Der syrische Krieg als Spiegelbild der geopolitischen Auseinandersetzungen

10.11.2015, Lesezeit 9 Min.
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// Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ in Europa, sowie das militärische Eingreifen Russlands haben den syrischen Bürger*innenkrieg vier Jahre nach seinem Ausbruch erneut ins Zentrum der internationalen Situation gebracht. Die wichtigsten regionalen und traditionellen Mächte verhandelten nun über ein Ende des Konfliktes. //

„Nicht nur Russland, die USA, Europa treffen sich hier, sondern gemeinsam mit arabischen Nachbarn Syriens sitzen auch Iran und Saudi-Arabien zum ersten Mal gemeinsam mit allen anderen am Tisch“, so fasste der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) einen der wichtigsten Punkte des Wiener Treffens am 1. November zusammen. Im Gegensatz zu allen vorherigen diplomatischen Verhandlungen trafen sich bei diesem Syrien-Gipfel Minister*innen und Diplomat*innen aus insgesamt 17 Ländern, sowie Vertreter*innen der Europäischen Union (EU) und der Vereinten Nationen (UN). Dazu gehörten neben dem imperialistischen Mächten aus Europa und den USA Regionalmächte wie die Türkei, Saudi-Arabien (gemeinsam mit den Golf-Staaten) auch der Iran, Russland und China.

Reaktionärer Stellvertreter*innenkrieg

Das bedeutet, dass alle traditionellen und regionalen Mächte, die ihre Konflikte auf dem syrischen Kampffeld ausfechten, erstmals an einem Verhandlungstisch saßen. Der UN-Sonderbeauftragte Staffan de Mistura drückte diese Tatsache folgendermaßen aus: „Der wichtigste Aspekt dieser Gespräche ist, dass sie stattfinden und dass alle Staaten daran teilnehmen, die Einfluss auf den aktuellen Konflikt in Syrien haben.“ Das Wiener Treffen machte erneut deutlich, dass der syrische Bürger*innenkrieg nichts mehr als Stellvertreter*innenkrieg bedeutet. Im Gegenzug dazu nahm nicht ein*e Vertreter*in des syrischen Regimes oder der „Rebellen“ teil.

In Syrien werden zahlreiche geopolitische Konflikte ausgetragen. Russland und der Iran sind historische Verbündete des baathistischen Regimes und intervenieren in den Krieg, um Assad – zumindest für einen gewissen Zeitraum des verhandelten Übergangs – aufrechtzuerhalten. Der Iran unterstützt Damaskus durch politische und militärische Hilfe, schiitische Milizen aus dem Irak und die Hisbollah aus dem Libanon seit Beginn der Auseinandersetzungen.

Die US-Interventionen befinden sich im Nahen Osten gegen den Islamischen Staat (IS) und in Afghanistan gegen die Taliban in einer strategischen Sackgasse. Das ist ein Ergebnis des langsamen Niedergangs der Hegemonie des US-Imperialismus. Dadurch war die Obama-Administration gezwungen, ein Tauwetter in den Beziehungen zwischen dem „Westen“ und Teheran einzuleiten. Das direkte Produkt dessen war das Atom-Abkommen zwischen den USA und dem Iran, das ein schrittweises Fallenlassen der Wirtschaftsembargos vorsieht. Im Gegenzug muss der Iran sein Atom-Programm stark verlangsamen und der Kontrolle der „internationalen Gemeinschaft“ unterziehen lassen. Dieser diplomatische Erfolg stärkte die Rolle des Irans als bedeutende Regionalmacht. Das schlägt sich darin nieder, dass der Iran das erste Mal Teil staatlicher Verhandlungen mit den USA und anderen Weltmächten war, in denen es nicht um das Atom-Abkommen selbst ging.

Russland konnte seinen Einfluss auf den Krieg in Syrien enorm verstärken, seitdem es seit nun schon mehr als einen Monat direkt militärisch interveniert. Russland versucht damit außenpolitisch ihre weltweite Isolation nach dem Ukraine-Krieg und der Annexion der Krim zu überwinden. Innenpolitisch soll die militärische Intervention von den schweren Folgen der wirtschaftlichen Krise ablenken, die die russische Bevölkerung erleiden muss. Zudem nutzt der Kreml die Gelegenheit, ihre neuste Militärtechnologie vor den Augen des Westens einzusetzen und mit den Muskeln zu spielen. Auch wenn hart kritisiert wird, dass Hauptziel der russischen Attacken die „Rebellentruppen“ sind und nicht der IS, haben das militärische Eingreifen und die davon begleitete diplomatische Offensive erste Erfolge für Russland erzielt. Auf der einen Seite müssen sich die USA wesentlich stärker mit Russland auseinandersetzen: Es wurde sogar schon gemeinsam für Militäreinsätze geübt, um Kollisionen zu vermeiden. Auf der anderen Seite konnte das Regime von Bashar al-Assad erstmals seit Jahren wieder aufatmen und mit eigenen Offensiven Landgewinne verzeichnen. Zwar befindet er sich nicht in der Lage „zu gewinnen“, doch konnte die Unterstützung seiner Verbündeten den Regime-Zerfall hinausschieben und dessen wichtigste Bastionen vor den „Rebellen“, nicht jedoch vor dem IS, verteidigen.

„Arabischer Herbst“

Die internationale Legitimation des Regimes aus Teheran und die Stärkung Assads durch die russische Militärintervention hatten zur Folge, dass die Regimegegner*innen ihnen entgegenkommen mussten: Assad muss nicht als Bedingung für einen verhandelten Übergang zu einem neuen Regime abtreten, sondern als Ergebnis dessen. Das grausame Regime in Person soll also den Grundstein für eine dem Westen treue Regierung legen.

Das ist Teil der Niederlage der ersten Runde der revolutionären Massenproteste im Nahen Osten. Diese lässt sich am deutlichsten in Ägypten erkennen: Die Militär-Regierung Al-Sisis, die Proteste blutig erstickt und Grundrechte außer Kraft setzt, sieht der Mubarak-Diktatur zum Verwechseln ähnlich. Doch was die imperialistischen Politiker*innen interessiert, ist, ob die Profite ihrer Konzerne stimmen. Und das tun sie, wie man am 8-Milliarden-Deal von Siemens oder der Verbreiterung des Suezkanals sieht. Währenddessen werden die Massen Opfer des reaktionären Klimas und der Wirtschaftskrise.

Ein anderes Ergebnis dieses Kräfteverhältnis ist das Erstarken des IS, der nach mehr als einem Jahr Luftschläge der Anti-IS-Allianz kaum strategische Niederlagen einfahren musste und sein Gebiet im Irak und Syrien verteidigt. Die einzige Niederlage wurde ihm auch nicht direkt von den USA, sondern von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ in Kobanê aufgezwungen.

„No boots on the ground“?

Diese Bilanz entblößt die strategische Sackgasse, in der sich die US-Intervention im Irak und Syrien befindet. Die Ablehnung militärischer Bodenoffensiven durch die US-amerikanische Bevölkerung brachte Präsident Barack Obama im September 2013 zu der Aussage, dass es „no boots on the ground“ geben würde. Das heißt: kein Einsatz von US-Truppen auf syrischem Boden. Im Gegensatz dazu führt die USA eine breite Allianz gegen den IS an, die vereinzelte Luftschläge mit der Bewaffnung verschiedenster Oppositionsgruppen, von den kurdischen YPG/YPJ oder den Perschmerga bis zu radikal-islamischen Gruppen wie der Al-Nusra-Front, kombinierte. Doch das veränderte die Kräfteverhältnisse nicht und die USA gab nun auch ihre Politik der „Bewaffnung der Rebellen“ aufgrund fehlender Resultate auf.

Der USA fehlen damit die strategischen Optionen. Aktuell versuchen sie die irakische Armee für eine Offensive auf Ramadi, das im Mai in die Hände des IS fiel, zu bewegen. Damit wollen sie sowohl den IS zurückschlagen, als auch Putin einen Strich durch die Rechnung machen. Doch bisher scheint der Irak nicht dazu bereit, Obama diesen Gefallen zu tun. Währenddessen kommen die USA jedoch gegen ihren eigenen Willen einer Bodentruppen-Entsendung nach Syrien und Irak immer näher. So sagte der US-Verteidigungsminister Ashton Carter, dass fallweise mit Spezialeinheiten gegen den IS gekämpft werde. UAußerdem entsandte er Militärausbilder, die „moderate Rebellen“ im Kampf gegen den IS ausbilden.

Doch während die massive Besatzungs- und Kriegspolitik der Bush-Administration zu Beginn des Jahrhunderts Ausdruck einer strategischen Offensive zur Stärkung der US-Hegemonie war, spiegelt das Bröckeln der „no boots on the ground“-Politik viel mehr die aktuelle Schwäche des nordamerikanischen Imperialismus wider. In diesem Rahmen können sie Putins Offensive nichts entgegensetzen. Daher müssen sie das Fortbestehen Assads, zumindest während eines geordneten Übergangs, akzeptieren.

Offenes Ende

Eine weitere Auseinandersetzung ist der Konflikt zwischen der sunnitischen Monarchie aus Saudi-Arabien und dem shiitischen Iran: Dieser kam auch schon im Jemen in kämpferischen Zusammenstößen zwischen der Öl-Dynastie und von Teheran unterstützten Gruppen an die Oberfläche. Einige Analysten bezeichnen die Situation sogar als „kalten Krieg“ . Während der Iran treu zu Assad hält, unterstützt Saudi-Arabien die radikal-islamische Opposition.

Auch die Türkei spielt eine bedeutsame Rolle im Konflikt. Ihre Hauptgegner sind Assad und vor allem die kurdische Nationalbewegung, sowohl im türkischen Staat als auch in Syrien. Dieser Kampf verlief im letzten Jahr versteckt durch die Unterstützung des IS. In den letzten Monaten brach er nach dem Ende des „Friedensprozesses“ zwischen Ankara und der PKK direkt in Form von Bombardements ihrer Stellungen in den kurdischen Gebieten der Region an die Oberfläche.

Die aktuelle Situation ist äußerst instabil und von Fort- und Rückschritten der verschiedenen Akteure geprägt, durch die jedoch keiner eine Übermacht erlangen kann. So scheiterte auch der Gipfel in Wien an dem Versuch, widersprüchliche Interessen zu vereinen und endete mit der Ankündigung eines neuen Gipfels. Der britische Präsident Cameron scheiterte derweilen bei seinem Versuch, sich die Möglichkeit direkter Luftangriffe durch sein Parlament bestätigen zu lassen. Und die NATO führen im Spanischen Staat und Italien ihre größte Übung, angelegt als internationaler Kriegseinsatz, seit einem Jahrzehnt durch. Gleichzeitig ist die syrische Opposition so gespalten wie nie:Keine Gruppe kann sich als legitimer Garant eines Übergangsregimes präsentieren.

Das größte Opfer dieser Situation mit offenem Ende ist die syrische Bevölkerung, die seit vier Jahren leiden muss und schon mehr als 250.000 Tote und 11 Millionen Geflüchtete, von denen vier Millionen außer Landes flohen, verzeichnet. Damit ist das syrische Kriegsfeld das Spiegelbild der großen geopolitischen Auseinandersetzungen, der klare Ausdruck der Niederlage des „arabischen Frühlings“.

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