Der Sieg der MAS: Eine erste Einschätzung durch bolivianische Sozialist:innen

21.10.2020, Lesezeit 9 Min.
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Einige Stunden nach der Schließung der Wahllokale in Bolivien am Sonntag, wurden die vorläufigen Ergebnisse bekannt gegeben: Luis Arce, der Kandidat der Bewegung für den Sozialismus (MAS), gewann die erste Runde der Wahl mit 52,4 Prozent. Der rechte Kandidat Carlos Mesa erhielt 31,5 Prozent, der rechtsextreme Kandidat Luis Fernando Camacho 14,1 Prozent. Ein Jahr nach dem Putsch der Regierung von Evo Morales steht die MAS kurz vor der Rückkehr an die Macht. Die De-facto-Präsidentin, Jeanine Áñez, erkannte den Sieg der MAS an. Offizielle Ergebnisse werden für Dienstag erwartet. Dies ist eine erste Einschätzung der Situation durch bolivianischen Sozialist:innen.

Um Mitternacht des Wahltags, nach mehreren Stunden der Ungewissheit, wurden in Bolivien die ersten Hochrechnungen bekannt gegeben. Obwohl diese Ergebnisse noch nicht offiziell sind, bestätigten sie, was die große Mehrheit der Bevölkerung bereits erwartet hatte: Luis Arce Catacora von der Bewegung für den Sozialismus (MAS) scheint im ersten Wahlgang mit 52,4 Prozent gewonnen zu haben, gefolgt von Carlos Mesa mit 31,5 Prozent und dem rechtsextremen Kandidaten Luis Fernando Camacho mit 14,1 Prozent.

In einem nach Mitternacht veröffentlichten Tweet gratulierte die De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez Arce und würdigte den Sieg der MAS. Sie schrieb: „Nach den den Daten, die uns zur Verfügung stehen, haben Herr Arce und Herr Choquehuanca die Wahl gewonnen“.

Mit diesen Zahlen gewann die MAS mit einer höheren Prozentzahl als bei den Wahlen im Oktober 2019, die dem Putsch vorausgingen. Wenn diese Ergebnisse am Dienstag bestätigt werden, wird die MAS eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erhalten. Der Rückschlag, den die Putschist:innen bei der Wahl erlitten haben, ist das Ergebnis der katastrophalen und korrupten Reaktion der Regierung Áñez auf die Covid-Pandemie. Der Sieg von Arce ist darüber hinaus eine ernstzunehmende Kehrtwende für die von Trump und Bolsonaro angeführte Rechtsoffensive in der Region. Der durch interne Streitigkeiten gespaltene rechte Block in Bolivien war nicht in der Lage, seine Kontrolle über den Staatsapparat zu nutzen, um das Kräfteverhältnis mit der MAS umzukehren.

Die Ruhe vor dem Sturm am Wahltag

„Es war ein ruhiger Wahltag“, da waren sich alle bürgerlichen Medien Boliviens einig. Der Tag war von Gerüchten und Betrugsvorwürfen geprägt, und es lag eine spürbare Spannung in der Luft, die sich jedoch nicht in gewaltsamen Konflikten äußerte. Um 8.00 Uhr eröffnete der Präsident der Wahlkommission, Salvador Romero, die Wahllokale, und um 17.00 Uhr wurden sie wieder geschlossen. Romero gab um 21.00 Uhr einen ersten Bericht, in dem er bestätigte, dass die Auszählung ohne Unterbrechung stattfand, in der, wie er es nannte, „komplexesten Wahl in der Geschichte Boliviens“, und versicherte der Öffentlichkeit, dass die Ergebnisse „Ausdruck des Volkswillens“ sein würden.

Am Samstag hatte Romero unerwartet die Aussetzung der Verbreitung vorläufiger Wahlergebnisse (DIREPRE) angekündigt, um „den offiziellen Ergebnissen Vorrang zu geben“. Dies wurde von den meisten politischen Parteien kritisiert, aber am Ende akzeptierten sie die Entscheidung.

Erinnern wir uns daran, dass bei den Wahlen vom Oktober 2019 gerade dieses unerwartete Aussetzen der Schnellauszählung den Verdacht auf Wahlbetrug aufkommen ließ, somit die größte politische Krise Boliviens seit Jahren auslöste und zur zentralen Rechtfertigung für den rechten Staatsstreich gegen Morales und die MAS im November wurde.

Mit den Ergebnissen der Schnellauszählung im Rücken gab Carlos Mesa bei den Wahlen 2019 seinen Sieg bekannt, ohne auf offizielle Ergebnisse zu warten. Heute wird dieses System der Schnellauszählung, das im vergangenen Jahr von der Rechten als grundlegend angesehen wurde, nicht mehr als relevanter Teil des Wahlprozesses verteidigt. Dieser Widerspruch erhöhte die Spannung wenige Stunden vor Beginn der Abstimmung am Sonntag.

Obwohl der Wahltag ohne jegliche Gewalt verlief, ist nichts sicher, bis die endgültige Auszählung bekannt gegeben wird, die am Montag oder vielleicht sogar erst am Mittwoch vorgelegt wird. Die einzigen offiziellen Zahlen, die am Sonntagabend bestätigt wurden, sind von bolivianischen Bürger:innen aus dem Ausland (insgesamt 30 Länder, mit der Mehrheit in Argentinien und Spanien). Diese Stimmen gingen mit 78,4 Prozent an die MAS, gefolgt von Mesa mit 14,6 Prozent.

Bedrohungen, Repression und Betrugsvorwürfe

Das vermeintliche „Fest der Demokratie“ findet inmitten scharfer Repression statt. Seit dem Staatsstreich hat es im ganzen Land eine Welle der Militarisierung mit schwerwiegenden Folgen gegeben. Seit Samstag wird das Land mit den olivgrünen Uniformen von Polizei und Soldat:innen in allen Teilen Boliviens überschwemmt.

Wie zu erwarten war, konzentrierten sich unzählige Truppen in El Alto, im Zentrum von La Paz und im Süden von Cochabamba – alles Zentren des Widerstands gegen den Putsch im vergangenen Jahr. Millionen von Dollar waren in die Repressionskräfte investiert worden, was von Arturo Murillo, dem aktivsten Minister der Putschregierung, mit großem Tamtam angekündigt wurde. Er behauptete, dass diese zusätzliche Aufrüstung dazu dienen würde, „sicherzustellen, dass die Demokratie respektiert wird“. Stunden vor der Öffnung der Wahllokale warnte er vor angeblich „subversiven Gruppen“. Eine solche Sprache führt uns zurück in die Zeit der Militärdiktatur in Bolivien.

Die Parteien warfen sich gegenseitig Betrugsversuche vor, ein Vorbote von möglichen größerern Spannungen und Konflikten, die sich jedoch bisher nicht manifestiert haben. Die MAS schlug am stärksten Alarm, schließlich kontrollieren die Putschbefürworter:innen den Staatsapparat. Trotzdem erklärten ihre wichtigsten Vertreter:innen, dass sie die Wahlergebnisse respektieren würden, unabhängig vom Ausgang der Wahlen.

In den letzten Umfragen verringerte sich der Abstand zwischen Mesa und Arce. Einige rechte Kandidat:innen schieden kurz vor der Abstimmung aus, und die Putschist:innen forderten eine „taktische Abstimmung“, um zu verhindern, dass Arce die erste Runde gewinnt. Dies würde dann zu einer zweiten Runde führen, bei der Anti-MAS-Block vereinigt werden könnte.

Die letzten Umfragen zeigten eine enorme Anzahl von unentschlossenen Wähler:innen, etwa 20 Prozent, wobei die Anhänger von ausgeschiedenen Kandidat:innen zwischen Mesa und Camacho schwankten. Camacho, das Aushängeschild der entschlossensten und reaktionärsten Sektoren der Rechten, behielt seine Kandidatur bei, trotz der Kritik der „gemäßigten“ Rechten, die sich hinter Mesa gestellt hatten. Die Pro-Coup-Kräfte waren bei den Wahlen, wie schon zuvor, tief gespalten.

Die revolutionäre Linke

Inmitten dieser Wahlspannungen befindet sich die Arbeiter:innenklasse und die indigenen Bauer:Bäuerinnenbewegungen in einer schwierigen Situation. Die politische Krise, die vor einem Jahr begann, sowie die Sozial-, Gesundheits- und Wirtschaftskrise treffen die ärmsten Menschen in Bolivien ständig. Die kriminellen Aktionen von Áñez und ihrem Kabinett führten dazu, dass Teile der Massen – die bereits 2019 gegen den Putsch mobilisiert hatten – ihre Hoffnung wieder aufleben ließen, die MAS könne die Putschregierung vertreiben. Diese Regierung war verantwortlich für die Massaker in Senkata, Sacaba und Ovejuyo, sowie für die publik gemachten Fälle von Korruption und eine inkompetente Reaktion auf die Pandemie.

Als die Revolutionäre Arbeiter:innenliga – Vierte Internationale (LORCI, Herausgeber von La Izquierda Diario Bolivia, der Schwesterseite von KlasseGegenKlasse) haben wir an der Seite dieser Massensektoren gegen alle Angriffe der Putschregierung gekämpft. Wir haben an allen Kämpfen teilgenommen, um sicherzustellen, dass diese Wahlen stattfinden, und um Áñez zum Rücktritt zu zwingen. Wir haben zusammen mit den Arbeiter:innen auf dem Land und in den Städten gesehen, wie die MAS all diese Mobilisierungen als bloßes Druckmittel für ihre Wahlpläne benutzt hat, ohne zu verstärkten Mobilisierungen aufzurufen. Im Gegenteil, die MAS hat die Putschregierung wirksam unterstützt, indem sie die im November 2019 entstandene Massenbewegung demobilisiert hat.

Wir verstehen die Verzweiflung, die viele wegen der Barbarei der Putschregierung empfinden, die wiederum neue Hoffnungen in der MAS geweckt hat. Und während wir an jedem Massenkampf teilgenommen haben, haben wir unaufhörlich die ständigen Kapitulationen der MAS angeprangert, nicht nur während der jüngsten politischen Krise, sondern auch in ihren Vereinbarungen mit verschiedenen Sektoren der Rechten während ihrer 14-jährigen Regierungszeit. Aufgrund der Klassenversöhnungen dieser Partei und ihrer ständigen Unterordnung unter die Interessen der Bourgeoisie, die sich damals gezeigt hat und sich heute noch immer zeigt, haben wir als LORCI die MAS nie politisch unterstützt.

Der undemokratische Charakter des Wahlsystems – zu dem die MAS beigetragen hat – hat die Entstehung einer unabhängigen Alternative für Arbeiter:innen behindert. Aus diesem Grund haben wir ungültig gewählt. Doch unsere Position ist nicht neutral und war es auch nie: Wir stehen auf der Seite der auf der Straße mobilisierten Sektoren, mit denen wir im Kampf gegen diesen Staatsstreich stehen. Wir sind und bleiben mit den Massen zusammen, gegen jede Betrugsdrohung und zur Verteidigung des legitimen Rechts, ihre Stimme abzugeben – ohne damit jegliche politische Unterstützung für die MAS zu implizieren.

Es ist dringend notwendig, eine politische Alternative aufzubauen, die für Klassenunabhängigkeit kämpft, ohne in Diskussionen mit der Rechten die Grundrechte wegzuverhandeln. Wir brauchen eine Alternative, die die Kämpfe der indigenen Völker, der armen Massen, der Frauen, der LGBTQIA+s und der Arbeiter:innenklasse vereint, damit die Kosten der Krise nicht länger von der Arbeiter:innenklasse getragen werden. Die Reichen und die Kapitalist:innen müssen zahlen!

Zuerst veröffentlicht am 19. Oktober 2020 auf Spanisch auf La Izquierda Diario Bolivia.
Übersetzung auf Basis der englischen Version von LeftVoice.

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