Der Ukrainekrieg und Russlands Stellung in der Welt
Russland musste bei seiner Invasion in der Ukraine – einem Krieg, den es mühelos und in kürzester Zeit zu gewinnen glaubte – einige schwere Rückschläge hinnehmen. In diesem Artikel werfen wir einen Blick darauf, welche Stellung Putins Land in der internationalen Hierarchie einnimmt und wie der Ausgang des Krieges dies neu definieren könnte.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die seit langem geführte Debatte über den Platz, den die Russische Föderation auf internationaler Ebene einnimmt, noch dringlicher gemacht. Die eindeutig reaktionäre Aggression der Putin-Regierung, in deren Folge sie einen großen Teil des Donbas annektiert hat – zusätzlich zu dem 2014 besetzten Gebiet der Krim –, hat mehr als eine politische Strömung oder Autor:in dazu veranlasst, Russland schlicht und einfach einen imperialistischen Charakter zuzusprechen. Wir sind der Meinung, dass eine Charakterisierung, die sich allein auf dieses Element stützt, den Charakter Russlands nicht angemessen wiedergibt.
In einem kürzlich erschienenen Artikel haben wir bereits die Ansicht vertreten, dass das kapitalistische Russland, welches mit der bürgerlichen Restauration in den Jahren 1989 bis 1991 und den darauf folgenden turbulenten Jahren Gestalt annahm, zu einer Gruppe gesellschaftlicher Zwischenformationen gehört, für die wir die Kategorie der abgeschwächten Abhängigkeit oder mit abgeschwächten Merkmalen vorgeschlagen haben. Unter dieser Kategorie verstehen wir jene Gesellschaftsformationen, die, ohne ihren subalternen Status zu verlieren, eine größere Fähigkeit aufweisen – immer relativ und im Vergleich zu den abhängigen Ländern –, die staatliche Politik auf die Wahrung der Interessen von Sektoren der nationalen Kapitalist:innenklasse auszurichten und diese über ihre Grenzen hinaus, im Allgemeinen innerhalb der Grenzen ihrer unmittelbaren Peripherie, durchzusetzen.
Innerhalb dieser Gruppe stellt Russland, wie wir noch sehen werden, einen Sonderfall dar, in dem eine bemerkenswerte wirtschaftliche Schwäche mit einer militärischen Macht einhergeht, die – auch in Bezug auf geopolitische Handlungsspielräume – der einiger imperialistischer Länder überlegen ist. Die Besonderheit der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung der russischen Gesellschaftsformation und die Merkmale ihres Staats- und Militärapparats sind untrennbar mit der Dialektik von sozialistischer Revolution und kapitalistischer Restauration verbunden.
Im Verhältnis zu dem Rang, den die kapitalistische Gesellschaftsformation Russland weltweit einnimmt, ist das Ausmaß seiner militärischen Fähigkeiten überragend. In Verbindung mit der Tatsache, dass Russland außerhalb der Verflechtungen imperialistischer Regierbarkeit steht – und somit gezwungen ist, sie herauszufordern –, und mit der Vormachtstellung, die es dadurch gegenüber einigen Ländern in seiner unmittelbaren Nachbarschaft besitzt – ebenso wie gegenüber weiter entfernten Ländern, die es als relatives Gegengewicht zum Imperialismus ansehen –, wird Russland zu einem Fall extrem abgeschwächter Abhängigkeit. Diese Abschwächung findet jedoch nicht auf ökonomischer Ebene statt, wo Russlands Unterordnung deutlicher hervorsticht. Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass diese Übergangskategorie auch eine gewissermaßen fließende und dynamische Situation widerspiegelt: In den Momenten des größten Zerfalls, die auf die Restauration folgten, lief Russland Gefahr, zerstückelt zu werden und auf der Skala der Weltmächte noch weiter nach unten zu fallen; erst die Stabilisierung und der Wiederaufschwung während der Putin-Jahre ermöglichten es Russland, seine Position in dieser Schicht der Mittelmächte wieder zu behaupten.
Im Folgenden wird versucht, anhand einer Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Formation Russlands und der Ergebnisse des Ukraine-Krieges, dessen Ausgang noch offen ist, die Grundlagen der vorgebrachten Charakterisierung aufzuzeigen.
Geringe Produktivität, geringe Wertschöpfung und hohe Abhängigkeit von Rohstoffen
Russlands BIP lag 2021 auf Platz 12 der Weltrangliste. Es ist das flächenmäßig größte und bevölkerungsmäßig neuntgrößte Land der Welt, liegt aber wirtschaftlich hinter Brasilien oder Südkorea zurück. Seine Wirtschaft entsprach im vergangenen Jahr 7 Prozent derjenigen der USA.
Um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie weit Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurückgefallen ist, genügt es, sich vor Augen zu führen, dass nach Schätzungen der UNO seine Wirtschaft 1985 die drittgrößte der Welt war, hinter den USA und Japan, und dabei knapp 22 Prozent der Wirtschaft der ersten imperialistischen Macht ausmachte. Es gibt Aspekte, in denen diese Gesellschaftsformation mit dem seit 1991 etablierten Kapitalismus unvergleichbar ist und Vergleiche verzerrt. Aber abgesehen davon und von der Tatsache, dass das Territorium der UdSSR viel größer war als das der heutigen Russischen Föderation, ist diese territoriale Verkleinerung nicht der entscheidendste Faktor für den Niedergang der Wirtschaft, sondern vielmehr der Zerfall, den sie erfahren hat. Seitdem die Bürokratie durch eine brutale Enteignung des verstaatlichten Eigentums zu einer kapitalistischen Klasse wurde, schrumpfte die russische Wirtschaft in einem beschleunigten Tempo. Während der Regierungszeit von Boris Jelzin sank das BIP insgesamt um nicht weniger als 50 Prozent.1 Zwischen 1992 und 1998 verzeichnete lediglich das Jahr 1997 ein mageres BIP-Wachstum von 0,8 Prozent.2
Ab den 1970er Jahren – oder sogar noch früher – stürzte die sowjetische Wirtschaft in eine Phase deutlicher Stagnation. Die erzwungene kapitalistische Umstellung, die von der Bürokratie nach dem Fall der Berliner Mauer durchgesetzt wurde, fand einen Produktivapparat vor, der zwar vielfältig und komplex, aber dennoch sehr rückständig war. Nur 4 Prozent des Produktivapparats entsprachen dem Weltstandard, und zwischen 7 und 8 Prozent der Produktion konnte einen für den Export geeignete Standard aufweisen.3
In ihren letzten Jahren hatte die Sowjetunion eine Arbeitsproduktivität, die 60 Prozent derjenigen der gesamten US-Wirtschaft entsprach. Inmitten des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in den 1990er Jahren sank dieser Indikator auf ein Drittel des Wertes der US-Wirtschaft. Obwohl die Produktivität in der Folgezeit mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zunahm, liegt sie nach wie vor bei 45 Prozent der US-Produktivität pro Beschäftigtem.4 Es gibt sogar noch dramatischere Schätzungen, die davon ausgehen, dass die Produktivität in so wichtigen Branchen wie dem Bankwesen, dem Baugewerbe, dem Einzelhandel, der Energieerzeugung und der Metallurgie nur 26 Prozent der Produktivität der USA betragen würde.5 Zweifellos ist die Kluft zum US-Imperialismus noch größer als vor 30 Jahren, und zu allem Überfluss geschieht dies mit einer viel weniger diversifizierten und komplexen Wirtschaft, da die industrielle Infrastruktur seit der Restauration stark geschrumpft ist.
Zwei Elemente markierten einen Wendepunkt in der Dynamik des russischen Kapitalismus, und sie ermöglichten ihm einen relativen Aufschwung, die aber nicht den gesamten durch das Debakel er Restauration verursachten Verfall umkehren konnten, wie wir bereits gesehen haben: Einerseits die politische Ordnung, durch die die Ablösung Jelzins durch Wlamidir Putin möglich wurde, auf die wir später zurückkommen werden. Zweitens der Boom der Rohstoffpreise, der der russischen Wirtschaft einen gewaltigen Schub gab. Neben den Energieexporten entwickelte sich auch die Agrarindustrie gewaltig, sodass Russland in wenigen Jahren von einer unbedeutenden Position auf den Getreidemärkten zu einem Konkurrenten der Ukraine um den ersten Platz bei den Weizenexporten werden konnte.
Allein dieses Element – die bestimmende Rolle der Energiepreise für die Dynamik des russischen Kapitalismus – reicht aus, um uns eine Vorstellung der Schwäche zu geben, auf der er beruht.
Ab 1999 wiesen der Außenhandel und die Leistungsbilanz jedes Jahr einen komfortablen Überschuss auf, was zu einer astronomischen Anhäufung von Reserven in den Kassen der russischen Zentralbank führte. Nach Angaben der Weltbank stiegen die Reserven von 12,3 Milliarden USD im Jahr 1999 auf 479 Milliarden USD im Jahr 2007. Vor dem Ukraine-Krieg erreichten sie einen Höchststand von 633 Milliarden USD, von denen fast die Hälfte von den USA als Vergeltungsmaßnahme für die Invasion eingefroren wurden – ein beispielloser Akt, der das Prinzip der Unantastbarkeit von Zentralbankguthaben verletzte.
Die Öl- und Gaspreise sind seit der Jahrtausendwende trotz aller Höhen und Tiefen deutlich über dem Niveau der 1990er Jahre geblieben. Dadurch konnte der russische Staat die Last dieses wirtschaftlichen Rückstands, der sich in einer kapitalistischen Wirtschaft in höheren Kosten und geringerer Wettbewerbsfähigkeit niederschlägt (Schwierigkeiten beim Export und bei der Verhinderung einer Überschwemmung des heimischen Marktes durch Importe, die die heimische Produktion verdrängen), teilweise kompensieren. Die Energieunternehmen, die in staatlicher Hand verblieben oder renationalisiert wurden (wie Yukos, das der Oligarch Michail Chodorkowski während der Restauration übernahm und während der Regierung Putin enteignet wurde), subventionierten die Energie für die Industrie weitgehend. Durch die Öl- und Gas-Renten konnten so die Wettbewerbsnachteile teilweise ausgeglichen werden.6 Die Abwertung des Rubels, die nach Angaben des IWF systematisch 10 bis 20 Prozent unter den geschätzten Paritätswerten lag, diente ebenfalls dazu, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit auszugleichen.7
Dank der Einnahmen aus der Öl- und Gas-Rente konnten diese Subventionen mit einer überschaubaren öffentlichen Verschuldung vorgenommen werden. So konnte sich die russische Wirtschaft trotz ihrer produktiven Schwächen erholen, sodass eine Rückkehr zu den kritischen Schuldenständen nach der Krise von 1998 verhindert wurde.
Die hohe Abhängigkeit von Energierohstoffexporten hat noch eine weitere, aus Sicht der Machtinstrumente des russischen Staates nicht unbedeutende Seite: Da diese Verkäufe in den Händen staatlicher Unternehmen liegen, die sich nicht nur von wirtschaftlichen Erwägungen, sondern auch von den Interessen des Kremls leiten lassen, und da einige der wichtigsten Abnehmer wohlhabende europäische Staaten wie Deutschland sind, kann der Verkauf von Energierohstoffen als Druckmittel eingesetzt werden. Dies hat natürlich seine Grenzen, denn der russische Staat kann es sich nicht leisten, irgendetwas zu tun, was die Generierung von Devisen ernsthaft beeinträchtigen würde, die seine unzusammenhängende Produktionsstruktur für die Produktion braucht, zu der noch die Abhängigkeit von Importgütern, für die es keinen einheimischen Ersatz gibt, kommt. Jedoch hat Russland von der Waffe des Außenhandels in erheblichem Maße Gebrauch gemacht, wie weiter unten erläutert wird.
Die wirtschaftliche Stabilisierung seit der Jahrtausendwende, die mit einem recht kräftigen Wachstum im ersten Jahrzehnt und einem moderateren Wachstum im folgenden Jahrzehnt einherging, darf uns nicht täuschen. Der russische Kapitalismus ist aus der Intensivstation herausgekommen, die sein erstes Jahrzehnt kennzeichnete, und hat die soziale Regression und die Rückentwicklung des Produktivapparats, die diese Periode kennzeichneten, gestoppt, aber nicht umgekehrt.
Russische Konzerne, zweitrangige Akteure auf dem internationalen Parkett
Es ist nicht verwunderlich, dass Russland aufgrund der Größe seiner Wirtschaft und seiner Bedeutung im weltweiten Öl- und Gashandel über einige große Unternehmen verfügt, die in Bezug auf Vermögenswert und Umsatz an der Spitze der internationalen Rangliste stehen. Vier Firmen russischen Ursprungs gehören laut Global Fortune 2022 zu den 500 größten Unternehmen der Welt. Um diesen Anteil unter den führenden Unternehmen in die richtige Perspektive zu rücken, muss man aber sagen, dass er niedriger ist als in anderen Volkswirtschaften, die im Mittelfeld rangieren. Brasilien weist acht und Indien neun Unternehmen in der Rangliste auf. 2009 zitierte Ted Hopf eine Studie der Boston Consulting Group, wonach nur sieben Unternehmen aus Russland als globale Herausforderer (“global challengers”) in Frage kommen, während es in Indien 21 und in China 44 sind.8 Seitdem haben diese Volkswirtschaften ihren Vorsprung vor Russland vergrößert.
Die Position Russlands bei den ausländischen Direktinvestitionen (ADI), die auf den vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) erhobenen Daten beruht, gibt Aufschluss über den Grad der Internationalisierung des russischen Kapitals und seine Stellung im Vergleich zu anderen Staaten. Wir können feststellen, dass der Boom der Rohstoffpreise der internationalen Expansion seiner Unternehmen Auftrieb gab. Darüber hinaus ermutigte die hohe globale Liquidität, die in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Blasen in der Weltwirtschaft entstehen ließ und durch die Politik der wichtigsten Zentralbanken der Welt, niedrige Zinssätze festzulegen und auf aufeinanderfolgende Krisen mit Geldspritzen zu reagieren, angeheizt wurde, Russland dazu, Kredite zur Finanzierung der Expansion aufzunehmen.
Die Einnahmen, die durch die Rekordenergiepreise auf dem Weltmarkt erzielt wurden, und die Verfügbarkeit billiger Kredite in den USA und Europa bedeuteten, dass es für Russlands Großunternehmen billig war, Kredite in ausländischer Währung aufzunehmen: Zwischen 2003 und Mitte 2007 betrugen die Rubelkosten für Kredite in Dollar durchschnittlich 1 Prozent. Infolgedessen nahmen große russische Unternehmen wie das Aluminiumunternehmen Rusal und viele staatliche Unternehmen, darunter die Ölgesellschaft Rosneft und der Gasriese Gazprom, verstärkt Kredite auf. Diese Kreditaufnahme diente zum einen dazu, in Ermangelung eines entwickelten inländischen Bankensektors Investitionserträge für die Entwicklung in Russland zu generieren, und zum anderen zur Finanzierung von Unternehmensübernahmen oder Investitionen außerhalb Russlands, da die Unternehmen sowohl im vor- als auch im nachgelagerten Bereich investierten und sich zu globalen Akteuren im Metall- und Energiesektor entwickelten. Die Kreditaufnahme auf den globalen Märkten kam der russischen Regierung zugute, da sie Investitionen schuf, und sie kam den beteiligten Unternehmen zugute, da sie ihre Vermögenswerte und manchmal auch ihr Eigentum über Russland hinaus verteilten.9
Zwischen 2002 und 2013 – dem Jahr, als der Fluss von Russlands ADI ins Ausland seinen Höhepunkt erreichte – wuchs dieser um das Zwanzigfache. Der Gesamtbestand an russischen ADI im Ausland stieg zwischen 2000 und 2021 um denselben Faktor. Aber diese Zahlen, so beeindruckend sie auf den ersten Blick auch sein mögen, sind nicht nur in Russland zu finden. Im gleichen Zeitraum haben Länder wie Mexiko und Kolumbien ihren Bestand an ausländischen Direktinvestitionen sogar um das 23-fache erhöht (obwohl Mexikos Gesamtbestand an ADI im Jahr 2021 nur halb so hoch war wie der Russlands und der Kolumbiens weniger als ein Fünftel). In Ländern wie Indien hat sich der Bestand an ausländischen Direktinvestitionen im Zeitraum 2000-2021 um das 121-fache erhöht, in China um das 96-fache. Wie wir sehen, entspricht die Entwicklung in Russland dem, was in anderen mittleren Entwicklungsländern geschah, und ist weit entfernt von der Expansion, die einige der dynamischeren Volkswirtschaften durchliefen.
Die von Russland getätigten ausländischen Direktinvestitionen konzentrieren sich in hohem Maße auf die Länder in seiner unmittelbaren Peripherie. Drei Viertel des Bestands entfallen auf Armenien, Usbekistan, Belarus, Moldawien und Kasachstan.10 Dies spiegelt eine sehr begrenzte internationale Expansion wider.
Betrachtet man sowohl die aus Russland stammenden ausländischen Direktinvestitionen als auch die aus dem Ausland nach Russland geflossenen Direktinvestitionen, so zeigt sich, dass das Land netto nicht als Erzeuger von Investitionen, sondern als Empfänger auftrat. Diese Netto-Schuldnerposition in Bezug auf Auslandsinvestitionen ist ein Merkmal abhängiger Kapitalismen, während imperialistische Länder in der Regel über einen höheren Bestand an ADI ins Ausland verfügen, als sie aus dem Ausland erhalten, oder im schlimmsten Fall ein mehr oder weniger ausgeglichenes Verhältnis zwischen beiden Beständen aufweisen.11 Im Falle Russlands ging die Expansion seiner Unternehmen im Ausland mit einem etwa gleich hohen Anstieg der ADI-Zuflüsse in das Land einher, so dass sich die Nettoposition nur wenig veränderte. Auf 3 USD an ADI aus Russland heraus im Jahr 2021 kamen 4 USD an ADI nach Russland hinein. Diese negative Lücke hat zur Folge, dass, wenn wir von gleichen Erträgen für beide ADI-Ströme ausgehen – eine unrealistische Annahme, die aber der Vereinfachung dient –, die Erträge, die die russische Wirtschaft im Ausland generiert, nur 75 Prozent der Erträge ausmachen, die ausländisches Kapital in Russland erzielt. Dies Stellung bedeutet, dass Russland zwar viel weniger gefährdet ist als der Durchschnitt der abhängigen Länder, aber weit entfernt von der eines imperialistischen Landes oder sogar der „wohlhabenden Peripherie“.
Russlands militärische Macht und die ukrainische Herausforderung
Russlands militärische Macht ist dasjenige Element, das der Charakterisierung Russlands als Zwischenland entgegenwirkt und seine Position aufwertet. Darauf basieren Konzeptualisierungen wie etwa die des „Militärimperialismus“, die Matías Maiello vorgeschlagen hat, welche eine eher „negative“ Charakterisierung ist, indem Russland als ein Land definiert wird, das außerhalb des militärischen Bereichs nicht als imperialistisch bezeichnet bezeichnet werden kann.
Russland verfügt über den fünftgrößten Militärhaushalt der Welt, der nur von den USA, China, Großbritannien und Indien übertroffen wird. Mit anderen Worten: Russlands wirtschaftlicher Aufwand zur Aufrechterhaltung seiner Armee ist weitaus größer als der anderer größerer Volkswirtschaften, die weniger investieren, darunter Deutschland (siebtgrößter Militärhaushalt) oder Japan (achtgrößter).
Mit rund einer Million Soldat:innen und weiteren zwei Millionen Reservist:innen gehört die russische Armee zu den vier größten der Welt. Darüber hinaus ist Russland eines der Länder mit der größten Atommacht, was eine enorme Abschreckung gegen jeden Angriff anderer Mächte auf sein Territorium darstellt. Atomkraft und militärisches Volumen sind ein Erbe der Sowjetunion. Dazu kam nach dem Ende der Sowjetunion eine Investitionsoffensive und eine technische Modernisierung der Rüstungsindustrie, die einige Früchte trug. Seit dem Georgienkrieg 2008 konnte Russland seine militärische Stärke unter Beweis stellen und war bei allen militärischen Interventionen erfolgreich, bis zum Einmarsch in der Ukraine, dessen Ausgang noch ungewiss ist und der in den letzten Wochen für Russland weniger ermutigende Nachrichten lieferte.
Doch trotz gigantischer Ausgaben und bedeutender militärischer Fähigkeiten gibt es einen „qualitativen“ Aspekt dieser Fähigkeiten, der stark von der kapitalistischen Entwicklung abhängt. Dabei geht es um den Einsatz von Waffen, die dem Stand der modernsten Technologie entsprechen. Dabei stößt die militärische Macht Russlands an die Grenzen, die durch eine stark zersplitterte Produktionsstruktur gesetzt sind.
Wie Stephen Bryen von der pro-westlichen Tageszeitung Asia Times feststellt, gingen die Militärausgaben seit dem Zusammenbruch der UdSSR stark zurück, bevor sie sich wieder erholten, nachdem sich die Wirtschaft stabilisiert hatte und Putin an die Macht kam. Doch trotz erhöhter Haushaltsausgaben „hinken die Produktion und die Modernisierung der Verteidigung noch immer weit hinterher. In der Praxis bedeutete der Mangel an Geld für Verteidigungsinvestitionen in Russland, dass die Ausrüstung nicht gewartet und verbessert wurde“12. Wegen der verlorenen Jahrzehnte „mussten sich die Russen für neue Systeme an westliche Anbieter wenden. Dies gilt insbesondere für Elektronik, Kameras und Sensoren“. In einigen Bereichen kann diese Technologie – die „kommerziell“ und nicht speziell für militärische Zwecke bestimmt ist und deren Verbreitung häufig von den Staaten eingeschränkt wird – Mängel ausgleichen, aber in sensibleren Bereichen zeigt sie viele Grenzen auf. Dazu gehören: Kommerzielle Hardware ist oft nicht sehr sicher gegen Hacker oder Eindringlinge; sie ist oft zugänglich und enthält Bugs; die verwendeten Systeme sind dem Feind gut bekannt; diese Systeme verwenden selten Verschlüsselung oder andere Sicherheitswerkzeuge.13 Eine weitere Folge der relativen Haushaltsbeschränkungen – d.h. ein im Vergleich zu anderen Ländern großer Haushalt, der jedoch nicht ausreicht, um eine akzeptable Erneuerungsrate der russischen Militärausrüstung aufrechtzuerhalten – war, dass „das Geld zuerst für Prestigeobjekte und erst später für die Modernisierung der alten Ausrüstung ausgegeben wurde“. So wurde beispielsweise die „Aufrüstung der Panzerung und der Feuerleitsysteme von Panzern sehr langsam durchgeführt. Größere Nachrüstungen, einschließlich aktiver Schutzsysteme, wurden nie durchgeführt“. Die meisten der von der ukrainischen Armee zerstörten Panzer, die mit europäischen und amerikanischen Waffen ausgerüstet waren, verfügten nicht über eine verbesserte Panzerung. Sie waren nicht mit aktiven Abwehrsystemen ausgestattet, stellt Bryen fest. Wie fast alle Analysen des Ukraine-Krieges ist auch diese tendenziös, in diesem Fall gegen Russland, und weist dennoch auf viele relevante Schwachstellen der russischen Militärmacht hin.
Das Erbe der erneuerten und teilweise modernisierten militärischen Macht, die der russische kapitalistische Staat von der Sowjetunion erhielt, war der Schlüssel zur Umkehr des Niedergangs Russlands in der Welt, den es im Jahrzehnt nach der bürgerlichen Restauration erlitt. Die Bereitschaft, sie selbst unter Androhung von Sanktionen und internationaler Isolation einzusetzen, wie 2014 bei der Besetzung der Krim und seit Februar dieses Jahres beim Einmarsch in die Ukraine, macht Russland zu einem der herausforderndsten Akteure für die „regelbasierte Ordnung“, als deren Wächter die USA und ihre Verbündetenden sich betrachten. Operationen wie in Georgien 2008, die Besetzung der Krim oder die Operationen zur Unterstützung der Regierung von Bashar Al-Assad in Syrien seit 2015, die entscheidend dazu beitrugen, das Blatt zugunsten des syrischen Regimes zu wenden, waren von zentraler Bedeutung für Russlands Machtprojektion, die im Kalkül aller Mächte eine große Rolle spielte.
Der Krieg in der Ukraine, der weitaus ehrgeiziger ist als alle Operationen, die Russland in den letzten 20 Jahren durchgeführt hat, zeigt auch noch deutlicher die Schwächen der russischen Militärmacht, auf die wir bereits hingewiesen haben. Die ursprünglichen Ziele schienen weit über die Besetzung des Donbas hinauszugehen, auf das sich die Kämpfe jetzt konzentrieren. Ob die in den ersten Tagen um Kiew konzentrierten Kräfte und der Raketenangriff, der sogar noch weiter nach Westen reichte, Teil eines umfassenderen Besatzungsplans waren oder auf einen blitzkriegartigen „Regimewechsel“ ohne dauerhafte Besetzung abzielten, ist Spekulation. Tatsache ist jedoch, dass die von Russland ursprünglich eingesetzten Kräfte nie ausreichten, um die anvisierten Ziele ernsthaft in Betracht zu ziehen. Der Beginn des Feldzuges war auch durch schwerwiegende logistische Unzulänglichkeiten gekennzeichnet, die einen sehr mühsamen Vormarsch erzwangen, während die russischen Truppen und Panzer starken ukrainischen Gegenangriffen an ihren Flanken ausgesetzt waren. In der zweiten Phase des Kriegs verfolgte die Putin-Regierung – wenn auch unter großen Verlusten – Ziele, die den eingesetzten Mitteln eher entsprachen, und konzentrierte sich auf den Osten des Landes, wo sie die Besetzung von mehr als 20 Prozent des ukrainischen Territoriums konsolidieren und die Überlegenheit ihrer Streitkräfte spürbar machen konnte, wenn auch mit hohen Kosten.
In den letzten Wochen ist die russische Armee jedoch ziemlich festgefahren, und die ukrainischen Streitkräfte haben Angriffe gestartet und etwas Boden zurückgewonnen. Dies hat zum ersten Mal ernsthafte Zweifel an den Chancen Russlands aufkommen lassen, in diesem Teil des ukrainischen Territoriums dauerhaft Fuß zu fassen. Sollten sich die russischen Rückschläge im Krieg verstärken, wäre die zentrale Dimension der russischen Machtprojektion ernsthaft gefährdet.
Putins Regierung kann sich nichts leisten, was nach einer Niederlage aussieht. Währenddessen sieht sich Kiew, das von den USA und der EU unterstützt wird, in seiner Entscheidung bestätigt, nach den jüngsten Siegen keine Verhandlungen mit Moskau zu akzeptieren, die die Abtretung eines Teils des Südostens des Landes bedeuten würden, auch wenn die bisher zurückeroberten Gebiete begrenzt sind. Alles deutet auf eine Eskalation hin. Was die militärische Seite anbelangt, so halten es einige Analyst:innen wie George Friedman von Geopolitical Futures für wahrscheinlich, dass Russland schon bald seine Truppen in der Ukraine erheblich aufstocken wird, um einen Sieg zu erringen.14 [A.d.Ü.: Die russische „Teilmobilmachung“, die nach der Veröffentlichung dieses Artikels angekündigt wurde, weist in dieselbe Richtung.]
Gleichzeitig hat der Kreml in den letzten Wochen etwas demonstriert, was die EU-Regierungen bereits befürchtet haben, nämlich die Bereitschaft, sein eigenes Äquivalent zu der „Wirtschaftswaffe“ einzusetzen, mit denen die imperialistischen Mächte auf den Krieg reagierten: Wirtschaftssanktionen. Denn Russland kann auf Energieerpressung zurückgreifen. Wie bereits erwähnt, hat Russland als Lieferant von Energierohstoffen ein gewisses Maß an Macht über die Kunden, da dieser Handel von staatlichen Unternehmen abgewickelt wird und die Hauptabnehmer reich und mächtig sind – und Partner der Hauptmacht, mit der Russland strategisch verfeindet ist. Zwar haben die NATO-Staaten und einige andere Verbündete im Rahmen der Sanktionen seit Kriegsbeginn angekündigt, kein Gas und Öl mehr aus Russland zu beziehen, doch ist dies viel leichter anzukündigen als umzusetzen. Im Gasbereich hat Deutschland als Folge des Krieges die Inbetriebnahme des ehrgeizigen Gaspipeline-Projekts Nord Stream 2 abgesagt – ein Projekt, das die USA mit großer Sorge betrachteten, weil es eine Annäherung zwischen Berlin und Moskau bedeutete, aber es war ihnen bis zum 23. Februar nicht gelungen, ihren europäischen Partner zur Aufgabe zu bewegen. Über Nord Stream 1 erhielten Deutschland und andere europäische Länder jedoch weiterhin regelmäßig Gas, bis Gazprom vor einigen Wochen ankündigte, kein Gas mehr zu liefern. Vor dieser völligen Unterbrechung hatte es in den letzten Monaten wiederholt Unterbrechungen und Reduzierungen der Beförderungsmenge gegeben, was Gazprom stets auf technische Schwierigkeiten zurückführte, die durch mangelnde Lieferungen aufgrund der Sanktionen gegen Russland behindert worden seien.
Energie, wenn sie knapp ist, wirkt sich auf alles aus: Produktion, Verkehr, Heizung. Selbst wenn sie verfügbar ist, ist sie unter diesen Bedingungen nur zu höheren Preisen erhältlich. Dies führt zu einer ganzen Reihe von Störungen, die die Wirtschaftstätigkeit bedrohen, die Unternehmensgewinne beeinträchtigen und die Lebenshaltungskosten in die Höhe treiben, welche in den reichen Ländern bereits von einem seit Jahrzehnten beispiellosen Anstieg der Inflation betroffen sind. Russland zeigt damit, dass es den Schlüssel zu sozialen Unruhen in Europa in der Hand hält, und versucht, dies als Vergeltung und Warnung gegenüber jenen Ländern zu nutzen, die die Ukraine mit Waffen, militärischen Geheimdienstinformationen und finanzieller Hilfe unterstützen. Auf diese Weise zielt die gegen die EU gerichtete Energiewaffe darauf ab, Kiew zu isolieren, um es zu schwächen und die eigene militärische Stärke zu behaupten.
Das Problem bei dieser Strategie – wie auch bei den westlichen Sanktionen gegen Russland – ist, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt des wirtschaftlichen Schadens, der durch solche Maßnahmen verursacht wird, und der Entscheidung von Militärkabinetten oder Kanzlerämtern gibt. Für die EU und insbesondere für Deutschland, das Ambitionen hegt, ein größeres Gewicht in der globalen Geopolitik zu erlangen, wäre es eine Demütigung, sich von Russland erpressen zu lassen und seinen Ansprüchen nachzugeben. Andernfalls könnte es zu einer explosiven Situation auf einem Kontinent kommen, der in den letzten anderthalb Jahrzehnten infolge der Großen Rezession und der anschließenden Covid-Krise bereits Erschütterungen und eine politische Polarisierung erlebt hat und auf dem der Klassenkampf heute immer heftiger wird.
Das sind alles schlechte Optionen, aber nichts deutet darauf hin, dass Putins Versuch, seine Rolle als Energielieferant zu behaupten, das Bündnissystem der Ukraine so weit verdrehen wird, dass es den Ausgang des Krieges beeinflussen könnte, zumal sich die USA von den Energieproblemen der EU kaum beeindrucken lassen dürften. Diese sehen im Gegenteil die Möglichkeit für sich gekommen, Russland als Öl- und Gaslieferant für den alten Kontinent zu ersetzen.
Ein Wettkampf, um die Stellung zu halten
Der Einmarsch in die Ukraine ist ein Akt der Aggression, mit dem Russland versucht, zumindest einen Teil des südöstlichen Gebiets der Ukraine zu annektieren. Doch auch wenn diese Besetzung Teil des Bestrebens des russischen Staates ist, die territoriale Größe des Zarenreichs oder der Sowjetunion wiederzuerlangen, so ist sie doch Teil eines eher defensiven Kurses des Gegenschlags seitens Putins Russland, trotz aller hochtönender Reden über die Notwendigkeit, die glorreiche imperiale Vergangenheit wiederzuerlangen.
Die wirtschaftliche Stabilisierung der letzten zwei Jahrzehnte bedeutete, den Niedergang der Restauration zu bremsen, ohne die schlimmsten Lasten der Vergangenheit zu beseitigen, auch wenn die Bewirtschaftung der Energieressourcen und ihrer Erträge das Fortbestehen dieser Lasten verschleiert hat. Jedoch hat hat der russische Staat in geopolitischer Hinsicht bei seinen Versuchen, das Vordringen der NATO an seine Grenzen aufzuhalten, immer wieder Misserfolge zu verzeichnen. Weder harte noch weiche Macht – letztere ist für das Putin-Regime Mangelware – noch die Nutzung seiner Rolle als Energie- oder Investitionslieferant im Rahmen einer Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie reichten aus, um die benachbarten Länder des ehemaligen Sowjetblocks vom Beitritt zum westlichen Bündnis abzubringen. Die Aggression gegen die Ukraine – welche auf eine EU-Mitgliedschaft hinarbeitete15 – war die Antwort auf die Gefahr, dass die Ukraine auch einen Beitritt zur NATO beantragen würde, was die bereits seit 2014 bestehenden engen Beziehungen zum US-Militär noch verstärken würde.
Das aggressive und „störende“ Vorgehen Russlands in den zwischenstaatlichen Beziehungen, das Putins Russland in den letzten 15 Jahren bei seinen militärischen Interventionen immer häufiger an den Tag gelegt hat und das mit der Operation in der Ukraine einen qualitativen Sprung machte, zielt darauf ab, den Vormarsch der NATO zu stoppen – eine Expansion, die eine kontinuierliche Unterwerfung der Ansprüche des russischen Staates auf dessen traditionellen Einflussbereich darstellt.
Vor dem Hintergrund dieser Analyse halten wir es für falsch, Russland als imperialistische Macht zu betrachten. Wir dürfen aber auch nicht den symmetrischen Fehler begehen, die Weltlage auf zwei konkurriende Lager zu reduzieren, und aus den indirekten Zusammenstoß mit den Westmächten zu schließen, dass Russland ein Verbündeter in den antiimperialistischen Kämpfen der unterdrückten Völker sein kann. Russland wendet sich gegen die Ansprüche der westlichen Mächte in seiner unmittelbaren Peripherie und zögert nicht dabei, auf militärische Aggression zuzugreifen und andere Völker zu unterdrücken. Aus diesem Grund beabsichtigt das Land keineswegs, das System der imperialistischen Weltausplünderung herauszufordern und zu untergraben, sondern innerhalb dieses Systems Bedingungen zu verhandeln, die für Russland bequemer sind und seinen Einflussbereich wieder zur Geltung bringt.
Dieser Artikel erschien zuerst am 18. September 2022 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.
Fußnoten