicht behandeln. Das fällt innerhalb einer politischen Landschaft natürlich schwer, die selbst von antifeministischen Strukturen geprägt ist. Dass das Recht auf Abtreibung in den USA wieder zurückgenommen wird, in Polen Sexualkunde in der Schule unter Strafe gestellt werden soll, in Deutschland Abtreibung nicht legalisiert wird, ist eine Rückkehr zu faschistischen Ideologien und Teil des Abbaus der demokratischen Rechte.  Um also eine relevante Debatte über “Nieten” wie Balliet führen zu können, müssen wir zum einen über den Mangel an feministischen Debatten sprechen, und welche Rolle die Rechte der Frauen* für eine gleichberechtigte Gesellschaft haben.

 

„Kill a jewess, Kill a communist“

Zurück aber zum Anfang – die Tat geschah an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, Balliet plante die Attacke bei einer Synagoge. Es ist unter anderem das Scheitern der 3D Plastikwaffen, das mehr Opfer verhindert hat. Nach der Tat an Jom Kippur ist es Notwendigkeit und Pflicht, den Antisemitismus verstärkt ins Visier zu nehmen. Fast alle Medien nannten die Tat zurecht antisemitisch und rechtsradikal. Fast alle haben den Tenor, man müssen nun dem Antisemitismus „etwas“ entgegensetzen. Dass eigentlich in keinem Artikel genau steht, wie dieser Kampf aussehen soll, zeigt aber, dass der Kampf gegen Antisemitismus, getrennt von der Frage des aufkeimenden Faschismus in Deutschland, kaum zu lösen ist. Neben „Kill a jewess“ findet sich so auch „Kill a communist“ im Manifest. Balliet folgt der Idee vom “Großen Austausch”. Für ihn sind “die Juden” der Grund dafür, dass er im Leben scheitert, privat wie ökonomisch. NEET und Nieten, diese beiden Begriffe werden in faschistischen Foren fast gleichgesetzt. NEET, das bedeutet “Not in Employment, Education, or Training”. Dabei fühlen sich Jugendliche zurecht nicht abgeholt. Die Aufstände und Streiks nehmen weltweit von Tag zu Tag zu und werden von den jeweiligen Staaten gewaltsam niedergedrückt: Chile, Libanon, Ecuador, um nur wenige der letzten Tage zu nennen.

1

Ein Auszug aus dem Manifest Teil „Achievements“

Es ist der Mangel an ehrlichen, und der Überfluss an hegemonialen Debatten über die momentane politische Krise, die es Faschist*innen leicht macht, NEETs ihre Ideologie aufzuschwatzen, und sie zu ihren “Nieten” zu machen. Nehmen wir den Kampf gegen Antisemitismus also ernst, so kann die Antwort nicht die sein, nur für einen diffusen, verstärkten Kampf “gegen Antisemitismus” zu appellieren. Für eine vollständige Antwort auf Antisemitismus bräuchte es im Journalismus auch eine vollständige Systemkritik, die die Themen der “NEETS” auch aufgreift. Statt Systemkritik, verlagerte man die letzten Tage jedoch die Diskussion wieder auf zweitrangige Themen. Durch den Fokus auf die Gamer Szene und die “Gamifizierung des Terrors”, wurde ein Ersatzdiskurs geschaffen, der eben diese Systemkritik schachmatt setzt.

 

Nicht nur Gamer, sondern Soldat

Es ist wahr, dass die Tat für ein weltweites Publikum geplant war, über Foren wie 4chan oder twitch, Kommunikationsplattformen, die in der Gamer Szene beliebt sind. Der Täter nennt sich selbst anon, in Image Boards, wie 4chan kurz für “anonymous user”. In seinem Manifest  spricht er von “body counts”, also von High-Scores für Morde. Die Kameraperspektive erinnert an die von Kriegsspielen. Diese Ästhetik wird unter dem Begriff des “gamification of terror” zusammengefasst – also dass Gewalt und Krieg, sich der Sprache und des Looks von (Konsolen-)spielen bedienen. Statt des Beginns einer politischen Debatte, verlagert sich der Fokus wieder auf die Gaming Industrie, und auf die Frage der individuellen psychischen Labilität von Gamer*innen. Es wird darüber debattiert, welche Rolle Spiele spielen, und wie viel Einfluss die Ästhetik und Sprache dieser Spiele auf Menschen hat. Doch hier herrscht in den Medien eine Falschdarstellung vor: die Gamifizierung des Terrors kam nicht durch die Spiele in den Terror. Diese Ästhetik kommt aus dem Militär selbst, und fand erst so ihren Weg in die Spiele. Balliet war nicht nur Gamer, sondern auch bei der Bundeswehr.

Kriegsspiele sind so designt, dass sie der Realität möglichst nah kommen. Dazu gehört auch die zu belohnen, die am meisten der Feinde umbringen. Eine Gamerin stellt dabei eines klar: “die Idee des High-Score-Knackens ist nicht dem Internet entsprungen. Es wurde lediglich vom Militärwesen adaptiert. “ Im zweiten Weltkrieg kulminierte der body count bei den Wehrmacht und Einsatzgruppen, die die Morde an Jüd*innen genau katalogisierten. Flieger auf Seiten der Amerikaner als auch der Deutschen, machten sich Strichlisten auf ihre Flieger der abgeschossenen Gegner, einen Score über ihren Wert wurde damals schon angelegt. Zwei Offiziere in Nanking hatten 1937 einen Wettbewerb darüber, wer zuerst hundert Menschen mit dem Schwert in China töten würde – und die Tokyoter Zeitung berichtete darüber, wie über ein Sportereignis. Die Methodik verfestigte sich dann vor allem während des Vietnam Kriegs, um die Motivation unter den Soldaten aufrechtzuerhalten, die unter Drogen das My Lai Massaker verübten.

 

Warification, statt Gamification

Die Debatte um die gamification of terror trägt fälschlicherweise dazu bei, den Ursprung der Gewalt in der Entwicklung der Gaming Szene zu sehen. Sie beraubt der Problematik somit ihrer historischen Dimension, und hilft so, den wahren Ursprung und Nutznießer dieser Ästhetik zu verdecken: das Militär. Statt über die problematische Gaming Industrie, sollte man also über die fortschreitende warification, also einer Ästhetisierung des Krieges der Gesellschaft, durch das (deutsche) Militär sprechen. Gamification of terror ist eine Fortentwicklung, eine neue (digitalisierte) Facette der Ästhetisierung des Kriegs, die Gewalt und Militär attraktiver machen soll. Die deutsche Bundeswehr wirbt genauso wie viele andere mit dieser gamifizierten Ästhetik.  “Multiplayer at it´s best” kann man auf Plakaten der Bundeswehr lesen, YouTube Sendungen wie man Handgranaten wirft, zum Teil aus Gaming Perspektive gedreht, gehören zum “Infomaterial”. “Mein nächstes Ziel” ist dabei der Button zum nächsten Video. Auch Balliet war bei der Bundeswehr, und war von dieser Ästhetik angesprochen; er hatte sich auch kurz für eine Ausbildung beworben.

Als Faschist nutzt Ballier gezielt diese Kriegsästhetik, um sein Publikum anzusprechen. Was ihn aber zur Tat motivierte, war nicht die Ästhetik von Spielen, sondern seine Überzeugung für den Faschismus. Die Debatte um die Gamingszene  führt dazu, dass wir über fanatisierte Gamer*innen und einer Ästhetik der Gewalt reden, wenn es eigentlich darum gehen sollte, dass gerade eine neue Welle der inneren Militarisierung in Deutschland stattfindet. Niemand wird wegen einer ansprechenden Ästhetik zu Massenmörder. Mit der Debatte um die Ästhetik in der Gaming Kultur, ignorieren wir die Frage der Ideologie, die hinter den Tätern steckt. Die Ästhetisierung des Kriegs ist elementar für Deutschland, die USA und andere imperialistischen Länder, und deshalb auch vom Militär angefacht. Wir sollten über gamification of terror sprechen – aber in dem Kontext, wer denn gerade ein Interesse an der warification, also an der Ästhetisierung des Kriegs hat. Das bedeutet, konsequent über die Rolle der Bundeswehr bei der Jugend und die innere Militarisierung zu sprechen, statt primär über Computerspiele und Spieler*innen.

 

Dem White Noise zum Trotz

Fragmentierte Diskurse hüllen den Faschismus in ein Störgeräusch von Einzeldebatten, sodass er unentdeckt weiter gedeihen kann. Es macht keinen Sinn Balliet isoliert unter dem Aspekt des Antisemitismus, Antifeminismus oder der warification zu diskutieren, denn es ist nicht ein Teil davon, der ihn komplett erklären kann. Balliet beging diese Tat nicht “nur” als ein psychisch labiler Gamer, oder “nur” als ein wütender, rassistischer junger Mann. Er kam als dieser in die Foren, und radikalisierte sich dort. Die Tat beging er dann als Faschist. Der Faschismus schafft es sehr gut, über die These vom “Großen Austausch” seine einzelnen Themenfelder zusammenzubringen. In seinem Manifest stellt Balliet dabei klar, wen er als Feind benennt: Muslime, Jüd*innen, Frauen* und Marxist*innen. Der Marxismus wirkt nur auf den ersten Blick fremd in dieser Liste, denn er vereint Feminismus und Antirassismus in einem Kampf der Arbeiter*innen. Wir können keine andere Perspektive haben als die, diese drei Aspekte medial wie auch politisch deutlich zusammenzuführen. Das wäre eine klare Ansage, den ganzen Störgeräuschen zum Trotz.

Und hier geht es zum Blog von Gender Equality Media.

Mehr zu Antisemitismus

Vor einiger Zeit erschien auf KgK eine vierteilige Reihe über Antisemitismus, die stärker auf die Hintergründe und Zusammenhänge des Antisemitismus eingeht:

Mehr zum Thema