Der Reformismus am Ende der Post-Jalta-Ära
Mit dem Aufstreben Chinas und dem langsamen Niedergang der USA zeichnet sich eine neue Epoche ab. Für den Reformismus sind das keine guten Aussichten, weil er aufgrund seiner Rolle der Vermittlung zwischen den Klassen keine Antwort auf die neue Situation geben kann.
Seit dem Fall der Sowjetunion und dem Beginn der bürgerlichen Restauration stand die USA als unangefochtene Ordnungsmacht an der Spitze der Weltpolitik. Doch mittlerweile wird dieses Gefüge immer mehr von China infrage gestellt, das riesige industrielle Kapazitäten aufgebaut hat und zunehmend als ernsthafte Konkurrenz zu den etablierten Imperialismen auftritt.
Zeitgleich stehen seit dem Amtsantritt von Donald Trump die USA nicht mehr als verlässliche Partner an der Seite seiner Verbündeten. Die protektionistische Wirtschaftspolitik unter dem neuen Präsidenten zeigt immer deutlicher die Widersprüche zwischen den einzelnen imperialistischen Staaten auf. Davon ist insbesondere die deutsche Autoindustrie betroffen, aber auch weitere exportorientierte Branchen. Deutschland ist wie keine zweite Volkswirtschaft vom Export abhängig. Deshalb sind zunehmende Handelshemmnisse hier besonders folgenschwer.
Den Reformismus stellt diese Situation vor eine eigene Herausforderung: Seine Rolle der Vermittlung zwischen den Klassen wird auf eine harte Probe gestellt, da er weder für das Kapital noch für die Arbeiter*innenklasse eine wirkliche Antwort auf die neue weltpolitische Lage geben kann. Grund dafür ist, dass die entgegengesetzten Klasseninteressen nun deutlicher hervortreten. Während die Bourgeoisie versucht, sich gegenüber ihrer Konkurrenz zu behaupten und noch billiger innovative Produkte anzubieten, möchte das Proletariat das bisher Erreichte verteidigen. Dazu gehören auch die Arbeitsplätze, die durch Fabrikschließungen und Produktionskürzungen gefährdet sind. Gerade im exportorientierten Deutschland stellen zunehmende Handelshemmnisse ein enormes Konfliktpotential dar.
Da vor allem die metallverarbeitende Industrie betroffen ist, droht eine wichtige Stütze des Reformismus wegzubrechen. Hier fallen riesige Extraprofite an. Diese konnten bisher zur Befriedung eingesetzt werden, indem ein riesiger bürokratischer Apparat zur Institutionalisierung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit aufgebaut wurde. Dieser Apparat und die mit ihm verbundene Arbeiter*innenaristrokatie stellen eine wichtige soziale Basis für den Reformismus dar.
Agenda 2030 und das Ende der Post-Jalta-Ordnung
Die SPD versucht mit staatlich subventionierten Umschulungsmaßnahmen eine Antwort zu geben. Mit dem „Arbeitslosengeld Q“ sollen Beschäftigte aus herkömmlichen Bereichen in zukunftsträchtigen Bereichen Fuß fassen können. Davon ist zum Beispiel die Automobilindustrie betroffen, die im Rahmen der „automobilen Wende“ zunehmend auf Elektromobilität und „Autonomes Fahren“ setzt. Aufgrund dessen setzt sich die Wertschöpfung neu zusammen. Statt Lenkrädern und Verbrennungsmotoren sollen zukünftig leistungsfähige Batterien und künstliche Intelligenz im Auto verbaut werden. Durch Weiterbildungsmaßnahmen möchte man die bisherigen Arbeitskräfte auf die neuen Aufgaben vorbereiten.
Doch chinesische wie US-amerikanische Unternehmen haben sich hier bereits einen Wettbewerbsvorteil gesichert. Im Silicon Valley wird vor allem am autonomen Fahren geforscht, allen voran durch Google, während in China die Elektromobilität weiter vorangeschritten ist. Aber auch chinesische Internetgiganten drängen in den Bereich des autonomen Fahrens vor. Daher ist fraglich, ob sich der Plan der SPD erfüllen kann. Klar ist, dass sich der Umschwung nicht konfliktfrei ablaufen wird, weder außen- noch innenpolitisch. Irgendjemand wird versuchen müssen seinen Wettbewerbsnachteil durch niedrige Produktionskosten auszugleichen.
Und selbst wenn es deutschen Unternehmen gelingt, sich ausreichend auf die Zukunft der Mobilität vorzubereiten sind die zunehmenden Handelsschranken eine weitere Barriere. Zudem ist kaum anzunehmen dass die USA und China ohne weiteres Deutschland als weiteren Player indem Bereich akzeptieren werden. Es ist damit illusorisch anzunehmen, dass ein reines „ALG Q“ genügen wird um sich ausreichend auf den Wandel vorzubereiten.
Eine andere Frage ist die kommender kriegerischer Auseinandersetzungen. Bisher ist die Position der SPD hier widersprüchlich. Während einerseits Waffenexporte mit dem Verweis auf Arbeitsplätze in den meisten Fällen stattgeben wird, steht man einer zunehmenden Aufrüstung und einer aktiveren Bundeswehr kritisch gegenüber. So hatte sich die SPD gegen eine Ausweitung des Bundeswehr-Einsatz in Syrien ausgesprochen. Dies hatte Emmanuel Macron gegenüber der Merkel-Regierung gefordert nachdem Frankreich als Reaktion auf die Anschläge in Paris seine Militärpräsenz in Syrien ausweitete.
Angela Merkel hatte mit der Ablehnung des Syrieneinsatzes seit 2011 viel Kritik geerntet. Auch innerhalb der NATO steht Deutschland aufgrund seine vergleichbar geringen Rüstungsausgaben unter Druck. Doch steigende Rüstungsausgaben stehen im Widerspruch zur neuen sozialstaatlichen „Agenda 2030“. Darin fordert die SPD mehr Geld zur Aufstockung der Renten und die Möglichkeit das arbeitslos gewordene Menschen bis zu drei Jahre lang ALG I beziehen können, statt bisher ein Jahr. Besonders in der CDU hatte es daran Kritik gehagelt.
Gleichzeitig schlägt Wirtschaftsminister Peter Altmaier eine industriepolitische Agenda vor, nach der der Staat auch regulierend in die Wirtschaft eingreifen soll, indem er beispielsweise Unternehmen selbst aufkaufe, bevor dies chinesische oder us-amerikanische Konkurrenten täten. Innerhalb der Großen Koalition bahnt sich also ein Streit an wofür das Geld ausgegeben werden soll, ohne das Ziel der „schwarzen Null“ anzutasten. Das ist nicht bloß Ausdruck wahltaktischer Überlegungen, sondern zeigt das Auseinandergehen der Interessen.
Labour und der Brexit
Währenddessen konnte sich auf der britischen Insel überraschend der pro-europäische Flügel innerhalb der sozialdemokratischen Labour-Partei durchsetzen. Sie vertritt nun offen die Forderung nach einem zweiten Referendum zum EU-Austritt, was der Forderung nach einem Rückzug vom Brexit gleichkommt.
Auch hier versucht der Reformismus die alte Ordnung zu bewahren, um vor allem das damit einhergehende wirtschaftliche Chaos und die Folgen für die Beschäftigten zu umgehen. Die Forderung nach einem „linken Brexit“ bietet genauso wenig eine Alternative. So oder so währen die wirtschaftlichen Folgen gravierend und würden vor allem die Arbeiter*innenklasse treffen. Ein „linker Brexit“ würde die Notwendigkeit eines Übergangsprogramm aufwerfen, also die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien. Der Reformismus der auf einer Vermittlung zwischen den Klassen beruht wäre dazu niemals bereit.
Doch das Ende der Post-Jalta-Ära drängt unerbittlich näher, wodurch die Widersprüche zwischen den einzelnen EU-Staaten offen zu Tage treten, was wiederum zunehmend das materielle Fundament für die pro-europäischen Positionen reformistischer Parteien untergräbt. Eine Antwort kann nur entweder im Sinne des Arbeiter*innenklasse oder im Sinne der Bourgeoisie gegeben werden. Deren entgegengesetzten Interessen machen es unmöglich, für beide Seiten gleichermaßen eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Das ist jedoch das materielle Fundament des Reformismus, als der politische Ausdruck der Gewerkschaftsbürokratie, dessen Aufgabe in der Vermittlung zwischen den Klassen besteht.
Sozialdemokratie und Krise der EU
Aufgrund der zunehmenden Präsenz Chinas gerät auch die EU unter Druck. Vor allem über die Zukunft der Beziehungen mit den USA unter Donald Trump gibt es Uneinigkeit. Das hat auch mit China zu tun, das sich zunehmend für Europa interessiert. So unterhält China beispielsweise ein eigenes Büro für Infrastrukturinvestitionen auf dem Balkan.
Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass sich die EU anhand dieses Konflikts der unterschiedlichen Imperialismen spalten wird. Dabei ist sie erst aufgrund der letzten imperialistischen Weltkriege entstanden, die Europa in ein Trümmerfeld verwandelten, und stellt den Versuch dar die einzelnen Imperialismen miteinander zu versöhnen und in Einklang zu bringen. Doch aufgrund der neuen Konfliktlinien kann dieses Versprechen nicht länger eingehalten werden.
Der Reformismus steht hier vor einem Dilemma. Einerseits möchte er die alte Ordnung verteidigen, aber andererseits verschwindet dafür zunehmend die materielle Grundlage. Auf der anderen Seite ist er aufgrund seiner vermittelnden Rolle zwischen den Klassen dazu gezwungen, dem Kapital Zugeständnisse zu machen. Genauso wie die SPD mit der Agenda 2010 und den Hartz-IV-Reformen dem Kapital günstigere Produktionsbedingungen bescherte, könnte sie sich im Falle sich verschärfender Handelskonflikte auf die Seite der Bosse stellen.
Die Verfallstendenzen der europäischen Sozialdemokratie bestehen weiterhin fort. Doch sie ist aufgrund ihrer Rolle der Vermittlung zwischen den Klassen für das Kapital unverzichtbar, um weiterhin den sozialen Frieden zu garantieren. Aber ebenso kann sie deswegen keine Antworten auf die neue Situation geben und könnte angesichts des Ende der Post-Jalta-Ordnung von den Ereignissen zerrieben werden. Der selbe Grund, der sie bisher vor ihrem kompletten Verfall schützt, könnte damit zur Zerstörung der SPD führen.
Was ist die Antwort?
Da der Reformismus aufgrund seiner Natur für die Massen keine Antworten auf die drängenden Fragen geben kann, liegt es an den revolutionärer Marxist*innen diese Aufgabe zu übernehmen. Es ist dabei richtig, auf den offensichtlich verräterischen Charakter der Sozialdemokratie zu verweisen. Das reicht aber nicht aus, sondern es ist auch notwendig, genauer auf die konkreten Hürden der sozialdemokratischen Führung einzugehen.
An den Rändern haben bereits heute Sektoren der Arbeiter*innenbewegung mit der reformistischen Führung gebrochen. Vor allem in Berlin, wo die Linkspartei mit der SPD in der Regierung ist und gemeinsam Ausgliederung und Privatisierung umsetzen. In den dortigen Krankenhäusern und Universitäten kämpfen die Kolleg*innen gegen die Ausgliederung indem sie „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ fordern. Sie wissen ganz genau dass SPD und Linkspartei als Teil des Berliner Senats auf der anderen Seite der Barrikade stehen.
Doch daraus entsteht nicht automatisch ein revolutionäres Bewusstsein. Die Aufgabe besteht deshalb darin die Schranken des Reformismus zu erklären, sowie sein materielles Fundament, die Rolle als vermittelnde Instanz zwischen den Klassen. Dies bietet für revolutionäre Marxist*innen die Möglichkeit, sich unter den Massen Gehör zu verschaffen. Weil der Reformismus keine Antworten auf die neue Situation geben kann, werden die Ausgebeuteten und Unterdrückten umso mehr nach Antworten suchen. Nur ein revolutionäres Programm kann diese geben.
In der aktuellen Weltlage kann das Bewusstsein der Massen einen Sprung machen, wie wir es derzeit in Frankreich mit der Gelbwestenbewegung beobachten, wo sich die Massen gegen die neoliberale Politik von Emmanuel Macron erheben. In Deutschland könnte eine ähnliche Entwicklung bevorstehen. Eine wirtschaftliche Stagnation wird vorhergesagt, je nachdem wie sich der Brexit und der US-chinesische Handelskonflikt hinziehen wird. Aufgrund seiner exportorientierten Wirtschaft wäre das deutsche Kapital von steigenden Handelshemmnissen direkt betroffen.
Daher ist es auch in Mitteleuropa notwendig, genauer die Hürden des Reformismus gegenüber den Arbeiter*innen zu erklären. Nur wenn es uns gelingt ein reformistisches Bewusstsein zu adressieren können wir uns in den Massen aufbauen. Kurz gesagt: Es herrscht Chaos, deshalb sind die Perspektiven gut. Die Aufgabe besteht eben darin auf dieses Chaos Antworten zu geben.