Der rote Keil und das schwarze Quadrat
Debatten zur Kunst in der Sowjetunion und DDR zwischen 1917 und 1990.
„Jetzt, in dieser Stunde, sind wir gerechtfertigt vor der Geschichte, vor der Internationale und vor dem deutschen Proletariat. Die Massen stimmen uns begeistert zu, immer weitere Kreise des Proletariats teilen die Erkenntnis, dass die Stunde der Abrechnung mit der kapitalistischen Klassenherrschaft geschlagen hat.“1 Die Führung des Spartakusbundes rief im November 1918 zum Kampf gegen die bürgerliche Regierung auf. In ganz Europa waren Arbeiter und Arbeiterinnen im Aufstand. Streiks und Straßenkämpfe erschütterten die alte Ordnung.
Der Klassenkampf gegen den Kapitalismus und seine bürgerliche Kultur erfasste auch das Kunstfeld. Künstler:innen überwarfen den Kanon der Kunstgeschichte und forderten eine Revolution der Kunst. Die Kunst sollte in die materielle Welt eingreifen und dabei selbst aufgehoben werden. Dieser Anspruch vereinte den Kubismus, Futurismus, Expressionismus, Konstruktivismus und Dadaismus in ganz Europa. Mit Ausnahme des italienischen Futurismus, der den Faschismus unterstützte. Am radikalsten erfolgte die Politisierung bei der russischen Avantgarde.
In Russland brach 1917 der Bürgerkrieg aus. Revolutionär:innen stürmten das Winterpalais in Petrograd und im ganzen Land gründeten sich Arbeiter- und Bauernräte. Die Russische Avantgarde stürzte sich in den Kampf, um die alte Kultur zu zertrümmern und eine neue Welt daraus zu erschaffen. Alexander Rodtschenko schrieb im April 1918 einen Aufruf an seine Kollegen: „Wir, deren Lage schlechter ist als die der unterdrückten Arbeiter, sind gleichzeitig Arbeiter für unseren Lebensunterhalt als auch Schöpfer von Kunst. Wir, die wir in Löchern hausen, haben weder Farben noch Licht, noch Zeit für unser Schöpfertum. Proletarier der Pinsel, wir müssen uns zusammenschließen.“2 Der Essay behandelt die Kunstgeschichte in Russland, der UdSSR und DDR von 1917 bis 1990. Die unterschiedlichen Phasen und Strömungen werden im Kontext politischer Debatten und Dekrete untersucht.
Russische Avantgarde
Die Russische Avantgarde war eine künstlerische Epoche in Russland und der UdSSR zwischen 1905 und 1934. Der Begriff umfasst eine Vielzahl von futuristischen Bewegungen wie den Konstruktivismus, Kubofuturismus oder Suprematismus. Es war ein Prozess der Umwälzung und Erneuerung in allen Bereichen der Kunst. Dafür vereinigten sich die Künste mit dem gemeinsamen Ziel einer Internationale des Konstruktivismus. Die Avantgarde ist kein Stil und keine Kunstrichtung. Der Künstler El Lissitzky beschreibt sie als eine Methode zur wissenschaftlich-künstlerischen Umgestaltung der Welt.3 Diese Beschreibung ist charakteristisch für die Avantgarde dieser Zeit. Doch die Situation in Russland unterschied sich qualitativ vom Rest Europas. Durch die Revolution konnte aus der Utopie eine Realität werden. Die meisten Künstler:innen unterstützten den politischen Umbruch und stellten ihre Mittel dem Aufbau zur Verfügung. Leo Trotzki schreibt in Literatur und Revolution: „[…] Die Künstler treten ein für Technik, für wissenschaftliche Organisation, für die Maschine, die Planung, den Willen, den Mut, die Geschwindigkeit und Präzision, für den neuen Menschen, der mit all diesen Eigenschaften ausgestattet ist.“4 Um ihre Ideen zu verwirklichen, verließen sie ihre Ateliers und besetzten den öffentlichen Raum. Sie entwarfen Plätze, Gebäude, Plakate, Tapeten und Mode. Die Kunst sollte nicht mehr isoliert von sozialen und politischen Fragen agieren. Sie sollte in den Alltag der Menschen eingreifen. Georg Lukács erklärte die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften in voneinander getrennte Sphären als Ausdruck kapitalistischer Arbeitsteilung. Die Einheit der Erscheinungen des Lebens würde dabei auseinandergerissen werden; selbst die Künstler:innen würden zu arbeitsteiligen Spezialist:innen. Trotzki schreibt, wenn die kapitalistische Arbeitsteilung überwunden ist, wird zwischen Kunst und Industrie die Trennwand fallen, wie auch zwischen allen anderen vormals getrennten Bereichen menschlicher Praxis.5 Damit wurde das Streben nach einer Kunst im realen Leben zu einem Kampf gegen die kapitalistische Ordnung.
Der Sturz des Zarismus bedeutete für Künstler:innen nicht nur die lange geforderte Freiheit von Zensur, sondern auch die Möglichkeit der Bildung von Verbänden. In den Diskussionen vor der Oktoberrevolution ging es primär um die Freiheit der Kunst und die Reform der Kunstausbildung.6 Besonders linke Kunstschaffende forderten aufgrund der Erfahrungen im Zarismus eine Trennung von Staat und Kunst. Viele Futuristen standen daher während der Revolution dem Anarchismus nahe. So schrieb Kasimir Malewitsch: „Die Flagge der Anarchie ist die Flagge unseres Ich und unser Geist wird, wie ein freier Wind, unser schöpferisches Werk in den weiten Räumen unserer Seele flattern lassen.“7 Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass in den folgenden Jahren nahezu alle bedeutenden Avantgardisten für den neuen Staat gewonnen werden konnten. Der Futurismus entwickelte sich zu einem marxistischen Pol im Kunstfeld. Seine Stellung in den staatlichen Institutionen war dennoch nicht widerspruchsfrei und ständigen Angriffen ausgesetzt. Der rechte Flügel und das Zentrum des neuen Verbandes der Kunstschaffenden lehnten eine Zusammenarbeit mit den Bolschewiki generell ab. Die Futuristen lieferten sich heftige Auseinandersetzungen mit dem Verband und anderen Bewegungen wie dem Realismus und dem Proletkult. Unter der Fahne des Kampfes gegen die „Bürokraten der Kunst“ und den „welken Akademismus“ nahmen die meisten Futuristen Aufgaben in der neu gegründeten Abteilung für Bildende Kunst des NARKOMPROS (Volkskommissariat für Volksaufklärung) wahr.8 Im Aufruf der Föderation Freiheit der Kunst heißt es: „Die große russische Revolution ruft uns zur Tat. Schließt Euch zusammen. Erkämpft das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung. Die Revolution bringt die Freiheit hervor. Ohne Freiheit keine Kunst.“9
Richtungsstreit in der Avantgarde
Nach der Revolution gab es einen Richtungsstreit zwischen den Strömungen der russischen Avantgarde. Insbesondere der Suprematismus um Malewitsch und der Konstruktivismus um Rodtschenko standen in Konkurrenz. Die Bewegung diskutierte über die richtige Strategie für den Aufbau des Sozialismus.
Den Konstruktivisten ging es um die Erforschung und Anwendung objektiver Methoden der Materialorganisation. Dafür erklärten sie die Kunst zur Konstruktion und die Künstler:innen zu Ingenieur:innen und Handwerker:innen.10 Osip Brik definierte die Kunstwerke als Dinge und stellte in der Wochenzeitung Kunst der Kommune die Forderung auf: „Nicht ideelle Kunst, sondern das materielle Ding!“ Sie wollten ihre Arbeit auf die reale Umwelt ausweiten, indem sie sich an der industriellen Herstellung von Gebrauchsgegenständen beteiligten. Dafür erweiterten die Konstruktivisten ihr Vokabular um den Begriff der Funktion. Die Formgebung sollte durch die Verdeutlichung der Funktion entwickelt werden. Diese Tätigkeit wurde als intellektuelle Produktion bezeichnet. Sie lehnten die künstlerische Intuition ab und kritisierten den Suprematismus von Malewitsch als Eliminierung der Materie in einer spekulativen Synthese mit dem Geistigen. Rodtschenko postulierte: „Nicht die Synthese ist die treibende Kraft, sondern die Erfindung (Analyse).“11
Es wäre aber zu einfach, die Gruppe um Malewitsch als Idealisten und ihre Gegner als Materialisten zu identifizieren. Malewitsch, wie auch Wassily Kandinsky und Lissitzky, wollte durch die Intuition der Kunst in die materielle Welt eingreifen. Demnach hat die Kunst das Potential, auf die Sinne und die Wahrnehmung der Menschen einzuwirken. Durch die radikale Reduktion sollten die Rezipient:innen von den ideologischen Einflüssen der bürgerlichen Kunst befreit werden. Der Suprematismus verstand den Aufbau des Sozialismus nicht nur als materielle, sondern auch als transzendierende geistige Aufgabe. Die Suprematisten waren trotz ihres scheinbaren Idealismus nicht in der ideellen Welt gefangen. Die Gruppe um Malewitsch beteiligte sich an zahlreichen praktischen Aktivitäten, wie die Entwürfe von Kleidungsstücken und Teekannen zeigen. Bevor Kandinsky 1920 die UdSSR verließ, warnte er vor einer technischen Auffassung der Kunst: „Obwohl die Kunstschaffenden im Moment an Problemen der Konstruktion arbeiten, suchen sie die Lösung vielleicht allzu leicht und mit zu viel Begeisterung beim Ingenieur. Und es kann sein, dass sie fälschlicherweise die Antwort des Ingenieurs als Lösung für die Kunst annehmen. Das ist eine sehr reelle Gefahr.“12
El Lissitzky
Die Werke der Futuristen wurden zu Ikonen der Russischen Revolution. Das Plakat Mit dem roten Keil schlage die Weißen von El Lissitzky zeigt einen roten Keil, der von links oben auf einen weißen Kreis trifft. Seine Spitze hat den Mittelpunkt des Kreises bereits erreicht. Das Motiv visualisiert den Kampf der Roten Armee gegen die Weißen, die Truppen der Konterrevolution, im Südwesten des Landes.
Lissitzky wurde 1890 in Potschinko in Russland geboren. Der Künstler und Architekt prägte die Kulturpolitik der frühen Sowjetunion durch seine praktische wie theoretische Arbeit. Lissitzky arbeitete unter anderem als Kulturbotschafter und Professor an der Moskauer Kunstakademie. Für ihn war Kunst ein Medium, um die Ziele der Revolution zu vermitteln: „Ich kremple die Ärmel auf und beginne jede von mir für das ‘Heute’ geforderte nützliche Arbeit. Es ist nötig, bei uns und im Ausland, die Errungenschaften der sozialistischen Kultur und Wirtschaft zu propagieren.“13
Lissitzky entwickelte Installationen, welche die Ideen der bildenden Kunst in den architektonischen Raum übertrugen. Diese Konterreliefs nannte Lissitzky Prounen: „Proun habe ich als Umsteigestation von der Malerei zur Architektur geschaffen. Das Staffeleibild hat seinen Lebensgang als Kunstwerk abgeschlossen, und alle schöpferischen Energien müssen ein neues Kunstwerk, nicht Staffeleibild, schaffen. Alles plastische Schaffen realisiert sich in und um die Architektur. Diese Architektur ist mein Ziel. […] Unser Leben erhielt jetzt ein neues, kommunistisches Eisenbetonfundament für alle Völker der Erde. Dank der ‘Prounen’ wird man auf diesem Fundament monolithe kommunistische Städte bauen, in denen die Bevölkerung des Erdballs wohnen wird.“14 Seine Arbeiten waren eine bedeutende Referenz für die westliche Moderne und hatten Einfluss auf die De-Stijl-Bewegung und das Bauhaus.
1920 entwarf Lissitzky die Lenin Tribüne. Die zwölf Meter hohe Konstruktion war als Rednertribüne für öffentliche Plätze konzipiert. Sie bestand aus einer Konstruktion, die einer Leiter ähnelte, und mehreren Flächen, welche durch einen Aufzug erreicht werden sollten.
1924 präsentierte Lissitzky den Entwurf der Wolkenbügel. Die acht Gebäude sollten die sozialistische Antwort auf die amerikanischen Wolkenkratzer darstellen. Lissitzky empörte sich 1926 in der Zeitschrift Iswestija Asnowa über die westliche Architektur: „Dieser Typus [der Architektur] ist völlig anarchisch entstanden, ohne Rücksicht auf die Organisation der Stadt als Ganzes. Sein einziges Bestreben war es, seinen Nachbarn an Größe und Pracht zu übertreffen.“15 Lissitzky wollte mit den Wolkenbügeln die Idee einer Stadt auf zwei Ebenen verwirklichen, bei der ein Gebäude mit vertikalen Stützen auf kleinstmöglicher Grundfläche errichtet wird, ohne die Umgebung zu beeinträchtigen. Das Ziel war maximale Nutzfläche bei minimalem Unterbau. Die meisten Entwürfe konnten aufgrund der Wirtschaftskrise und dem Mangel an Baumaterialien nicht realisiert werden.
Kasimir Malewitsch
Neben dem roten Keil ist vor allem das Schwarze Quadrat in die Kunstgeschichte eingegangen. Das Bild zeigt ein schwarzes Viereck von ungefähr 80 x 80 Zentimetern auf weißem Grund. Das Werk von Kasimir Malewitsch war in der Ausstellung 0.10 im Jahre 1915 zu sehen. Er platzierte das Bild im sogenannten schönen Winkel, an der Stelle, wo traditionell in einer russischen Stube die heilige Ikone angebracht ist.
Malewitsch wurde 1878 in Kiew geboren und war einer der wichtigsten Vertreter der abstrakten Kunst. Er reduzierte die Malerei auf die Grundformen als kleinste Einheiten. Das schwarze Quadrat und später das weiße Quadrat waren die höchste Stufe der Reduktion. Er erklärt im suprematistischen Manifest von 1915: „Erst wenn die Gewohnheit des Denkens verschwunden ist, in Bildern das Abbild von Winkelchen der Natur, von Madonnen und schamhaften Venus-Gestalten zu sehen, werden wir ein rein-malerisches Werk erblicken. Ich habe mich in die Null der Formen verwandelt und habe mich aus dem stinkenden Morast der akademischen Kunst herausgefischt.“16 Für Künstler wie Lissitzky war das schwarze Quadrat der Beginn einer neuen Raumordnung. „Drehen wir das schwarze Quadrat herum und nehmen wir die Rückseite als Basis für unsere Konstruktionen im Raum.“17 Es war ein Akt der Befreiung von Sinn und Geist. Malewitsch wollte die Kunst von ihrer Last befreien, damit Neues entstehen konnte. Ihm ging es dabei nicht nur um die Konstruktion des Neuen, sondern auch darum, eine geistige Idee des freien Menschen zu kreieren. Daher begründete er 1913 die Kunstrichtung des Suprematismus. Die Bolschewiki nutzten für eine kurze Zeit nach der Oktoberrevolution den Suprematismus für die Agitation. Malewitsch wurde auf Lehrstühle der Moskauer Kunsthochschule berufen und prägte die Kulturpolitik des Staates.
Wladimir Tatlin
Eine weitere Strömung war der Konstruktivismus. Als Begründer gilt der 1885 in Moskau geborene Wladimir Tatlin. Wie viele Maler seiner Zeit geht Tatlin von der Fläche in den Raum, von der Figur zur abstrakten Form. Tatlin proklamierte das Ende der Malerei: „Das Bild ist am Ende, aber am Ende wird es zur Grundlage für einen Neubeginn.“ Den Neubeginn sucht er in der Konstruktion und der Materialität. Er nannte seine Arbeiten in der Folge Materialkonstruktionen. Es ging ihm um die Erforschung und Anwendung von lokalen Materialien. Dies hatte nicht nur ästhetische, sondern auch politische und ökonomische Gründe. In der nachrevolutionären Phase der UdSSR herrschte ein Mangel an Rohstoffen und die Industrie lag noch in Trümmern.
Er entwarf Gegenstände für den Alltag sowie konzeptionelle Konstruktionen. Der Flügelschwinger Letatlin von 1932 war ein Luftfahrrad, das wie bei Ikarus durch Muskelkraft angetrieben werden sollte. Auch wenn das Luftfahrrad nie abhob, transportierte es die Vision neuer Maschinen für den „neuen Menschen“.
Seine bekannteste Arbeit ist der Entwurf des Denkmals der dritten Internationale von 1919. Das Denkmal sollte an die Revolution erinnern und ihre technischen und sozialen Errungenschaften aufzeigen. Der Entwurf bestand aus drei Körpern, umgeben von einem geneigten Stahlgerüst. Die Körper sollten einmal pro Jahr, Monat und Tag rotieren und so die Zeit der neuen Epoche zählen. Der Turm enthält, wie viele Entwürfe der Konstruktivisten, zugleich Gegenwart und Zukunft. Für die Gegenwart war das Modell ein Objekt der monumentalen Propaganda. Der zehn Meter hohe Turm wurde am Jahrestag der Revolution auf der Pritsche eines Lastkraftwagens durch Moskau gefahren. Für die Zukunft war es das Modell eines Turms von 400 Metern Höhe, der alle bürgerlichen Monumentalbauten übertreffen sollte.
Alexander Rodtschenko
Ein weiterer Vertreter des Konstruktivismus war der 1891 in Sankt Petersburg geborene Alexander Rodtschenko. Seine Erfindungen lagen zwischen Druckfläche und städtischem Raum. Bekannt wurde Rodtschenko vor allem durch seine radikalen Kompositionen in der Fotografie. Er war Professor an der Hochschule für Gestaltung in Moskau und arbeitete als Reklamemaler für staatliche Betriebe. Durch die Neue Ökonomische Politik (NÖP) gab es ab 1921 wieder eine Konkurrenz zwischen privaten und staatlichen Angeboten. Rodtschenko schreibt über die vorrevolutionäre Zeit: „Wir arbeiteten gegen diese bürgerliche Welt und empörten sie, und deshalb wurden wir nicht gekauft und nicht anerkannt. […] Wir waren für eine neue Welt, für die Welt der Industrie, Technik und Wissenschaft. Wir waren für einen neuen Menschen, wir fühlten ihn und hatten eine ungefähre Vorstellung von ihm. Wir schmeichelten nicht mit den Pinseln den Visagen der vollgefressenen Bourgeoisie. Wir malten nicht ihre Villen, Bälle und Güter. Wir waren Erfinder und gestalteten die Welt in unserem Sinne um.“18
Moskau wurde zum kulturellen Zentrum der Moderne. Künstler:innen und Architekt:innen aus der ganzen Welt kamen in die UdSSR, um sich am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen. Sie wollten universalistische Ideen der Planung und Baukunst verwirklichen, welche im kapitalistischen Westen gescheitert waren. Einer von ihnen war der ehemalige Bauhaus-Direktor Hannes Meyer. Er ging 1930 nach seiner Entlassung zusammen mit Studierenden und Mitarbeitenden nach Moskau, darunter auch Mitglieder der Kommunistischen Studentenfraktion am Bauhaus (Kostufra). Die sogenannte Brigade Meyer beteiligte sich am akademischen Diskurs und am Bau von Wohnungen und Industriestädten.19
Aufgrund der wirtschaftlichen Lage und der zunehmenden Restriktion konnte die Avantgarde dennoch kaum materielle Spuren hinterlassen. Die wenigen realisierten Bauten zeigen, welches Potential die Avantgarde hätte entfalten können. Der Entwurf des Narkomfin-Kommunehaus von Moisei Ginzburg und Ignaty Milinis hatte den Anspruch, die emanzipatorischen Errungenschaften der Revolution in die Architektur zu übertragen. Der Komplex beinhaltete einen Kindergarten und eine Kantine, um Frauen von der Hausarbeit zu befreien und ihnen zu ermöglichen, sich an der Bildung einer neuen Gesellschaft zu beteiligen.29 Ein weiteres noch erhaltenes Bauwerk ist der Rusakow-Klub von Konstantin Melnikov in Moskau. Er wurde von 1927 bis 1929 für die Union der kommunalen Arbeiter:innen gebaut. Sein charakteristisches Merkmal sind die massiven Blöcke, die aus dem Hauptkörper des Gebäudes herausragen. Arbeiterklubs waren Orte für politische Diskussion, Agitation, Kinderbetreuung, Sport und Unterhaltung.
Umstrittene Führung der Avantgarde
Die Avantgarde wurde anfangs von den Bolschewiki und dem Volkskommissariat für Bildung und Kultur gefördert. Führende Vertreter:innen des Suprematismus und Konstruktivismus leiteten Museen und wurden auf Lehrstühle der wichtigsten Hochschulen berufen. Die Futuristen hatten nach der Revolution den größten Einfluss auf die Kulturpolitik, weil sie die ersten waren, die sich auf die Seite der Bolschewiki schlugen. Ihr Führungsanspruch war dennoch umstritten und wurde von unterschiedlichen künstlerischen und politischen Strömungen angefochten.
Im Mai 1922 gründeten Realisten die Gruppe Assoziation der Künstler des revolutionären Russland (AChRR), um den Futurismus zu liquidieren. Durch ihre guten Beziehungen zu Kadern der bolschewistischen Partei entwickelte sich die Gruppe innerhalb kurzer Zeit zur mächtigsten Kunstorganisation im Land.21 In der ersten Deklaration proklamiert die AChRR: „Wir werden den heutigen Tag darstellen: Das Leben der Roten Armee, das Leben der Arbeiter, der Bauern, der Revolutionäre, der Helden der Arbeit. Wir wollen ein wirkliches Bild von den Geschehnissen geben, keine abstrakten Konstruktionen, die unsere Revolution vor dem internationalen Proletariat nur diskreditieren.“22 Malewitsch erwiderte: „Die Künstler der AChRR sind Lebensbeschreiber und Ereignisschilderer, die linken Künstler dagegen sind die Schöpfer dieses Lebens und Teilnehmer an den revolutionären Ereignissen. Schaffen und das Geschaffene beschreiben ist unvereinbar miteinander.“23 Die Künstler:innen der AChRR gingen mit Block und Bleistift in die Fabriken, um Arbeiter:innen zu zeichnen. Boris Arvatov warf ihnen in der Zeitschrift LEF (Linke Front der Künste) vor, den Anblick der verschlissenen Hemden zu bewundern, anstatt bessere Bekleidung für die Arbeiter:innen zu entwerfen. Sie würden sich an einfachen Leuten erregen, wie die Bürgerlichen an exotischen Bildern.24
Der Leiter des Volkskommissariats Anatoli Lunatscharski außerte sich 1921 zur Kontroverse des Futurismus: „Ich persönlich glaube, dass der Weg von der Kunst der Vergangenheit zur proletarischen, sozialistischen Kunst nicht über den Futurismus verläuft, und wenn sie durch diese oder jene Errungenschaft des Futurismus, und seien sie nur technischer Art, befruchtet wird, so ist dies wahrscheinlich nicht sehr ernst zu nehmen. Aber das ist meine persönliche Meinung, die wahrscheinlich ein Großteil anderer Kommunisten teilt. Trotzdem darf man hieraus nicht den Schluss ziehen, dass futuristische Kunst überhaupt nicht popularisiert werden solle. Freilich, wenn man sich der Illusion hingibt, die Kunst junger, linker Künstler sei dann staatlich, wenn wir sie unter unseren besonderen Schutz stellen (was insofern geschah, weil diese beweglicheren, demokratischen, weniger mit der Bourgeoisie verbundenen Künstler uns als erste halfen), so ist das zweifellos nicht richtig und ein Fehler.“25 Lunatscharski war überzeugt, dass das Proletariat und das Bauerntum mehr von den Werken der vergangenen Epochen lernen könne als von der abstrakten Kunst der Futuristen. Dennoch wollte er die Futuristen nicht verdrängen und den Massen nicht die Entscheidung über eine Schule der Kunst vorwegnehmen. Die Proklamation des NARKOMPROS und des ZK der Gewerkschaft der Kunstarbeiter im November 1920 kann als Vermittlung zwischen den Positionen verstanden werden: „Der Kunstsektor des Volkskommissariats für Volksaufklärung und des Zentralkomitees des Allrussischen Gewerkschaftsverbandes der Kunstschaffenden erkennen an, dass die Zeit für eine Feststellung unbestreitbarer Prinzipien der proletarischen Ästhetik noch nicht gekommen ist, aber sie halten es nichtsdestoweniger für notwendig, mit ausreichender Genauigkeit die Grundprinzipien darzulegen, von denen sie sich in ihrer Tätigkeit leiten lassen.“26 Lunatscharski veröffentlichte sechs Thesen zur Ausrichtung der Kulturpolitik. Darin forderte er die Erhaltung „wirklicher Kunstwerke“ der Vergangenheit und die Aneignung dieser durch die proletarischen Massen sowie die Förderung experimenteller Formen revolutionärer Kunst. Alle Kunstarten sollten demnach zur Propaganda und Verwirklichung der Ideen des Kommunismus eingesetzt werden. In den letzten beiden Thesen forderte er eine objektive Einstellung zu allen künstlerischen Strömungen und die Demokratisierung aller künstlerischen Einrichtungen, die den Massen auf jede erdenkliche Weise zugänglich gemacht werden müssten.27
Auch unter den Anführern der Bolschewiki gab es Kontroversen über den Futurismus. Trotzki verteidigte die Bewegung gegen den Vorwurf des Elitarismus, auch wenn ihre Arbeiten den Massen weithin unzugänglich waren. Für Trotzki war der Futurismus zwar keine sozialistische Kunst, stellte aber ein notwendiges Übergangsphänomen dar, welches mit der bürgerlichen Kultur bricht: „Die Kunst der Revolution, die unausweichlich alle Widersprüche der Übergangsgesellschaft widerspiegelt, darf man nicht mit der sozialistischen Kunst verwechseln, für die eine Basis noch gar nicht geschaffen ist. Andererseits darf man nicht vergessen, dass die sozialistische Kunst aus der Kunst der Übergangszeit erwachsen wird.“28
Nach Lenins Auffassung sollte Kunst die Massen erreichen. Er lehnte die Experimente der Futuristen ab, da sie wenig Popularität im Proletariat und im Bauerntum hatten. Eine Anekdote besagt, dass Lenin sich darüber echauffierte, dass der Künstler Gustav Kluzis zusammen mit anderen jungen Künstlern den ersten Jahrestag der Revolution feierte, indem er die Sträucher an der Kremlmauer mit permanenter Farbe einfärbte. Im Gespräch mit Clara Zetkin beschreibt Lenin seine Auffassungen der Kunst: „Man soll Schönes erhalten, zum Muster nehmen, daran anknüpfen, auch wenn es ‚alt‘ ist. Warum sich von wirklich Schönem abkehren und es als Ausgangspunkt weiterer Entwicklung ein für allemal verwerfen, nur weil es ‚alt‘ ist? Warum das Neue als Gott anbeten, dem man gehorchen soll, nur weil es ‚das Neue‘ ist? Das ist Unsinn, nichts als Unsinn. […] Ich habe den Mut, mich als ‚Barbar‘ zu zeigen. Ich kann die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer Ismen nicht als höchste Offenbarungen des künstlerischen Genies preisen. Ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freude an ihnen. Aber wichtig ist nicht unsere Meinung über Kunst. Wichtig ist auch nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muss ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muss von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muss sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muss Künstler in ihnen erwecken und entwickeln.“
Dekret zur Monumentalpropaganda
Im April 1918 unterzeichneten Lenin, Stalin und der Kulturminister Lunatscharski das Dekret über Monumentalpropaganda. Die Bolschewiki führten neue Feiertage ein, stürzten Denkmäler und errichteten neue Monumente. Die Kunst sollte sich fortan auf Propaganda konzentrieren. Die Künstler:innen aller Richtungen folgten der neuen Linie und begannen, Agitationszüge zu gestalten, Paraden zu bekleiden, Geschirr mit Hammer und Sichel zu bedrucken. Die meisten der neuen Denkmäler waren realistische Darstellungen von den Helden der Revolution. Aufgrund der schnellen Herstellung und des Materialmangels waren die Ergebnisse ernüchternd. Der Kunsthistoriker Nikolai Punin schrieb 1919: „Neben den Denkmälern von Zaren und Großfürsten sind sie nicht mehr als bärtige Warzen.“ Die Skulpturen wurden von der Bevölkerung als Karikaturen aufgefasst und riefen Spott hervor. Die Futuristen sprachen den errichteten Denkmälern jeden künstlerischen Wert ab. Tatlin forderte, ein für allemal mit der menschlichen Figur Schluss zu machen. Er propagierte die Abkehr von Stehlen und Sockeln hin zu einer skulpturalen Synthese von Malerei, Bildhauerei und Architektur.29
Der Plan für eine monumentale Propaganda war der Beginn einer zunehmenden Indienstnahme der Kunst. Die Kunst sollte vom Klassenkampf durchdrungen sein und die Losungen der Revolution vermitteln. Lenin bekräftigte 1920 in einer Resolution über proletarische Kultur, dass die Propaganda den Massen zugänglich sein müsse und daher auf populäre Formen zurückgreifen solle. Die Futuristen gerieten verstärkt in Konflikt mit den Anforderungen der Bolschewiki. 1921 entzogen die Behörden der Avantgarde die offizielle staatliche Unterstützung und Förderung. Vertreter:innen der abstrakten Kunst verloren ihre leitenden Positionen in den Ministerien, Museen und Kunsthochschulen. Trotzki rechtfertigte die Maßnahme damit, dass sich der Staat nicht auf eine Seite der zerstrittenen Kunstrichtungen stellen könne, zumal die Avantgarde nur einen kleinen Teil des Kunstbetriebs repräsentierte. Er erklärte, dass die Avantgarde auf eigenen Beinen stehen und ihren Weg beschreiten müsse. Die Abkehr vom Futurismus lässt sich aber nicht nur durch die Neutralität des Staates erklären. Sie ist Ausdruck einer zunehmenden Differenz zwischen Kunst und Agitation. Die Futuristen waren nicht dazu bereit, die Kunst auf ein Instrument der Mobilisierung und Bildung zu reduzieren. Lissitzky verließ nach einem Streit mit Lenin die UdSSR. Nach Aufenthalten in Deutschland und der Schweiz, wo er mit der internationalen Avantgarde aus Literatur, Architektur und Kunst zusammenarbeitete, kehrte er 1925 nach Moskau zurück. Trotz der Konflikte mit dem inzwischen stalinistischen Kultusministerium arbeitete er bis zu seinem Tod an Entwürfen für die UdSSR.
Proletkult
Eine weitere konkurrierende Kunstrichtung in der UdSSR war der Proletkult. Der Proletkult ging auf die Ideen von Alexander Bogdanow zurück. Bogdanow lehnte den Materialismus ab und behauptete, dass „die Elemente physischer Erfahrung“ identisch seien mit der „psychischen Erfahrung“. Er wies damit die Vorstellung zurück, dass die materielle Welt gegenüber dem Denken primär sei. Auf der Grundlage seiner neokantianischen Auffassung entwickelte er Theorien über Kultur und Gesellschaft, darunter die Vorstellung, dass Politik, Wirtschaft und Kultur unabhängige Bereiche seien. Der Proletkult propagierte, dass jede Klasse ihre eigene Kultur brauche. Nicht nur als eine Widerspiegelung ihrer Ideale und Zielsetzungen, sondern als vorrangiges Instrument, um ihre Erfahrung auf ihre gewünschten Ziele hin zu orientieren. Bogdanow stellte fest, dass das Proletariat keine eigene Kultur habe, denn wirtschaftliche und politische Kämpfe hätten all seine Kräfte aufgezehrt. Die bürgerliche Kultur sei dagegen nicht geeignet, das Bewusstsein des Proletariats zu heben. Darum müsse das Proletariat seine eigene Kultur entwickeln. Es wurde davon ausgegangen, dass alle Werktätigen in kurzer Zeit zu proletarischen Künstler:innen werden könnten.30
Trotzki und Lenin lehnten die Bewegung ab. Sie verfolgten ihre Aktivitäten und bekämpften sie. Trotzki argumentierte, dass das Proletariat in seiner Diktatur nicht genug Zeit habe, eine eigene Kultur herauszubilden. Das Bürgertum habe Jahrzehnte gebraucht, um eine eigene Kultur zu entwickeln. Trotzki war in den 1920er Jahren davon überzeugt, dass es einen schnellen Übergang zum Kommunismus geben würde. Auch er stellte fest, dass es keine proletarische Kultur im aktuellen Stadium gebe. Sie könne aber auch erst in einer befreiten Gesellschaft entstehen, die Behauptung ihrer gegenwärtigen Existenz würde eine fiktive kulturelle Zukunft in den engen Rahmen der Gegenwart zwingen. Außerdem sei der proletarische Kampf dem kulturellen übergeordnet. Die Diktatur des Proletariats sei in ihren Grundzügen „keine Produktions- und Kulturorganisation der neuen Gesellschaft, sondern ein revolutionäres Kampfregime im Kampf für diese Gesellschaft.“31
Auch Vertreter:innen des Sozialistischen Realismus bekämpften den Proletkult. Der Philosoph Lukács argumentierte, dass die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs abgelehnt werden sollten. Alles, was in der Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, müsse angeeignet und verarbeitet werden.32
Nikolai Iwanowitsch Bucharin verteidigte den Proletkult gegen die Kritik.
Er erklärte die Bewegung, entgegen der Position von Bogdanow, zur natürlichen Entwicklung des Sozialismus in einem Land. Bucharin kritisierte Trotzkis ablehnende Haltung 1925 als strategischen Fehler, da der „Entwicklungsgrad der kommunistischen Gesellschaft […] oder, anders ausgedrückt, die Geschwindigkeit des Schwindens der proletarischen Diktatur“ nicht der Realität entspreche.33 Bucharin behauptete, dass der proletarischen Kultur genügend Zeit für ihre Entfaltung zur Verfügung stehen werde, weil sich die Sowjetunion isoliert über einen langen Zeitraum hinweg zum Sozialismus hin entwickeln werde. Für Lenin, Trotzki und Bogdanow war es unmöglich, den Sozialismus in einem Land zu verwirklichen.
Sozialistischer Realismus
Nachdem Joseph Stalin 1922 Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU wurde, begann die Degenerierung der UdSSR. Mit der Strategie des Sozialismus in einem Land wurde die Politik neu ausgerichtet. Er ersetzte die NÖP, welche von Lenin und Trotzki als Reaktion auf die wirtschaftliche Verheerung und Unterentwicklung nach dem Bürgerkrieg eingeführt wurde, durch eine bürokratische Planwirtschaft. Diese sollte durch Zwangskollektivierung und Kulakendeportation umgesetzt werden. In der Entkulakisierung wurden mehrere Millionen Wohlhabende und Mittelbauern umgesiedelt oder ermordet. Stalin versuchte, den Sozialismus in einem Land mittels Zwang durchzusetzen. Zudem wurde ein kulturelles Regime etabliert, welches die Massen vom Kurs der Regierung überzeugen sollte.
Der Richtungsstreit über die Ausrichtung der Kulturpolitik wurde 1932 durch einen Beschluss der Partei beendet und der Sozialistische Realismus als offizielle Kulturform der UdSSR eingeführt. Vier Jahre später begann der Kampf gegen den Formalismus.
Der Sozialistische Realismus ist eine spezifische Synthese der kommunistischen Propaganda mit den Traditionen des Realismus, des Klassizismus und der Romantik. Der Sozialistische Realismus versuchte formal, Romantik und Realismus zu vereinen. Sie stellten aus stalinistischer Perspektive die beiden bildnerischen und literarischen Hauptepochen des 19. Jahrhunderts dar. Hierbei sollte die Art der Darstellung dem Realismus entnommen werden, der positive Geist und die Emotionen hingegen der Romantik. Aus diesen historischen Rückgriffen sollte ein revolutionärer Klassizismus entstehen.
Auf den Bildern von Künstler:innen wie Isaac Brodski oder Wassili Wassiljewitsch sind häufig die Helden des Aufbaus der UdSSR abgebildet. Idealisierende Darstellungen von Pilot:innen, Bäuer:innen, Arbeiter:innen, Soldat:innen und Matros:innen dominierten die Bildsprache.
Durch die Kunst sollte ein Arbeitskult etabliert werden, um die Identifikation mit der Arbeit und damit die Produktivität zu steigern. Zudem sollte eine enge Verbindung von Künstler:innen mit der Roten Armee aufgebaut werden, um die Bereitschaft zur Verteidigung gegen den Faschismus zu stärken. Bereits 1930 wurde die Literaturorganisation der Roten Armee (LOKAF) gegründet, der auch Maxim Gorki angehörte.
Im April 1932 fasste das Zentralkomitee den Beschluss zur Liquidierung der Assoziation proletarischer Schriftsteller (VOAPP, RAPP). Unzählige Gruppen und Verbände wurden verboten und zentral organisiert. Als Begründung erklärte das ZK, dass sich die Organisationen von einem Instrument zur „maximalen Mobilisierung sowjetischer Schriftsteller und Künstler für die Ziele des sozialistischen Aufbaus“ zu einem „Instrument der Kultivierung zirkelartiger Abgeschlossenheit“ sowie der Entfremdung von den politischen Aufgaben der Gegenwart zu wandeln drohten. Ab diesem Zeitpunkt war der Sozialistische Realismus die verbindliche Richtlinie für die Produktion von Literatur, bildender Kunst und Musik in der gesamten UdSSR. Der Sozialistische Realismus wurde auch zur Doktrin für die im Einflussbereich der Sowjetunion liegenden Staaten und kommunistischen Parteien.
Auf dem Ersten Kongress der sowjetischen Literatur von 1934 legte Andrej Schdanow detailliertere Richtlinien für alle Künstler:innen fest: „Die Kunst sollte die Wahrheit der historischen Entwicklung darstellen, sie sollte schön sein und optimistisch der Zukunft entgegenblicken.“ Die Vorgaben wurden in Arbeiten wie der heroischen Sportparade von Alexander Samochwalow oder dem Stalin-Portrait von Irakliy Moiseevich Toidze umgesetzt.
1936 verkündete Stalin in seiner Rede zur neuen Verfassung, dass der Sozialismus und die sozialistische Gesellschaft verwirklicht seien. Dieser Argumentation folgend, stellte der Sozialistische Realismus nun die tatsächliche Realität dar. Kunstschaffende sollten das Positive der gegenwärtigen Wirklichkeit in einer realistischen und für die Werktätigen verständlichen Form widerspiegeln.
Lukács erklärte die Abbildung der sozialen Realität zur zentralen Aufgabe von Kunst und das Gelingen zum einzigen gültigen Kriterium für ihre Wertschätzung. Die Widerspiegelung ist darüber hinaus als etwas konzipiert, das wieder in die soziale Welt eingreift, und zwar in parteiischer Form.34 Bei Lukács sind Werke, die keine propagandistische Wirkung haben, schlicht keine echten Kunstwerke.35 Als Kulturminister in Ungarn zählte Lukács zu den führenden Vertreter:innen des Sozialistischen Realismus.
1937 präsentierte die UdSSR ihren Pavillon auf der Internationalen Weltausstellung in Paris. Durch den Sozialistischen Realismus sollten die Errungenschaften der Industrie, Wissenschaft und Kultur demonstriert werden. Zu sehen war die Skulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin von Vera Mukhina. Das stürmende Paar mit Hammer und Sichel in der Hand symbolisierte den aufstrebenden Sozialismus. Der Pavillon stand dem neoklassizistischen Deutschen Haus von Albert Speer gegenüber.
Auch in der Architektur löste der Sozialistische Realismus den Konstruktivismus ab. Die neue Baukunst wurde als Sozialistischer Klassizismus, oder abwertend als Zuckerbäckerstil, bezeichnet. Beispiele hierfür sind die Sieben Schwestern in Moskau oder das Haus der Sowjets in Sankt Petersburg. Charakteristisch ist die aufwendige Bauweise mit plastischen Verzierungen. Die Einflüsse reichen von antiken Bögen und Säulen über den Barock bis hin zum Klassizismus.
Unterdrückung der Avantgarde
Nachdem der Sozialistische Realismus offiziell eingeführt worden war, begann der Kampf gegen die Künstler:innen der Avantgarde und ihre Ideen. 1937 kam es zur sogenannten Expressionismus-Debatte zwischen Bertolt Brecht und Lukács in der Zeitschrift Das Wort. Für Lukács ist die futuristische Kunst ein „krankhafter Versuch, über die Grenzen der Kunst hinaus zu gehen“. Anstelle der Erforschung neuer Kunstmittel auf der Grundlage neuer gesellschaftlicher Verhältnisse, worauf es Brecht ankommt, steht bei Lukács die Säuberung der Literatur und Kunst von den Einbrüchen der Dekadenz.36
Abstrakte Kunst wurde zunehmend als bourgeois gebrandmarkt und spätestens ab 1936 in die Depots der Museen geräumt. Die Künstler:innen der Avantgarde konnten ihre Werke nicht mehr ausstellen und veröffentlichen. Das Regime führte über die Zeitung Prawda Kampagnen gegen „Formalisten“ und „Kosmopoliten“. Sie wurden zu „Schädlingen“ und „Volksfeinden“ erklärt und verfolgt. Während des Großen Terrors zwischen 1936 und 1938 wurden Millionen mutmaßliche Feind:innen der stalinistischen Herrschaft in Schauprozessen mit teilweise antisemitischer Rhetorik liquidiert. Zahlreiche revolutionäre Bolschewiki, allen voran oppositionelle Trotzkist:innen, wurden während der Säuberungen ermordet.
Der Kampf gegen die Moderne wandte sich auch gegen die westlichen Migrant:innen. Der deutsche Architekt Meyer hatte die Sowjetunion bereits 1935 verlassen, nachdem er aufgrund seiner modernistischen Positionen in Konflikt mit dem Kulturministerium geraten war. Viele weitere bekannte Architekt:innen und Stadtplaner:innen wie Ernst May oder Andrè Lurcat verließen das Land während der politischen Säuberungen 1937. Andere wie Bèla Scheffler, Philip Tolzinger, Kurt Meyer oder Margarete Mengel nahmen die Staatsbürgerschaft an und blieben in der UdSSR. Sie wurden später verhaftet oder erschossen.37
Von den bekannten Futuristen lebten zu diesem Zeitpunkt noch Malewitsch, Tatlin, Lissitzky und einige andere in der Sowjetunion. Viele waren schon mit Stalins Machtübernahme nach Westeuropa ausgewandert. Malewitsch wurde nach Lenins Tod systematisch kaltgestellt. 1929 wurde ihm in der Tretjakow-Galerie noch eine retrospektive Ausstellung gewidmet. Zwei Jahre später wurden seine Bilder als „degeneriert“ bezeichnet. Er verlor seine Ämter, durfte allerdings aufgrund seiner Kontakte im Kulturministerium weiter lehren. Lissitzky versuchte, sich politisch anzupassen, blieb aber dem Futurismus treu. Er arbeitete bis zu seinem Tod an Entwürfen für die UdSSR. Rodtschenko passte sich dem Sozialistischen Realismus an. Er schreibt: „Ich möchte mich im Weiteren davon lossagen, Form in der Bedeutung eines Themas an die erste und Inhaltliches an die zweite Stelle zu setzen – und ich will gleichzeitig forschend nach neuen Schätzen fotografischen Ausdrucks suchen, um Werke zu schaffen […], in denen die fotografische Sprache völlig dem Sozialistischen Realismus dient.“38 Tatlin zog sich in die Malerei und in sein privates Umfeld zurück, um der Repression zu entgehen.
Die Säuberungen waren von Willkür und politischem Kalkül geprägt. Bekannte Personen wie der international beachtete Komponist Dmitri Schostakowitsch wurden zum Spielball des Regimes. Seine Musik wurde in der Sowjetunion häufig verboten, nur um anschließend wieder bejubelt zu werden. Seine Oper Lady Macbeth von Mzensk wurde anfänglich gefeiert, bis Stalin im Dezember 1935 eine Aufführung vorzeitig und empört verließ. Kurz darauf erschien in der Prawda der Artikel Chaos statt Musik, in dem es hieß: „In einer Zeit, in der unsere Kritiker um den Sozialistischen Realismus kämpfen, stellt das Werk von Schostakowitsch einen vulgären Naturalismus dar.“39 Hinter dem Artikel wurde Stalins Handschrift vermutet. Das folgende Verbot des Stücks hatte aber weniger negative Auswirkungen auf Schostakowitschs Karriere, als man erwarten hätte können. So wurde er ein Jahr später zum Professor für Komposition am Leningrader Konservatorium berufen. Die 7. Symphonie, die er während der Leningrader Blockade im Zweiten Weltkrieg schrieb, sollte seinen Ruhm sowohl in der UdSSR als auch außerhalb zementieren. Dennoch blieb Schostakowitsch in der Nachkriegszeit nicht von weiteren Verboten verschont.
Wie Trotzki in einem Nachruf für Majakowskij schrieb, war Stalins kulturelles Regime zu einem „System bürokratischer Befehle über die Kunst und ein Mittel zu ihrer Verarmung geworden“. Trotzki blieb bis zu seiner Ermordung durch einen stalinistischen Agenten 1940 die mahnende Stimme für die Unabhängigkeit der Kunst. 1923 schrieb er in Literatur und Revolution: „Auf dem Gebiet der Kunst ist die Partei nicht berufen zu kommandieren. Sie kann und soll schützen, fördern und lediglich indirekt lenken.“40 Während der stalinistischen Säuberungen 1939 bekräftigte er aus dem Exil seine Position in einem Leserbrief im New Yorker Partisan Review: „Eine wirklich revolutionäre Partei ist weder in der Lage noch willens, die Aufgabe einer Lenkung, noch weniger, die einer Gängelung der Kunst zu übernehmen, weder vor noch nach ihrem Machtantritt. Eine solche Anmaßung existiert nur in dem Kopf einer unwissenden, schamlosen, machttrunkenen Bürokratie, die zur Antithese der proletarischen Revolution geworden ist. Die Kunst und die Wissenschaft suchen nicht nur keine Lenkung, sondern können von ihrem Wesen her keine dulden. Das künstlerische Schaffen gehorcht seinen eigenen Gesetzen selbst dann, wenn es sich bewusst in den Dienst einer sozialen Bewegung stellt. […] Die Kunst kann nur insoweit ein großer Bundesgenosse der Revolution sein, als sie sich selbst treu bleibt.“ Für Trotzki erlangt die Kunst ihre politische Bedeutung dadurch, dass der Mensch in der Kunst sein Verlangen nach einem harmonischen und erfüllten Leben ausdrückt, das heißt, die kostbarsten Güter, welche durch die Klassengesellschaft entzogen wurden: „Deswegen erhält jedes echte Kunstwerk immer einen Protest gegen die Wirklichkeit, sei er nun bewusst oder unbewusst, aktiv oder passiv, optimistisch oder pessimistisch.“
Formalismusstreit in der DDR
Auch in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gab es einen Kampf um die kulturelle Ausrichtung des neuen Staates. Nach der Gründung erlebte die DDR eine Hochzeit der Moderne. Das Bauhaus in Weimar und Dessau wurde als antifaschistisches Kulturgut gefeiert. Viele Künstler:innen und Architekt:innen gingen nach Ostdeutschland, um an die Moderne der 1920er Jahre anzuknüpfen.
Noch vor Gründung der DDR sollte in der Ersten Deutschen Kunstausstellung 1946 in Dresden eine Bestandsaufnahme nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen werden. Man hatte die Intention, die vormals „entartete Kunst“ zu rehabilitieren, ähnlich wie zehn Jahre später auf der ersten Documenta in Westdeutschland. Es waren abstrakte und expressive Werke von Künstler:innen wie Ludwig Kirchner, Willi Baumeister oder Lea Grundig zu sehen. Die Ausstellung sollte eine Diskussionsgrundlage über die zeitgenössische Kunst der Moderne und die Ausrichtung der Kulturpolitik werden.
Eine Besucher:innenbefragung ergab, dass die Betrachter:innen mit der abstrakten Kunst wenig anfangen konnten. Sie reagierten mit Unverständnis und Entrüstung auf die gezeigten Werke. Die Menschen waren geprägt von einem intensiven Kulturkampf des Nationalsozialismus gegen die Moderne.
Die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED) nutzte die negativen Reaktionen, um den Sozialistischen Realismus in Stellung zu bringen. Die Kulturpolitik sollte sich an der UdSSR orientieren und vom Westen abgrenzen. Mit dem Verlauf des Kalten Krieges verschärfte sich die Diskussion über die Ausrichtung der Kunst. Es kam zur sogenannten Formalismusdebatte. Die SED begann eine systematische Kampagne gegen die Kunst der Moderne und namhafte ostdeutsche Künstler:innen wie Karl Hofer, Lea Grundig oder Horst Strempel. Der Formalismus galt für die Funktionäre als imperialistisch, dekadent, subjektivistisch und individualistisch.
Walter Ulbrich verkündet auf der 13. Tagung der Volkskammer 1951: „Wir wollen in unseren Kunsthochschulen keine abstrakten Bilder mehr sehen. Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen und Ähnlichem. Die grau in grau Malerei, die ein Ausdruck des kapitalistischen Niedergangs ist, steht im schroffen Widerspruch zum neuen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik.“
Mit der Dritten Deutschen Kunstausstellung 1953 in Dresden wollte die SED den Formalismusstreit zugunsten des Sozialistischen Realismus beenden. Zu sehen waren Inszenierungen von Pionier:innen, Arbeiter:innen und Soldat:innen. Die Ausstellung war schlecht besucht und wurde von der Kunstkritik zerrissen. Die Partei feierte sie dennoch als vollen Erfolg. Im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED, wurde verkündet: „Der Formalismus, mit seinem krankhaften Wühlen im ekelhaften Schmutz oder gar völligen Zerstörung der gegenständlichen Welt, ist auf der ganzen Linie geschlagen. Er wird sich von diesem Schlag nicht erholen, er hat keinen Platz mehr bei uns.“
Auch in der Architektur wollte die SED an den Sozialistischen Realismus anknüpfen. Dafür reiste 1950 eine Delegation in die UdSSR, um den Städtebau der Union zu studieren.41 Mit der Bebauung der Stalinallee 1956 wurde ein Prestigeprojekt in der Hauptstadt realisiert. In aufwendiger Bauweise und mit dekorierten Fassaden entstanden sogenannte Wohnpaläste für Arbeiter:innen.
Innenpolitisch spitzte sich die Situation 1953 zu. Die Lebensbedingungen der Menschen stimmten nicht mit den idealistischen Bildern des Sozialistischen Realismus überein. Nach den Protesten am 17. Juni nutzten Intellektuelle und Kunstschaffende den Moment der Schwäche und kritisierten öffentlich die politische Zensur der Kunst. Durch den Druck musste die Führung nachgeben und ersetzte die Kontrollinstanz der staatlichen Kunstkommission durch ein Ministerium für Kultur. Danach wechselten Phasen von engeren und weniger engen Vorgaben durch die Parteiführung. Immer wieder kam es zu Konflikten zwischen der SED und dem Verband Bildender Künstler. Wie die Kunst in der DDR aussehen sollte, ist immer neu interpretiert worden.42 Daraus entwickelte sich eine besondere Mischform des Sozialistischen Realismus mit modernistischen Einflüssen, wie das Wandbild Unser Leben von Walter Womacka von 1964 am Haus des Lehrers in Berlin zeigt.
Aufgrund der antikommunistischen Propaganda des Westens sind die meisten Kunstwerke dieser Zeit in Vergessenheit geraten oder werden noch heute als Staatskunst abgewertet.
Sozialistische Moderne
Nach Stalins Tod folgte das sogenannte Tauwetter. Nikita Chruschtschow leitete die Periode der bürgerlichen Restauration ein. Die bürokratische Führung schwankte zusehends zwischen Liberalismus und Autokratie. Ab 1953 wurde die Kulturpolitik gelockert und unabhängige Kunstvereine und Verbände zugelassen.
Die Baupolitik war am stärksten vom Tauwetter betroffen. Ende 1954 fand in Moskau der Allunions-Baukongress statt. Der neue Parteichef Chruschtschow rechnete in einer historischen Abschlussrede mit der stalinistischen Bauweise ab. Unter Stalin war der Wohnungsbau vernachlässigt worden. Die Bauweise war zu aufwändig und zu teuer, um den Bedarf an Wohnraum zu decken. In seiner Rede demontierte Chruschtschow hochdekorierte Architekten wie Leonid Poljakow für ihren dekadenten und maßlosen Stil. Der Bau von Wohnungen und Industrieanlagen sollte fortan in industrieller Bauweise, als sogenannte Plattenbauten, realisiert werden. Mit der neuen Bauverordnung von 1955 wandte sich die UdSSR der Moderne zu.
Der internationale Städtebau der Nachkriegsmoderne orientierte sich an der Charta von Athen. Sie wurde 1933 auf dem IV. Kongress der CIAM (Internationale Kongresse für neues Bauen) unter der Leitung von Le Corbusier verabschiedet. Das Ziel war eine funktionale Stadt mit der Separierung von Arbeiten und Wohnen. Die zukünftigen Städte sollten autogerecht sein und durch Freiflächen aufgelockert werden. Die UdSSR versuchte, eine sozialistische Adaption des modernen Städtebaus zu entwickeln, um ausreichend bezahlbaren und lebenswerten Wohnraum zu schaffen. Alternativen zur westlichen Trabantenstadt waren die Satellitenstadt und die Bandstadt.
Eine besondere Ausprägung in der Architektur war der Sozialistische Brutalismus. Die Bezeichnung Brutalismus kommt nicht von dem deutschen Wort brutal, sondern von dem französischen béton brut, was roher Beton bedeutet. Der Wohnkomplex Aul in Kasachstan oder das Verwaltungsgebäude des Ministeriums für Straßenbau in Georgien sind signifikante Beispiele für die Baukunst dieser Periode.
Auch in der DDR wurde die sozialistische Moderne eingeleitet. Städte wie Halle-Neustadt oder Marzahn-Hellersdorf erfüllten die Ansprüche an Funktionalität, Design und Lebensqualität. Mit dem Palast der Republik wurde ein wichtiger Repräsentationsbau in modernem Design errichtet. Der Entwurf des Kollektivs der Bauakademie der DDR um Heinz Graffunder wurde von 1973 bis 1976 realisiert und beherbergte die Volkskammer und Kulturangebote. Der Palast der Republik wurde 2006 nach einem Bundestagsbeschluss abgerissen und durch eine Rekonstruktion des preußischen Berliner Schlosses ersetzt. Die Rekonstruktion einer “anderen Geschichte” korrespondiert bei vielen Rechten mit der Marginalisierung der “einen” Geschichte.43
Fazit
Im Manifest von 1912 beschrieben die Futuristen ihre Kunst als eine „Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack“. Durch ihre radikalen Konzepte und Darstellungen wollten sie mit der bürgerlichen Kultur brechen. Sie versuchten durch die Synthese von Künstler:in und Masse, von Form und Ideologie den Alltag zu revolutionieren.44 Die futuristischen Arbeiten waren Konstruktionen für die reale Welt und zugleich transzendente Modelle für den neuen Menschen nach der Weltrevolution. Der Futurismus konnte nur in der Offensive existieren. Nachdem die UdSSR in die Defensive geriet, waren Kunst und Politik von Widersprüchen geprägt. Die Kunst degenerierte von einem Instrument der Reflexion und Synthese zu einem Instrument der Vermittlung und Identifikation. Auch wenn Lenin keine Zensur vornahm, leitete er die Verdrängung des Futurismus ein. Lenin befürwortete den Realismus als ein Werkzeug der Vermittlung und Agitation im Aufbau des internationalen Sozialismus. Unter Stalin kam es zu einem qualitativen Bruch in der Kulturpolitik. Mit der Abkehr von der Weltrevolution hin zum Sozialismus in einem Land sollte die Kunst die Identifikation mit dem vorgeblich realen Sozialismus fördern. Der Realismus war eine Reaktion auf den Futurismus. Die Konzeptionen bei Lenin und Stalin unterschieden sich dennoch aufgrund ihrer materiellen und strategischen Differenzen. Die Kunst war eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Weder der Sozialistische Realismus noch der Stalinismus waren in die Russische Revolution eingeschrieben.
Fußnoten
1. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin: An die Proletarier aller Länder, in: Rote Fahne (1918).
2. Zitiert nach: David Walsh: Der Bolschewismus und die Künstler der Avantgarde (2010), https://www.wsws.org/de/articles/2010/03/kuns-f05.html.
3. Vgl. Heinz Hirdina: Form und Grund. Entwurfshaltungen im Design von William Morris bis Richard Buckminster Fukker. Vorlesungen Band 1, Spector Books, Leipzig 2020, S. 101.
4. Leo Trotzki: Literatur und Revolution, Manifest Verlag, Berlin 1994, S. 149.
5. Vgl. Jens Kastner: Die Linke und die Kunst, Unrast Verlag, Münster 2019, S. 72.
6. Vgl. Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, DuMont, Köln 1979, S. 31.
7. Zitiert nach: Walsh: Der Bolschewismus und die Künstler der Avantgarde.
8. Vgl. Gaßner, Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, S. 35.
9. Zitiert nach: Gaßner, Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, S. 40.
10. Vgl. Gaßner, Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, S. 20.
11. Zitiert nach: Gaßner, Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, S. 20.
12. Zitiert nach: Walsh: Der Bolschewismus und die Künstler der Avantgarde.
13. Zitiert nach: Björn Stüben: Vermittler zwischen Malerei und Architektur (2011), https://www.deutschlandfunk.de/vermittler-zwischen-malerei-und-architektur-100.html.
14. Zitiert nach: Stüben: Vermittler zwischen Malerei und Architektur.
15. El Lissitzky: Iswestija Asnowa (1926), S. 1-8, hier S. 3.
16. Zitiert nach: Gaßner, Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, S. 73.
17. El Lissitzky: Proun und Wolkenbügel. Schriften, Briefe, Dokumente, Verlag der Kunst, Dresden 1977, S. 25.
18. Alexander M. Rodtschenko: Aufsätze, autobiographische Notizen, Briefe, Erinnerungen, Verlag der Kunst, Dresden 1993, S. 87.
19. Vgl. Wolfgang Thöner, Florian Strob, Andreas Schätzke: Linke Waffe Kunst. Die Kommunistische Studentenfraktion am Bauhaus, Birkhäuser Verlag, Basel 2022, S. 216.
20. Vgl. El Lissitzky: 1929 Rußland. Architektur für eine Weltrevolution, Birkhäuser Verlag, Basel 1930, S. 17.
21. Vgl. Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 266.
22. Zitiert nach: Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 269.
23. Zitiert nach: Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 270-271.
24. Vgl. Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 283.
25. Zitiert nach: Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 60.
26. Zitiert nach: Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 61.
27. Vgl. Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 61-63.
28. Trotzki: Literatur und Revolution, S. 227.
29. Vgl. Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 446.
30. Vgl. Walsh: Der Bolschewismus und die Künstler der Avantgarde.
31. Trotzki: Literatur und Revolution, S. 192.
32. Vgl. Kastner: Die Linke und die Kunst, S. 66.
33. Vgl. Zenovia A. Sochor: Revolution and Culture. The Bogdanov-Lenin Controversy, Cornell University Press, Ithaca 1988, S. 169.
34. Vgl. Kastner: Die Linke und die Kunst, S. 64.
35. Vgl. Kastner: Die Linke und die Kunst, S. 73.
36. Vgl. Kastner: Die Linke und die Kunst, S. 66.
37. Vgl. Tatiana Efrussi: „Einer von uns, aber sehr naiv“: die Ausreise aus der UdSSR und die „Ochitovič-Affäre“, in: Thomas Flierl, Philipp Oswalt: Hannes Meyer und das Bauhaus, Spector Books, Leipzig 2019, S. 395-410, hier: S. 396.
38. Zitiert nach: Hirdina: Form und Grund, S. 136.
39. Zitiert nach: Krzysztof Meyer: Schostakowitsch: Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Schott Music GmbH, Mainz 2008.
40. Trotzki: Literatur und Revolution, S. 217.
41. Vgl. Andreas Schätzke: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussionen im östlichen Deutschland, Vieweg & Sohn, Braunschweig/Wiesbaden 1991, 42.
42. Andreas Schätzke: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussionen im östlichen Deutschland, Vieweg & Sohn, Braunschweig/Wiesbaden 1991, 42.
43. Vgl. Stephan Trüby: Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche, Birkhäuser Verlag, Basel 2020, S. 128-129.
44. Vgl. Gaßner, Gillen: Zwischen Kunstrevolution und Sozialistischem Realismus, S. 22.